Montag, 27. August 2007

Osnabrücker Symphonieorchester im Iran

Als erstes westliches Orchester seit der Islamischen Revolution sind die Osnabrücker Symphoniker heute in Teheran eingetroffen. Auf zwei Konzerten am Mittwoch und Donnerstag werden die Musiker Stücke von Beethoven, Brahms sowie dem zeitgenössischen iranischen Komponisten Nader Mashayekhi spielen. Unterstützt werden die Deutschen dabei von sechs Musikern des Teheraner Symphonieorchesters. Im vergangenen Jahr war das iranische Ensemble zu Konzerten zu Gast in Osnabrück.

Der Direktor des "Morgenland Festival Osnabrück" und Organisator der Reise Michael Dreyer erklärte, man wolle mit dem Gastauftritt im Iran zu einer Vertiefung des kulturellen Austauschs zwischen den beiden Ländern beitragen. "Mein Wunsch ist es, den Völkern unserer beider Staaten zu zeigen, dass man keine Angst vor einander haben muss und dass es ein großes Vergnügen ist, einander kennenzulernen." Die Reise des Orchesters habe nichts mit Politik zu tun, daher habe man auch die Teilnahme von Bundestagsabgeordneten abgelehnt.

In der Zeit des Schahs waren die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan mehrfach zu Tourneen im Iran. Seit der islamischen Revolution waren gelegentlich Kammerorchester aus westlichen Staaten zu Gast im Iran, nachdem westliche Musik in den Anfangsjahren der Islamischen Republik verpönt war.

Bei den öffentlichen Auftritten werden die weiblichen Orchestermitglieder ein Kopftuch tragen müssen. Drauf hätten sich die Musikerinnen jedoch bei den Proben in Deutschland vorbereitet, berichtet Dirigent Hermann Bäumer. "Die Frauen sind es nicht gewohnt mit Kopftuch zu spielen. Ich bin sehr froh, dass sie es versucht haben und es funktionierte. Das Wichtigste ist die Musik."

Freitag, 24. August 2007

Libanon: Countdown zur Präsidentschaftswahl

Am 25.September soll ein neuer libanesischer Präsident gewählt werden - einen Monat vor dem Termin ist noch immer unklar ob die Wahl überhaupt stattfinden wird, geschweige denn welcher Kandidat das Rennen macht. Der Präsident muss laut libanesischer Verfassung ein maronitischer Christ sein und von den 128 Parlamentsabgeordneten mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden. Weder Regierung noch Opposition verfügen in der Nationalversammlung über die erforderliche Anzahl an Mandaten, so dass ein Kompromiss gefunden werden muss.

Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner wird in diesen Tagen im Libanon erwartet. Er soll in Gesprächen mit Vertretern von Regierung und Opposition einen Weg zur Lösung des Stillstands finden. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei dem Chef der oppositionellen Amal-Bwegung Nabih Berri zu, der als Parlamentssprecher über die Einberufung einer Parlamentssitzung entscheidet.

Ginge es nach dem Willen der Libanesen dürfte General Michel Aoun das Rennen um die Präsidentschaft machen. Seit seinem 200g geschlossenen Bündnis mit der Hizbollah darf er sich der Unterstützung der großen Mehrheit unter den Schiiten sicher sein. Auch unter Libanons Christen unterstützt eine Mehrheit Aoun und seine "Freie Patriotische Bewegung"(FPB). Als Indiz hierfür darf der Ausgang der Nachwahlen im überwigend von Christen bewohnten Bezirk Metn gelten. Hier gelang es dem eher unbekannten FPM-Kandidaten Camille Khoury seinen Gegenkandidaten Amin Gemayel, immerhin libanesischer Ex-Präsident, knapp zu besiegen. Dies kam umso überraschender da bei den Wahlen über den vakanten Parlamentssitz des ermordeten Pierre Gemayel, also Amins Sohn, entschieden wurde.

Ungeachtet der breiten Unterstützung die Aoun genießt, erscheint seine Wahl zum gegenwärtigen Zeitpunkt fraglich. Der 72-Jährige ist eine Führungsfigur der libanesischen Opposition, der nicht nur Syrien sondern auch der USA kritisch gegenübersteht. Eine Wahl Aouns dürfte von der Hizbollah als Erfolg verbucht werden, dies liegt kaum Interesse der Vereinigten Staaten.

Die "Kräfte des 14.März", jenes Bündnis, das den Ministerpräsidenten stellt und über eine einfache Mehrheit im Parlament verfügt, strebt eine Verfassungsänderung vor dem 25.September an, der ab dem 2.Wahlgang eine einfache Mehrheit erlaubt. Unterstützung erhielt dieser Vorschlag vom Patriarchen der Maroniten im Libanon, Nasrallah Boutros Sfeir, der vor einer weiteren Lähmung des Landes warnte. Die USA lehnen eine Verfassungsänderung ab.

Als Favorit im Regierubgslager gilt der gegenwärtige Kommandant der libanesischen Streitkräfte Michel Sulaiman. Als Politiker ist Sulaiman bisher nicht in Erscheinung getreten, doch hat er in den letzten Wochen im Kampf gegen die islamistische Fatah al-Islam an Ansehen und Statur gewonnen.

Mittwoch, 22. August 2007

Jordanien: König Abdullah löst Parlament auf

Jordaniens König Abdullah II hat das Parlament aufgelöst und für den 20.November 2007 Neuwahlen angesetzt. Formal endete die Legislaturperiode bereits im April diesen Jahres, doch hatten konservative Politiker den Monarchen gedrängt den Urnengang zu verschieben. Hintergrund hierfür ist die Angst vor einem Erstarken der Islamisten in Jordanien. Bei Wahlen in den Palästinensergebieten oder in Ägypten hatten islamistische Bewegungen wie Hamas oder die Muslimbrüder im vergangenen Jahr große Zugewinne verzeichnen können.

Bei den letzten Parlamentswahlen im Juni 2003 konnte die Islamische Aktionsfront (IAF) 15% der Stimmen für sich verbuchen und wurde damit stärkste Fraktion in der Nationalversammlung. Die übrigen Mandate wurden von unabhängigen Kandidaten gewonnen. Die Islamische Aktionsfront gilt als politischer Arm der Muslimbrüder in Jordanien die hier anders als etwa in Ägypten nicht verboten wurden, da sie den Führungsanspruch der haschemitischen Königsfamilie nicht offen in Frage stellen.

Gleichwohl ist bislang fraglich, ob die IAF bei den Wahlen im November antreten wird. Die ertsmals durchgeführten Kommunalwahlen in Jordanien wurden von der Partei weitgehend boykottiert. Sie beschuldigte die Regierung Stimmzettel, etwa die der Armeeangehörigen, manipuliert zu haben.

Von staatlicher Seite werden die Parlamentswahlen als Teil eines eigenständigen Reformprozesses präsentiert, der etwa politische Entscheidungen dezentralisieren und Frauenrechte und Pressefreiheit stärken soll.

Insgesamt werden am 20.November 110 Abgeordnete in direkter Wahl neu bestimmt. Davon sind sechs Mandate weiblichen Abgeordneten vorbehalten, 9 bzw. 3 Sitze gehen and die christlichen bzw. tscherkessischen Minderheiten im Land.

Dienstag, 21. August 2007

Vor den Parlamentswahlen in Marokko

Zweieinhalb Wochen vor den Parlamentswahlen in Marokko hat König Mohammed seine Landsleute zur regen Beteiligung an dem Urnengang aufgerufen und gleichzeitig die Politiker seines Landes aufgefordert, für faire und freie Wahlen zu sorgen. Die 34 kandidierenden Parteien sollten es unterlassen, "die Glaubwürdigkeit der Politik zu unterminieren", so der Monarch, der heute seinen 44.Geburtstag feiert.

Bei den Wahlen am 7.September sind etwa 15 Millionen Marokkaner aufgerufen die 325 Abgeordneten der Nationalversammlung für die nächsten fünf Jahre zu wählen. Im Mittelpunkt des Interesses wird auch in Marokko das Kräftemessen zwischen dem konservativen, säkular-orientierten Establishment und islamistischen Gruppierungen stehen. Zwar wird mit "al-Adl wa al-Isan" die wichtigste islamistische Bewegung des Landes nicht an den Wahlen teilnehmen, dennoch wird das Ergebnis der "Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung", die eine gemäßigte islamstische Agenda verfolgt, mit Spannung erwartet. Bei den letzten Wahlen 2002 wurde die Partei zweitstärkste Kraft, ein Sieg bei den diesjährigen Wahlem wäre keine große Überraschung.

Trotz ehrgeiziger Reformen die König Mohammed seit seiner Inthronisierung 1999 eingeleitet hat, leidet das Land unter einer Massenarbeitslosigkeit, gerade unter jungen Leuten. In den daraus resultierenden sozialen Spannungen sehen viele eine Ursache für den wachsenden Zulauf der Islamisten.

In der Vergangenheit waren die Wahlen in dem Maghrebstaat häufig durch Stimmenkäufe und Manipulationen entschieden worden. Viele Marokkaner zeigten sich zunehmend desillusioniert von den politischen Prozessen in ihrem Land. Bei den Wahlen 2002 lag die Wahlbeteiligung bei nur 52 Prozent. Diesmal werden erstmals Wahlbeobachter aus dem In- und Ausland, angeführt vom Iren Frances Fitzgerald den Wahlgang überwachen um Unregelmäßigkeiten zu verhindern.

König Mohammed rief seine Untertanen auf, verantworungsvoll von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. "Mit ihrer Wahl bestimmen Sie nicht nur ihre Vertreter für die nächsten fünf Jahre, sondern Sie bestimmen auch über die Zukunft ihrer Kinder und Ihres Landes." Daher sollten die Wähler ihre Zukunft nicht dadurch aufs Spiel setzen, "dass Sie gegen Ihre Geweissen entscheiden oder Ihre Stimme jenen geben die Ihres Vertrauens unwürdig sind."

Montag, 20. August 2007

Musa as-Sadr und die libanesische Schia - Teil 5

Teil 1


VII. Musa as-Sadrs
Erben und Nachfolger

Eine einschneidende Zäsur stellte für die schiitische Gemeinschaft das bis heute ungeklärte Verschwinden ihrer Führungs- und Integrationsfigur Musa as-Sadr im August 1978 dar. Zudem beschleunigte die israelische „Operation Litani“ eine neue Phase der Mobilisierung und die Islamische Revolution im Iran warf Fragen zu Organisation, Charakter und Loyalität der libanesischen Schia und der von Sadr gegründeten Organisationen auf.

Für Amal erwiesen sich die Folgen von Sadrs Verschwinden als durchaus ambivalent. Erlebte die Organisation bis 1978 einen langsamen Niedergang, so verzeichnete sie nun geradezu einen Mitgliederboom. Dabei profitierte Amal nicht unwesentlich von den religiösen Implikationen von Sadrs Abwesenheit. Die Reminiszenz an die Entrückung des 12. Imams war offensichtlich und wurde von der Amal-Führung auch bewusst gefördert. Einmal mehr zeigte sich das Mobilisierungspotenzial schiitischer Geschichte und ihrer Symbole, zu deren Teil nun auch Sadr wurde.

Langfristig allerdings musste sich die schiitische Gemeinschaft sowohl ideologisch wie auch auf institutioneller Ebene mit der weiteren politischen Entwicklung in Abwesenheit Sadrs auseinandersetzen.

Schon die Nachfolgefrage in Amal und OSR offenbarte die divergierenden Strömungen und das ambivalente Erbe Sadrs. Seine integrative Funktion hielt die beiden organisatorischen Stützen der schiitischen Gemeinschaft noch einigermaßen zusammen, nun jedoch zeichnete sich eine Arbeits- und Loyalitätsteilung ab, die auch von persönlichen Animositäten geprägt war. Grundlegend lässt sich sagen, dass die Sadr nahe stehenden Ulama sich vorrangig auf den OSR konzentrierten und religiöse Autorität beanspruchten, während Amal sich zusehends zu einer säkular verfassten und geführten Partei wandelte, die wiederum die politische Autorität der schiitischen Gemeinschaft einforderte. Symbolischen Ausdruck fand das auch 1980, als mit Amal-Chef Husain Husaini erstmals ein Nicht-Zaim das höchste den Schiiten vorbehaltene Amt des Parlamentspräsidenten übernahm.

Die Islamische Revolution im Iran stellte Amal vor allem ideologisch vor einige Probleme. Die von Khumaini eingeforderte Autorität verbinden mit dem Konzept des Revolutionsexports lehnte sie ab mit dem Verweis auf die spezifische Situation des Libanon. Obwohl Amal als Partei und Miliz oft genug im Konflikt mit der (offiziellen) libanesischen Obrigkeit stand, bekräftigte allen voran ihr neuer Vorsitzender Nabih Birri die grundsätzliche Loyalität zum libanesischen Staatswesen.

Amal zeigte sich nach außen also zumindest systemkonform und bekannte sich in seiner Charta zu säkularem Staats- und religiösem Personenstandsrecht, wenn auch die Forderung nach Abschaffung des Konfessionalismus als eher rhetorisches Druckmittel durchaus beibehalten wurde. Gänzlich entgegen gesetzt waren die Forderungen der Islamischen Bewegung, die sich ab 1982 zum Teil aus disparaten Amal-Elementen hervorzugehen begann und das libanesische Staatswesen als solches ablehnte.

Trotz dieser Spaltung und Radikalisierung, die durch die israelische Invasion 1982 deutlich verschärft wurde, gelang es Amal einen breiten Rückhalt innerhalb der schiitischen Gemeinschaft zu konsolidieren. Vor allem im ständig umkämpften Süden übernahm Amal dort die Aufgaben öffentlicher Sicherheit, wo ihr der Staat durch seine Abwesenheit das Feld überließ. Zudem hatte die Organisation Zugang zu staatlichen Ressourcen und konnte ihre Klientel dementsprechend versorgen. Amal übernahm also wesentliche Aufgaben der früheren Zuama und legitimierte somit seine Legitimät als politischer Vertreter und Anführer der libanesischen Schiiten.

Die religiöse Autorität des OSR stand auf wackeligerem Fundament. Zwar tendierten die schiitischen Remigranten eher dazu, den OSR als Amal zu unterstützen, aber insgesamt konnte das Gremium kaum Breitenwirkung erzielen. Zum Einen leistete Amal in Zeiten des Krieges lebensnotwendigere Dienste, zum Anderen war das Verhältnis der Ulama untereinander eher von Rivalität als von Geschlossenheit geprägt. Während jüngere Kleriker sich zunehmend in der Islamischen Bewegung engagierten, konkurrierte zudem auch der von offiziellen Institutionen unabhängige Muhammad Hussain Fadlallah um die religiöse Loyalität der Schiiten und erlangte vor allem in den Beiruter Vororten bei seinen Predigten in der Imam-ar-Rida-Moschee große Popularität.

Letztendlich diversifizierte sich also der schiitische Klerus, wobei Autorität und Legitimität vorrangig an die Ausstrahlung und Überzeugung ihrer exponierten Akteure gebunden blieben. Jedoch konnte kein Alim das Maß an populärer Unterstützung und Zustimmung auf sich vereinen, dass Sadr in den Augen seiner Anhänger das Recht auf politische und religiöse Autorität verliehen hatte.

VIII. Fazit

Die libanesischen Schiiten erlebten in den 50er bis 70er Jahren eine konfessionsspezifische Transformation ihrer Gesellschaftsstruktur.

Hatten die semi-feudalen Zuama-Familien noch erfolgreich den Übergang von der osmanischen zur Mandantsherrschaft und zur Unabhängigkeit des Libanon für die Etablierung ihrer eigenen Führungsrolle nutzen können, so waren sie in der Folge kaum in der Lage, auf die massiven Veränderungen der 50er und 60er Jahre zu reagieren und als effektive Vermittlungsinstanz zu agieren. In breiten Schichten der Gemeinschaft entstand nicht nur das Bewusstsein einer konfessionellen und regionalen Diskriminierung der libanesischen Schia. Vielmehr wurde auch der klientelistischen Machtstruktur der Zuama die Perpetuierung dieser Diskriminierung angelastet. Verschiedene linke Gruppierungen nahmen die Belange der Schia auf und lösten zunächst für eine vorher ungekannte Mobilisierung schiitischer Bevölkerungsschichten aus, ohne sie jedoch dauerhaft integrieren zu können, und ohne auf die spezifische Identitätsfindung der Schiiten einzugehen.

Eben jene Verknüpfung materieller Forderungen und psychologischer Bedürfnisse bildete die Grundlage für den Erfolg von Musa as-Sadr. Durch seinen breiteren Erfahrungshorizont hatte er ein Bewusstsein für die starke Symbolsprache des schiitischen Islams, der in transitorischen Phasen sowohl integrative Strukturen, als auch eine identitätsstiftende Ideologie hervor bringen könne.

Auf die libanesischen Verhältnisse angepasst hieß das auch, dass sich die Mobiliesierung konfessioneller Interessen am zugkräftigsten erwies. Ein wesentlicher Teil dieses konfessionellen Interesses ist das konfessionelle Bewusstsein, welches Sadr entscheidend uminterpretierte und den politischen Kampf der Schiiten in einen religiösen Bezug setzte. Dabei forderte Sadr weder ein „islamisches System“ noch die Hegemonie der Schiiten über die anderen Konfessionen. Vielmehr formulierte er die religiöse Pflicht, die soziale Deprivation der Schiiten zu beenden und ihre legitime Partizipation im Rahmen der libanesischen Gesellschaft zu erreichen. Sadrs religiös geprägter Diskurs strebte also keine Rückkehr in eine glorreiche Vergangenheit an, sondern fungierte vielmehr als Inspiration für die Errichtung einer gerechteren Zukunft.

Von wichtiger Bedeutung ist dabei auch seine Herkunft und Funktion als Kleriker. Sadr selbst definierte die gesellschaftliche Verantwortung der Ulama für die Verwirklichung der oben genannten Ziele. War der schiitische Klerus zuvor lange als Teil der alten Machstruktur angesehen worden und damit kaum ein Ansprechpartner für weite Teile der mobilisierten Schiiten, so stellte Sadr in den Augen seiner Anhänger gewissermaßen den Prototypen des gesellschaftlich engagierten Alim dar, den er selber propagierte. Seine Autorität gründete sich dabei nicht auf die traditionellen Kriterien schiitischer Gelehrsamkeit. Sadr war kein Theologe in dem Sinn, dass sein literarischer Auswurf ihm die Anerkennung durch Kollegen und Gemeinde einbrachte. Da er von außerhalb kam, war es ihm auch viel eher möglich außerhalb bestehender Machtstrukturen Verbündete zu gewinnen, wobei er seinen Diskurs auf eine spezifische Hörerschaft anpassen konnte. Derart erlangte er im interreligiösen Dialog die Anerkennung als verlässlicher, moderater Partner und legitimer Vertreter der schiitischen Konfessionsgruppe, während sein religiöser Diskurs für sein schiitischem Publikum die Bedürfnisse nach Integration und Identität erfüllte und ihn somit sowohl als religiösen als auch politischen Führer legitimierte.

Sadrs doppelte Autorität war jedoch wesentlich an seine eigene Person gebunden. Seine (politischen) Nachfolger bei Amal profitierten dennoch davon, da sie Sadr und die von ihm gegründete Bewegung sakralisierten und sich weithin mit der politischen Gefolgschaft der Schiiten begnügten, während sich religiöse Autorität auf verschiedene Gremiem und Personen verteilte.

Obwohl also das Phänomen Musa as-Sadr in gewisser Weise einmalig war, hatte es doch Vorbildcharakter und zeigte wie zugkräftig die Verbindung eines religiösen, identitätsstiftenen Diskurses mit den politischen und sozialen Integrations- und Partizipationsinteressen transitorischer und mobilisierter Gesellschaftsschichten sein können Vor allem zeigte es auch, wie eine neue Generation von Ulama, dessen exponiertester Vertreter Musa as-Sadr war, als auch die schiitische Gemeinschaft selber die Grundlagen klerikaler Autorität und Legitimität umzuformen vermochten.


Sonntag, 19. August 2007

Musa as-Sadr und die libanesische Schia - Teil 4

Teil 1


VI. Musa as-Sadr und sein Wirken im Libanon

Das fast 20-jährige Wirken Musa as-Sadrs im Libanon sollte die spezifische Mobilisierung und Politisierung der Schiiten entscheidendend aufgreifen und prägen. Sadr forcierte zum Einen die Ausweitung der institutionellen Vertretung der Schiiten, zum Anderern formulierte er einen massenwirksamen, religiös inspirierten Diskurs, der ihn im Wechselspiel mit seinen Anhängern zur integrativen Führungsfigur aufsteigen ließ.

Dabei lässt sich Sadrs Engagement hinsichtlich seiner gewählten Strategie und Wirkung in zwei Abschnitte teilen. Wenn der hier postulierte Übergang auch fließend und keineswegs einheitlich war, so stellt die allgemeine Aufheizung des politischen (und militärischen) Klimas im Vorfeld des Bürgerkrieges Ende der 60er Jahre hier doch eine wesentliche Zäsur nicht nur der libanesischen, sondern insbesondere auch der schiitischen Entwicklung dar.

Sadr knüpfte zu Beginn an die Aktivitäten seines Vorgängers Sharaf ad-Din an und versuchte im Rahmen dieser Institution sich zunächst in Sur als Ansprechpartner zu etablieren. Die verschiedenen Schichten der libanesischen Schia sowie die religiösen Vertreter der anderen Konfessionen als die wesentlichen Publika rückten dabei für ihn ins Blickfeld.

Vor allem in der ersten Dekade seines Wirkens maß Sadr dem interkonfessionellen Dialog große Bedeutung zu. Sowohl sein bloßes Erscheinen in Kirchen und (sunnitischen) Moscheen, als auch seine Redestrategie brachten das Anliegen zum Ausdruck, das durch den mentalen Konfessionalismus belastete Bild der Schia zu verbessern. Argumentativ nutzte Sadr hierbei die Denkfiguren des islamischen Modernismus, der eine grundsätzliche Vereinbarkeit islamischer Wertordnung in und mit der Moderne postulierte. Das System des politischen Konfessionalismus stellte er per se nicht in Frage, betonte jedoch Notwendigkeit und Nutzen der Einbindung der schiitischen Gemeinschaft – und bot sich, wenn er es auch nicht offen formulierte – dafür als Partner an.

Eben solch einen von traditionellen libanesischen Anhängigkeiten weitgehend unabhängigen und engagierten Partner suchten zwei Gruppen. Auf nationaler Ebene sahen die reformorientierten Kräfte um Präsident Fuad Shihab in Sadr einen möglichen Verbündeten und Gegengewicht zu den Zuama. Auf gemeinschaftlicher Ebene konnte Sadr wiederum zahlreiche Remigranten und soziale Aufsteiger für sich gewinnen. Im Gegensatz zu den teils offen kapitalfeindlichen Positionen der linken Gruppierungen wirkte Sadr auf sie moderat, da er ihnen ihr Privateigentum nicht neidete und versuchte sie konstruktiv einzubinden.

Diese doppelte politische wie finanzielle Unterstützung ermöglichte es Sadr seinen Aktionsradius auszuweiten und sich als gesellschaftlicher und politischer Akteur zu profilieren.

So griff er ab Mitte der 60er Jahre das Ziel einer institutionellen Vertretung der schiitischen Gemeinschaft auf und machte sich zu dessen führendem Advokaten.

Der Beschluss zur Gründung des Obersten Schiitischen Rates (OSR) 1966 krönte diese Bemühungen. Sadrs Wahl an die Spitze des Gremiums verschaffte ihm nicht nur institutionell ein Vehikel politischer Einflussnahme auf nationaler Ebene, sondern bestätigte den gerade erst sieben Jahre im Lande ansässigen Alim als legitimen Vertreter der schiitischen Gemeinschaft.

Wenn Sadr auch die Unterstützung und den Respekt einflussreicher Gruppen genoss, so stieß er, vor allem innerhalb der schiitischen Gemeinschaft, auf nicht unerheblichen Widerstand. So kritisierten einige schiitische Ulama beispielsweise die institutionalisierte Hierarchisierung, die der OSR kreieren würde, zumal sie Sadrs Legitimation für die Führungsposition offen hinterfragten. Ebenso argumentierten sie, dass ein rein schiitisches Gremium das Verhältnis zu den Sunniten nachhaltig stören würde. Für die Zuama wiederum bedeutete der OSR zunächst eine Untergrabung ihres bisherigen Vertretungsmonopols.Öffentlich widersetzen konnten sie sich vielleich Sadr als Vorsitzendem, dem Vorhaben an sich jedoch nicht. Zudem gelang es Sadr auch in diesen beiden Gruppen Verbündete zu gewinnen und seine Wahl sicherzustellen.

Allerdings konnte er seine Widersacher auch nicht vollständig ausschließen, die den OSR nach seiner Gründung ebenfalls zur politischen Einflussnahme nutzen wollten und entsprechenden Anteil einforderten. Symbolisch war die Gründung des OSR also vielleicht ein Fortschritt, praktisch rekrutierte sich das Gremium aber nicht unwesentlich aus den alten Eliten, die den reformorientierten Kräften um Sadr entgegenstanden. Unter diesen Umständen erwies sich der OSR als kaum handlungsfähig, auch und vor allem nicht bei der Einforderung schiitischer Interessen gegenüber der Regierung.

Das wurde in frappierender Weise in dem Maße deutlich, in dem sich die Lage der schiitischen Bevölkerung Südlibanons ab 1969 rapide verschlechterte und sich Regierung wie OSR als handlungsunwillig und handlungsunfähig zeigte. Ab diesem Zeitpunkt schlug Sadr gegenüber der Obrigkeit deutlich aggressivere Töne an. Zudem wandte er sich so intensiv wie nie zuvor jenen Schichten seiner Gemeinschaft zu, die am stärksten von der Vernachlässigung durch den Staat betroffen waren und numerisch das Gros der schiitischen Bevölkerung stellten.

Neben dem schiitischen Subproletariat der Beiruter Vororte begann sich nämlich auch in den beiden anderen großen schiitischen Siedlungsgebieten, dem Süden und der Biqaa, Protest gegen die soziale Misere und den politischen status quo, der diese perpetuierte, zu formieren. Ab 1970 erlebten beide Regionen eine Reihe von Streiks, mittels derer die schiitischen Landarbeiter die Abschaffung des Tabakmonopols sowie soziale Absicherung forderten. Sadr unterstützte diese Belange öffentlichkeitswirksam und machte sich in der Folge zu ihrem prominentesten Fürsprecher. Die von ihm ausgrufenen und angeführten Kundgebungen stießen auf große Resonanz und mobilisierten die schiitische Landbevölkerung in vorher unbekanntem Maße.

Hierzu bediente sich Sadr einer Sprache, die die sozialen Belange der Schia aufgriff und sie in einen explizit religiösen Rahmen einbettete. Er zeichnete das Bild einer politisch wie sozial entrechteten Konfessionsklasse, deren Diskriminierung seit der Zeit der Imame kontinuierlich aufrecht erhalten werde. Als entscheidendes Argument führte Sadr die religiöse Pflicht diesen Zustand zu ändern ins Feld. Die im religiösen Leben der Schiiten verankerten Persönlichkeiten, Symbole und Rituale fungierten hier als Anknüpfungspunkt. Sadr verband eine aktivistische Interpretation von Husain und Karbala mit der gegenwärtigen Situation. Folglich sollten die Schiiten, als Erben Husains, dessen „Revolution“ weiterführen und ihre legitimen Rechte einfordern.

Ebenso wie Ali Shariati wies auch Sadr hierbei den Ulama ein verpflichtendes Maß an Verantwortung zu. Wenn er auch klare Aussagen über politische Autorität Hierarchie des Klerus scheute, so formulierte er wiederholt die Pflicht zum gesellschaftlichen und politischen Engagement seiner Standesgenossen zum Wohle der schiitischen Gemeinschaft.

Ohne es offen für sich zu reklamieren erlangte Sadr in den Augen seiner Anhänger somit eine religiös-moralische Autorität, die auf seiner Ausstrahlung und der Anziehungskraft seiner religiös fundierten sozialen Botschaft fußte.

Sinnfälligen Ausdruck fand diese Autorität 1974, als Sadr hunderttausende Schiiten unterschiedlicher Couleur in Baalbak versammelte. Nicht zufällig wählte Sadr den 10. des Monats Muharram als Zeitpunkt. Die Symbolik von Ashura und der von hunderttausenden geleistete Eid konstituierte, auch bewusst nach außen sichtbar, ein spezifisch schiitisches Gruppenbewusstsein, welches die Grundlage für die von Sadr an diesem Tag ausgerufene „Bewegung der Entrechteten“ ( Harakat al-Mahrumin) bilden sollte. Sadrs Anhänger bezeugten Sadr durch den Eid, wie auch die Anrede Imam, ihre Loyalität und bestätigten seine Legitimität sie anzuführen und politisch zu repräsentieren.

Die auf seine Massenwirkung basierende Harakat al-Mahrumin spiegelte zudem auch Sadrs Enttäuschung und Abkehr vom OSR wieder. Die neue Bewegung erzeugte ein spezifisch schiitisches Solidaritätsgefühl, schaffte aber keinen grundlegenen Konsens. Sadr war stets darum bemüht gewesen, seine eigene sowie die Loyalität der schiitischen Gemeinschaft zum Staat Libanon zu bezeugen. So betonte er zu Beginn des Bürgerkrieges 1975 seinen Anhängern und die übrigen Konfessionen gegenüber den Vorbildcharakter und die historische Mission des Libanon als Beispiel der friedlichen Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften.

Sadrs Rhetorik und deren Wirkung bezüglich des politischen Systems sowie der Rolle der Schia erwiesen sich jedoch als ambivalent. Einerseits brandmarkte er den diskriminierenden und segregierenden Charakter des politischen Konfessionalismus und forderte ein Mehrheitswahlrecht auf säkularer Grundlage. Andererseits operierte er ja selber innerhalb des Systems und förderte innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft eine konfessionalistische Denkweise, indem er ein spezifisch schiitisches Gruppenbewusstsein zu konstituieren half. Zudem sprach er sich explizit für die Beibehaltung des religiösen Personenstandrechts aus – einem Stützpfeiler der konfessionalistisch geordneten Gesellschaft.

Desweiteren erlitt Sadrs Ansehen, insbesondere bei seinen bisherigen Dialogpartnern der anderen Konfessionen, einigen Schaden, als die Existenz der von ihm heimlich gegründeten schiitischen Miliz Amal öffentlich wurde. Sadr hatte zuvor das Auftreten von Milizen als Verrat am Staat kritisiert und mit dem Hinweis auf den überaus großen schiitischen Anteil in der libanesischen Armee die Loyalität seiner Gemeinschaft betont. Dennoch spielte nun auch Sadr nach den Regeln des Bürgerkrieges. Zudem betrachteten seine Anhänger, mit Blick auf andere Konfessionen, das Recht sich in Milizen zu organisieren in gewisser Weise auch als Teil ihrer Emanzipation.

Sadr wiederum beteuerte stets die Loyalität Amals zum libanesischen Staat und zur Obrigkeit. Die Miliz sollte seiner Meinung nach lediglich der Selbstverteidigung dienen und tatsächlich trat Amal während der ersten Etappe des Krieges 1975/76 kaum in Erscheinung. Die zunehmend mentale Konfessionalisierung, die der Krieg beschleunigte, betraf jedoch auch die Schiiten. Solange Sadr mäßigend auf seine Anhänger einwirken konnte, wurden ihre Folgen einigermaßend abgebremst.

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Samstag, 18. August 2007

Musa as-Sadr und die libanesische Schia - Teil 3

Teil 1

IV. Neue Konzeptionen zu Legitimität und Autorität

Das politische Engagement iranischer und irakischer Ulama in den 50er und 60er Jahren warf grundlegene Fragen zum Wesen schiitischen Islams und den Aufgaben des Klerus auf. Die theoretischen Konzepte von Khumaini, Shariati und Muhammad Baqir as-Sadr versuchten dabei eine genuin „islamische“ Position zu staatlicher Autorität zu begründen. Wenn sie sich über konkret einzufordernde Machtanteile auch uneinig waren, so formulierten sie alle die Pflicht der Ulama, sich im politischen Prozess aktiv einzubringen. In einem Diskurs, der Geschichte und Gegenwart der Schia und ihrer Gelehrter dichotonomisch definierte, wurde der aktivistischen Interpretation ein sozialrevolutionärer Moment hinzugefügt, der über den Kreis der Ulama hinaus breite Massen ansprach. Die beanspruchte politische Autorität der Ulama wurde sowohl theologisch begründet, gleichzeitig aber auch als Ausdruck der Volkssouveränität aufgefasst.

Neben Qumm entwickelte sich vor allem Najaf zum intellektuellen Zentrum dieser Richtung. Parallel zum theologischen Kolleg entfaltete vor allem Muhammad Baqir as-Sadr seine Aktivitäten im Rahmen einer politischen Partei, der Hizb ad-Dawa. Da Najaf überdies von überragender Bedeutung für die Gelehrtenausbildung in der gesamten schiitischen Welt war, wurde in diesem Milieu eine Generation junger Ulama sozialisiert, die den neu definierten Anforderungen an sie in ihren jeweiligen Gesellschaften Ausdruck verleihen sollten.

Baqir as-Sadr Cousin Musa as-Sadr wählte dabei eine eher ungewöhnlichen Option, indem er auf dem quasi umgekehrten Weg der Gelehrtenausbildung im Libanon ein Betätigungsfeld suchte. Dabei transzendierte sein familiärer Hintergrund die iranische Nationalität, zumal es sein Cousin, der bereits erwähnte Sharaf ad-Din, war, der ihn in den Libanon einlud. Neben seinem renommierten Namen brachte Sadr vor allem seine persönliche Erfahrung der Auseinandersetzungen im Iran der 50er und 60er Jahre, sowie die aktivistischen Impulse aus Najaf mit in den Libanon. Damit verfügte also über einen weit größeren Horizont, als die meisten libanesischen Ulama bis dahin.

V. Faktoren schiitischer Mobilisierung und Politisierung ab Mitte des 20. Jahrhunderts

Sadrs Ankunft im Libanon 1959 erfolgte inmitten transformatorischer Prozesse, die die Sozialstruktur der libanesischen Schia diversifizierten und vorherrschende Loyalitäten und Identitätsmuster in Frage stellten.

Die Schließung der südlichen Grenze nach der Gründung Israels und der folgenen Krieg 1948 forcierte die schon in der Mandatsperiode begonne Migration, vor allem der schiitischen Bauernschaft Jabal Amils, beträchtlich. Hundertausende meist ungelernte Landarbeiter zog es auf der Suche nach Beschäftigung im industriellen Sektor nach Beirut. In kürzester Zeit bildete sich so im Süden der Hauptstadt ein Ring slumähnlicher Siedlungen, der Schiiten aus der Biqaa, Jabal Amil sowie vertriebene Palästinenenser beherbergte.

Die großen Zuama-Familien konnten und wollten ihre bisherige Patronagefunktion für die Beiruter Migranten nicht erfüllen, da diese für sie in Beirut ohne politischen Nutzen waren. Die Schiiten waren zwar wahlrechtlich an ihren Heimatdistrikt gebunden, die Teilnahme an Wahlen erwies sich dadurch jedoch als kostenintensiv und vom Wohlwollen der Zuama abhängig.

Zudem wurde die sozioökonomische Benachteiligung der Beiruter Vorstadtschiiten in dem Maße augenfällig, indem das Beiruter Zentrum einen wirtschaftlichen Boom erlebte und sich zum führenden Finanzzentrum der Region entwickelte.

Umso mehr rückten dementsprechend sozialistisch ausgerichtete Parteien für die Schiiten in den Vordergrund. Zum einen boten sie Erklärungen für die Vernachlässigung schiitischer Siedlungsgebiete und setzten sie in einen ideologischen Zusammenhang, zum anderen konnten die Schiiten mithilfe der Parteistrukturen ihren sozialen Bedürfnissen Ausdruck verleihen. Dabei wurde dem Konfessionalismus als systemischer Ursache die Hauptschuld zugewiesen, da er die feudale Herrschaft der Zuama festige und die breiten Massen in Armut halten und die ihnen zustehende Partizipation verwehren wolle. Die Anziehungskraft der linken Parteien mobilisierte und politisierte eine Großzahl von Schiiten, wenngleich sie zumeist ihr Fußvolk bildeten und kaum in führende Positionen vorstießen.

Ein weiteres Ziel schiitischer Migration bot schon vor dem Strom nach Beirut Westafrika. Dort zu einigem Wohlstand gelangt, zog es viele in den 50er und 60er Jahren zurück in ihre Heimat, um einerseits einen ihrem wirtschaftlichen Erfolg gemäßen Platz in der Gesellschaft einzufordern, und andererseits mit ihrem Kapital zur Verbesserung ihrer schiitischen Landsleute beitragen zu können. Die alteingesessenen Zuama mit ihrem traditionellen Selbstverständnis von Autorität wirkten auf diese Schicht schiitischer Parvenues ebenso unmodern und arrogant, wie die linken Parteien radikal und unberechenbar, so dass beide Gruppen als strategische Verbündete ausschieden.

Zur weiteren Diversifizierung der schiitischen Gemeinschaft trug der Ausbau des staatlichen Bildungswesens bei. So zielte die Politik Präsident Fuad Shihabs ab 1958 auf die Reduzierung des Bildungsrückstandes des muslimischen, insbesondere des schiitischen Bevölkerungsanteils ab. Die staatlichen Schulen, vor allem Jabal Amils, ermöglichten breiteren Bevölkerungsschichten erstmals den Erwerb von Bildung unabhängig von Zuama und Ulama. Zudem öffnete die staatliche Libanesische Universität vorher verschlossene Wege zur Hochschulbildung. Diese Integration ins Erziehungswesen sollte die Schiiten sowohl mental als auch politisch in das Staatsgebilde einbinden. Der starre Konfessionsproporz begrenzte jedoch den Zugang zu Stellen in der Bürokratie ebenso wie die Ämterpatronage der Zuama. Das Versprechen der politischen Integration war aus Sicht der neuen Schicht schiitischer Studenten damit gebrochen. Nicht zufällig waren sie in der Studentenbewegung übermäßig repräsentiert und wandten sich größtenteils linken Parteien zu.

Wenn sich die schiitische Gemeinschaft auch wie eben beschrieben diversifizierte, so sahen sich doch alle Gruppen ähnlichen Hindernissen gegenüber. Idealerweise wollte die Politik Shihabs eine breit verankerte Loyalität zum Staat Libanon etablieren und die Schiiten wiederum ihre Loyalität zum Staat unter Beweis stellen. Als sie dies jedoch auch konkret einforderten, stellte sich ihnen sowohl der politische wie auch der mentale Konfessionalismus entgegen. Letzterer zeigte sich vor allem im Verhältnis zu den anderen Konfessionsgemeinschaften. Vorurteile und Stereotypen über die als zurück geblieben empundenen und oft verächtlich Matawila genannten Schiiten waren insbesondere in Beirut weit verbreitet. Wenn sich Schiiten, wie beispielsweise die wirtschaftlichen Aufsteiger, auch als libanesische Staatsbürger profilieren wollten, wurden sie oft genug auf ihre Zugehörigkeit zur schiitischen Religionsgemeinschaft reduziert und dementsprechend diskriminiert. Unter diesen Umständen gewann die Selbstbeschreibung der Schiiten als entrechtete Konfessionsklasse an Konjunktur.

Vor allem in den 50er und 60er Jahren wurde diese Kritik an der spezifischen Diskriminierung der Schia von linken Gruppierungen aufgegriffen, während die Zuama nichtsdestotrotz wenig Einfluss einbüßten und die Ulama sich kaum in die Diskussion einbrachten. Obwohl also in verschiedenen Schichten Protest gegen diese Vernachlässigung artikuliert wurde, erwies sich die schiitische Gemeinschaft als äußerst fragmentiert. Es mangelte ihr an intrakonfessionellen integrativen Strukturen und Persönlichkeiten, die die verschieden begründeten Anliegen der libanesischen Schiiten bündeln und gegenüber dem Staat vertreten könnten.

Freitag, 17. August 2007

Musa as-Sadr und die libanesische Schia -- Teil 2

Teil 1

III. Die soziale und politische Entwicklung der libanesischen Schiiten bis Mitte des 20. Jahrhunderts

a) Sozialstruktur und Machtverteilung

In diesem Abschnitt soll zunächst die soziale Struktur der Schiiten im Libanon sowie ihre politische Einbindung im Verhältnis zu den jeweiligen Obrigkeiten bis zu den einschneidenden Veränderungen Mitte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet werden. Zudem wird dem Ausmaß gesellschaftlichen Engagements der Ulama in dem betreffenden Zeitraum nachgegangen.

Über Ursprung und Geschichte der schiitischen Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Libanon kann nur wenig mit Sicherheit gesagt werden. Die beiden Hauptsiedlungszentren der Schiiten, Jabal Amil und Beqaa, waren zudem bis zum Ende der osmanischen Oberherrschaft regional unterschiedlich eingebunden und differierten in ihrer Sozialstruktur zum Teil beträchtlich. So waren tribale Klientelverbände in der Beqaa von weit größerer Bedeutung als in Jabal Amil, wo sich viel eindeutiger eine Stratifikation in Zuama, Ulama und Bauernschaft durchsetzte.

Die Machtposition einiger Zuama-Familien wurde durch ihre Einbindung in das osmanische Steuerpachtsystem formalisiert und Großgrundbesitz als Basis und Kriterium ihrer Legitimität etabliert. Analog zum Monopol weltlicher Autorität in den Händen einiger Zuama-Clans, konzentrierte sich auch religiöse Autorität auf eine kleine Anzahl von schiitischen Gelehrtenfamilien. Protektion und Legitimierung charakterisierten die jeweiligen Interessen der beiden Gruppen und bildeten die Grundlage für ihr Bündnis.

Die Machtstellung der Zuama vergrößerte sich in der Folge beträchtlich, da ihnen die seit den Tanzimat-Reformen einsetzende Institutionalisierung politischer Macht den Alleinvertrungsanspruch über ihre schiitische Klientel zubilligte. Da der gesamte Staatsapparat des entstehenden Libanon ab der Mandatszeit ebenfalls nach konfessionalistischen Gesichtspunkten aufgebaut wurde, erhielten die Schiiten zwar erstmals einen offiziell zugesicherten Anteil zur Macht, diese blieb jedoch den Zuama vorbehalten. Damit wurde einerseits die Loyalität der Zuama zum neuen Staatsgebilde gewonnen, andererseits aber legitimierte und festigte man die feudale Machtstellung der Zuama gegenüber der schiitischen Bauernschaft, deren wirtschaftliche und soziale Lage sich rapide verschlechtert hatte. Diese ungleiche Machtverteilung funktionierte zum einen, da die Zuama bestimmte Klientelgruppen über den Weg der staatlichen Bürokratie begünstigen konnte, zum anderen, weil der Großteil der Landbevölkerung keine Möglichkeit hatte, die Bemühungen ihrer Zuama im fernen Beirut zu kontrollieren.

Wenn der politische Konfessionalismus auch den Großteil der schiitischen Bevölkerung weiter an ihre Zuama band und von wirklicher Teilhabe am neuen Staat ausschloss, so legte er zumindest einen wichtigen Grundstein zur religiös-institutionellen Emanzipation der Schia im Verhältnis zu den anderen Konfessionen, insbesondere den Sunniten. Zwar ließ die Osmanen den Schiiten auf dem Land oft freie Hand in ihrem religiösen Alltag, sowohl in juristischer als auch in ritueller Hinsicht. Offiziell jedoch fand die Schia keine Anerkennung und wurde im Gegensatz zu den anderen Konfessionen auch nicht von äußeren Mächten protegiert. Die Einrichtung eines jafaritischen Gerichtshofes 1926 mag als Konzession der Franzosen für die schiitische Loyalität zum neuen Staat gesehen werden. Allerdings symbolisierte sie auch die religiöse Eigenständigkeit der Schia, wie sie sich in ritueller Hinsicht auch in der Zulassung der früher untersagten Ashura-Prozessionen zeigte.

Es wurden also Institutionen und Rituale gestärkt, die die Schia politisch und religiös repräsentieren und integrieren sollten und die sich zunächst die Zuama zu eigen machen konnten. Ebenso waren sie jedoch dazu angelegt, alternativen Konzeptionen von politischer Autorität und religiöser Identität als Vehikel zu dienen, und zwar in dem Moment, in dem sich die soziale Struktur der Gemeinschaft und das politische Klima im Land ändern und den status quo in Frage stellen würden.

b) Stellung und Rolle der Ulama

An ein derart aktives gesellschaftliches Engagement schiitischer Ulama, wie es sich im Iran entfaltete, war im Libanon bis Mitte des 20. Jahrhunderts kaum zu denken. Die libanesischen Ulama hatten auch kaum Grund, eine Änderung der bestehenden Sozial- und Autoritätsstruktur einzufordern, schon gar nicht für sich selbst. Sie deferierten die politische Autorität an die Zuama, und konnten im Gegenzug weitgehend unbehelligt Studium und Lehre nachgehen und somit die Existenz ihres Standes sicherstellen. Daraus sollte man zwar nicht auf ein generelles Desinteresse an den Bedürfnissen der schiitischen Gläubigen und völlige Isolation schließen, jedoch war ein gesellschaftliches Engagement gegen die Interessen der Zuama nicht denkbar.

Die Hebung des ungemein niedrigen sozialen und des Bildungsstandes beispielsweise gehörte nicht zu den Aufgaben der traditionellen Zuama. Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch traten einige erst kürzlich in diesen Stand aufgestiegene Zuama auf den Plan. Die 1908 gegründete Zeitschrift Al-Irfan diente dabei als Sprachrohr, um das Gefühl einer zivilgesellschaftlichen Verantwortlichkeit zur Verbesserung des Lebensstandards der schiitischen Gemeinschaft zu erzeugen. Eine explizit aktive Role wurde in diesem Zusammenhang den Ulama zugewiesen, von denen sich einige auch bei Al-Irfan engagierten.

Auf institutioneller Ebene versuchte der reputierte Alim Abd al-Husain Sharaf ad-Din in den 30er und 40er Jahren diesen Ansprüchen gerecht zu werden, indem er die Gründung von Kultur- und Bildungszentren initiierte. Dennoch blieb dieses Engagement beschränkt. Es konzentrierte sich nur auf städtische Milieus, wohingegen die Mehrheit der Schiiten auf dem Land lebte. Zudem waren solche Bemühungen aufs Engste mit ihren Initiatoren verknüpft und erwiesen sich mithin als relativ kurzlebig, sobald sie nicht breiter verankert werden konnten. Ebenso scheiterten Versuche, die Ulama als gesellschaftlich einflussreiche Gruppe institutionell zu organisieren, an den bestehenden Loyalitätsverhältnissen, die zudem Rivalitäten zwischen den Zuama auch auf die jeweils verbündeten Ulama übertrugen. Von punktuellen Ausnahmen abgesehen, erwiesen sich die Ulama also als ungeeignet, als unabhängige Fürsprecher schiitischer Belange auf sozialem und politischem Gebiet aufzutreten.

Obwohl Sharaf ad-Dins Aktivität begrenzt bleiben musste, stand er über sein familiäres Netzwerk in engem Kontakt zu seinen Kollegen im Irak und Iran und konnte beobachten, welches Potenzial gesellschaftlich engagierte Kleriker in ihren schiitischen Gemeinschaften zu entfalten vermochten.

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