Sonntag, 5. September 2010

Vollverschleierung in Ägypten: »Der Niqab wird nicht immer aus religiösen Motiven angelegt«

Von Björn Zimprich
In Ägypten wird über Für und Wider öffentlicher Niqab-Verbote diskutiert. Andreas Jacobs, der Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer Stiftung (KAS) in Ägypten erklärt, wie die Bevölkerung zur Vollverschleierung steht, warum die Muslimbrüder in der Zwickmühle sind – und was  die ägyptische von der europäischen Debatte unterscheidet

Al Sharq: Unabhängig von der Diskussion über Vollverschleierung in Europa steht dieses Thema auch in der arabischen Welt auf der Agenda. Seit etwa einem Jahr wird in der ägyptischen Öffentlichkeit intensiv über den Niqab diskutiert. Was war damals der Auslöser?

Andreas Jacobs: Der Auslöser war ein Zusammentreffen des mittlerweile verstorbenen Großscheichs der Al-Azhar, Muhammad Sayyid Tantawi, mit einer etwa zwölfjährigen Schülerin in einer der Al-Azhar angegliederten Schule im Oktober 2009. Tantawi hatte die vollverschleierte Schülerin damals
unter Verweis auf seine religiöse Autorität zum Ablegen des Niqab aufgefordert. Angeblich soll er dabei auch gesagt haben, dass das Mädchen den Niqab wohl aufgrund ihres unvorteilhaften Äußeren trage. Vor allem letzteres hatte zum Eklat geführt.

Im Folgenden wurde der Vollverschleierung in Einrichtungen der bedeutendsten Hochschule des sunnitischen Islam verboten. Es folgte eine Klagewelle und Gerichtliches Hin und Her? Wer hat dabei die Oberhand gewonnen?

Das Oberste Verwaltungsgericht hat ein grundsätzliches Niqab-Verbot unter Verweis auf die Religionsfreiheit zwar für unzulässig erklärt. Die zahlreichen Niqab-Verbote in Schulen, Universitäten, Clubs und Restaurants wurden allerdings nicht angetastet.

Welche Position bezieht die ägyptische Regierung im Niqab-Streit?

Die Regierung hält sich in diesem Streit weitgehend zurück. Trotzdem ist die politische Elite des Landes eindeutig gegen den Niqab. In Ägypten definiert die staatlich kontrollierte Al-Azhar was als islamisch zu gelten hat und was nicht. Niqab-Trägerinnen stellen für alle sichtbar die religiöse Deutungshoheit der Al-Azhar infrage. Indirekt provozieren sie damit auch den Staat. Darüber hinaus steht der Niqab dem Lebensgefühl und Gesellschaftsbild der politischen Klasse des Landes entgegen. Hier trägt man in der Regel noch nicht einmal Kopftuch.

Denken Sie, dass es sich bei diesem Streit um einen geplanten Eklat des Regimes handelte oder entsprang die Diskussion mehr Strömungen innerhalb der ägyptischen Gesellschaft?

Das würde ich nicht ausschließen. Nicht nur in der Oberschicht halten viele Ägypter den Niqab für groben Unfug und für einen Import aus den unbeliebten Golfstaaten. Selbst von streng Religiösen wird er oft abgelehnt. Die Regierung weiß sich in dieser Frage also in Übereinstimmung mit einem Großteil der Bevölkerung. Durch ihre Anti-Niqab-Position kann sie ohne große Kosten Volksnähe demonstrieren und gleichzeitig die politische Opposition zu Positionierung zwingen. Mit anderen Worten: Der Niqab-Streit nützt der ägyptischen Regierung mehr, als er ihr schadet.

Wie positionieren sich die oppositionellen Muslimbrüder im Streit um den Niqab? Gibt es dort eine einheitliche Linie?

Die Muslimbrüder sind in einer Zwickmühle: Aus Gründen der Glaubwürdigkeit unterstützen sie die Vollverschleierung. Andererseits wissen sie aber auch, dass der Niqab viele Gegner hat. Ihr Argument im Niqab-Streit ist daher die Religionsfreiheit, nicht die Religion. Der Niqab, so die verbreitete Position der Muslimbrüder, sei islamisch zwar nicht vorgeschrieben, müsse als individuelle religiöse Entscheidung aber von Staat und Behörden respektiert werden. In der politischen Praxis unterstützen die Muslimbrüder daher das Recht auf den Niqab, versuchen sich aus der Grundsatzdebatte über sein Für und Wider aber nach Möglichkeit herauszuhalten. Einheitlich ist diese Linie aber nicht.

» Der Niqab ist in Ägypten ein neues Phänomen.«

Woher kommt diese Entwicklung? Wieso nimmt die Verbreitung des Niqab in den letzten Jahren zu?

Der Niqab ist in Ägypten ein neues Phänomen. Bis in die neunziger Jahre war er fast unbekannt oder wurde nur bei Touristinnen aus den arabischen Golfstaaten gesichtet. Populär wurde er dann vor allem durch die Frauen zurückkehrender Arbeitsmigranten. Bis vor kurzem nahm die Zahl der Niqab-Trägerinnen dann sehr schnell zu. Die Gründe sind vielfältig und haben nicht alle mit einer freien Glaubensentscheidung zu tun. Auch vieles andere spielt eine Rolle: religiöse Verunsicherung, familiärer Zwang, politischer Protest, modische Bequemlichkeit, Schutz vor Belästigung, die tuschelnden Nachbarn und manchmal sogar etwas Eitelkeit. In den letzten Monaten höre ich aber auch Berichte, nach denen sich Frauen bewusst gegen den Niqab und sogar gegen das Kopftuch entscheiden. Wahrscheinlich ist es aber noch zu früh von einer Trendwende zu sprechen.

Viele Ägypter wehren sich auch deswegen gegen den Niqab, weil sie ihn als fremden kulturellen Einfluss aus dem Golf empfinden. 

Die Araber vom Golf sind in Ägypten traditionell nicht sehr beliebt. Sie gelten als reiche Emporkömmlinge ohne Kultur und Manieren. Und sie stehen nicht im Ruf herausragender Frömmigkeit. Seine Gegner stellen den Niqab daher als unägyptisches Utensil geheuchelter Frömmigkeit dar. Das ist ein ziemlich schwerwiegendes Argument.

Gegner des Niqab wenden öfter ein, dass sich auch Prostituierte und Drogendealerinnen unter der Vollverschleierung verbergen, um nicht aufzufallen. Schadet dies dem öffentlichen Ansehen des Niqab oder lassen sich ihre Anhänger von solchen Fällen nicht irritieren?

Der »Missbrauch« des Niqab ist neben seiner ausländischen Herkunft und seiner ungesicherten religiösen Bedeutung das entscheidende Argument der Niqab-Gegner. In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Berichte über Prostituierte, Drogendealer, Diebe und Spanner, die sich unter dem Niqab verstecken. Das ist der religiösen Aussage des Niqab natürlich nicht förderlich. Ich persönlich kenne Frauen, die sich gegen Niqab entschieden haben, weil sie eine zunehmende Entkoppelung zwischen Niqab und Religiösität beobachten.


Gibt es genauere Zahlen zu dem Phänomen der Vollverschleierung? Wie viel Prozent der ägyptischen Frauen kleiden sich überhaupt so?

Es gibt keine genauen Zahlen. Ich habe viele Bekannte und Kollegen nach ihrer subjektiven Einschätzung gefragt. Das Ergebnis lag für das Kairoer Straßenbild im Durchschnitt bei fünf bis zehn Prozent. In manchen Gegenden sind es weniger, anderswo mehr. In einigen Oasengebieten haben sich mittlerweile fast alle Frauen voll verschleiert. In jedem Fall handelt es sich nicht um eine Randerscheinung. Der Niqab ist in Ägypten ein Massenphänomen.

»Kaum ein Arbeitgeber stellt Vollverschleierte ein«

Welche gesellschaftlichen Konsequenzen ergeben sich für Frauen, die sich für den Niqab entscheiden? 

Der Niqab hat auch in Ägypten erhebliche Auswirkungen auf die Job- und Partnersuche. Kaum ein Arbeitgeber stellt Vollverschleierte ein. In vielen Clubs und sogar manchen Restaurant haben sie keinen Zugang. Viele Niqab-Trägerinnen beklagen sich über Diskriminierungen. Manche nehmen diese allerdings bewusst in Kauf oder kokettieren geradezu mit ihrem »Opfer« für den Glauben. 

Manche Experten sehen in der immer weiter zunehmenden Verschleierung eine Reaktion der Frauen auf die zunehmenden Fälle sexueller Belästigung in Ägypten. Liefert der Niqab einen wirksamen Schutz gegen Übergriffe ägyptischer Männer oder lassen diese sich auch von Vollverschleierung nicht abschrecken?

Fast alle ägyptischen Frauen haben Erfahrung mit sexueller Belästigung, nicht nur verbal. Das Thema war lange Zeit ein Tabu. Betroffene Frauen bekommen kaum Hilfe, Polizei und Behörden schauen weg. Sexueller Frust, Arbeitslosigkeit und Klassenschranken sorgen dafür, dass Übergriffe gegen Frauen immer mehr zunehmen. Verhüllung war bislang eine der wenigen Möglichkeiten, sich etwas zu schützen. Der Niqab ist daher auch eine Antwort auf diese »Belästigungeskalation«. Allerdings hilft er auch eher immer weniger.

Wie argumentieren überhaupt die Befürworter des Niqabs?

Mit den üblichen Argumenten: individuelle Entscheidung des Einzelnen und Religionsfreiheit. Manche Frauen räumen allerdings den Schutz vor Belästigung als Beweggrund für das Anlegen des Niqab ein. 

In öffentlichen Diskursen in Europa wird häufig davon ausgegangen das Frauen die Vollverschleierung von ihren Ehemännern aufgezwungen wird? Wie schätzen Sie diesbezüglich die Lage in Ägypten ein? Handelt die Mehrheit der Frauen aus Überzeugung oder aus Zwang?

Das lässt sich kaum seriös feststellen. Angesichts von Individualitätsvorstellungen und Lebensbedingungen, die weitgehend durch den familiären, gesellschaftlichen, politischen und religiösen Kontext vorgegeben werden, sind die Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Zwang nicht nur in dieser Frage fließend. Fest steht nur, dass der Niqab nicht immer freiwillig und nicht immer aus religiösen Motiven angelegt wird.

»Argumente für den Niqab werden meist von Männern vorgebracht«

Das Länderbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ägypten hat seit einem Jahr zahlreiche Diskussionsveranstaltungen zu dem Thema durchgeführt. Zeichnet sich auf diesen Veranstaltung eine Entwicklung ab oder treten Befürworter und Gegner auf der Stelle?

Als politische Stiftung haben wir auch den Auftrag, gemeinsam mit ägyptischen Partnern gesellschaftspolitische Debatten anzustoßen und zu fördern. Allerdings ist es sehr schwierig, vollverschleierte Frauen in solche Debatten einzubeziehen. Es kommen zwar immer wieder auch einige Niqab-Trägerinnen zu unseren Veranstaltungen, sie bleiben aber fast immer stumm. Umso lauter äußern sich die männlichen Niqab-Befürworter. In der Diskussion werden die Argumente gegen den Niqab daher meist von Frauen vorgebracht, diejenigen für den Niqab oft von Männern. Ich finde das sehr vielsagend. Auf den Diskussionen selbst zeichnet sich in der Regel keine Entwicklung ab. Allerdings habe ich den Eindruck, dass viele Frauen durch die Diskussionen der vergangenen Monate für das Thema sensibilisiert wurden und den Niqab zunehmend kritisch sehen.

In Europa besteht bekanntermaßen auch Unsicherheit im Umgang mit extremen Formen der Verschleierung. Belgien und Frankreich haben unlängst Verbote für Niqab und Burka verordnet. Welche Erkenntnisse kann man ihrer Meinung nach aus der ägyptischen Diskussion um die Vollverschleierung für die Debatte in Europa ziehen?

Das Ausmaß der Betroffenheit und die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind sehr unterschiedlich. Allerdings ist die ägyptische Niqab-Debatte anders als in Europa nicht von einer Islam- und Einwanderungsdebatte überlagert. Für die Ägypter ist klar, dass nicht jeder Niqab aus religiösen Gründen getragen wird und dass nicht jeder Gegner des Niqabs ein Gegner des Islams ist. In der europäischen Niqab-Diskussion sollte man daher weniger über Islam und Religionsfreiheit debattieren als vielmehr darüber, was rechtsstaatlich möglich, gesellschaftlich gewollt und politisch sinnvoll ist.


Andreas Jacobs
hat Politik- und Islamwissenschaft in Köln, Kairo und London studiert. Von 1998 bis 2001 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Köln, sowie bis 2006 Lehrbeauftragter im Fach Islamwissenschaft an der FU Berlin. Anschließend arbeitete er bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zu den Themen Nahost, Islam und Integration. Seit 2007 leitet der das KAS-Büro in Kairo.

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