Freitag, 6. Januar 2012

Kommentierte Materialsammlung: 10 Jahre 11. September - Teil 4


Die Mohammad-Karikaturen


Die Kontroverse um die Mohammed-Karikaturen sowie die anschließenden - zum Teil gewalttätigen - Massenproteste in islamisch geprägten Staaten bewirkten 2005/2006 weltweit eine Diskussion über Presse-, Religions- und Meinungsfreiheit. Vertreter der These eines „Kampfs der Kulturen“ sahen sich in ihrer Sichtweise des Islam als „extremistischer Religion und Kultur“ bestätigt.

Dabei muss die empörte Reaktion vieler Muslime in den zeitlichen Kontext eingeordnet werden. George Bushs Aufruf zum „Kreuzzug gegen den Terror“ nach den Anschlägen vom 11. September 2001, die US-geführten militärischen Interventionen in Afghanistan und Irak sowie Berichte über Folter und „Schändungen“ des Korans in Abu Ghraib beziehungsweise Guantanamo haben das Verhältnis zwischen „dem Westen“ und der Arabischen Welt nachhaltig verändert. Auf ebendiese dynamischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen soll im Folgenden anhand der Karikaturen-Kontroverse eingegangen werden.


1) Hintergrund:

Unter dem Titel „Das Gesicht Mohammads“ (dänisch: „Mohammeds Ansigt“) veröffentlichte die größte dänische Tageszeitung Jyllandsposten am 30. September 2005 12 Karikaturen, auf denen der islamische Prophet und Religionsstifter Mohammad teilweise explizit dargestellt wird. Dabei trägt der islamische Prophet unter anderem auf einer Karikatur einen Turban in Form einer Bombe, deren Lunte brennt. Den Karikaturen wurden ein Text des Kulturredakteurs Flemming Rose beigefügt, der die Veröffentlichung der Zeichnungen begründet:

„Die moderne, säkulare Gesellschaft wird von einigen Muslimen abgelehnt. Sie fordern eine Sonderrolle und bestehen auf einer besonderen Rücksichtnahme auf ihre eigenen religiösen Befindlichkeiten. Das ist nicht vereinbar mit einer modernen Demokratie und der Redefreiheit, in der man bereit sein muss, sich Beleidigungen, Beschimpfungen und verächtlichen Äußerungen zu stellen. Es ist bestimmt nicht immer schön sich diese Sachen anzugucken und es bedeutet nicht, dass man sich um jeden Preis über religiöse Gefühle lustig machen soll, aber das ist im gegenwärtigen Kontext von nachrangiger Bedeutung. Wir befinden uns auf dem Weg zu einem Abhang, bei dem niemand vorhersagen kann wo die Selbstzensur enden wird. Deshalb hat Morgenavisen Jyllands-Posten Mitglieder der dänischen Karikaturisten-Union eingeladen Muhammad so zu zeichnen, wie sie ihn sehen.“

Vorausgegangen war eine Debatte in Dänemark zu Selbstzensur in Bezug auf den Islam, nachdem sich der dänische Autor Kare Bluitgen zunächst vergeblich um einen Zeichner für sein Kinderbuch „Der Koran und das Leben des Propheten Mohammad“ bemüht hatte. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass verschiedene islamischen Strömungen die bildliche Darstellung des Gesichts Mohammads verbieten. Kritiker dieser Sichtweise verweisen häufig auf die Koransure 18, 110. Hier heißt es:

„Sag: Ich bin nur ein Mensch wie ihr (...)“.

Gemäß der Aussage Bluitgens hatten Zeichner das Angebot mit Verweis auf den Mord an den niederländischen islamkritischen Regisseur Theo van Gogh im November 2004 und den körperlichen Angriff auf einen Dozenten der Univiersität von Kopenhagen im Oktober 2004, der Nicht-Muslimen den Koran vorgelesen hatte, abgelehnt. Die Zeichner hätten um ihre persönliche Sicherheit gefürchtet, so Bluitgen.

2) Erste Reaktionen auf die Veröffentlichung der Karikaturen:


17. Oktober 2005: Die ägyptische Wochenzeitung al-Fagr druckt sechs der zwölf Karikaturen ab und bezeichnet diese als „Beleidigung“ und „rassistische Bombe“. Größere Proteste bleiben aus.


20. Oktober 2005: 11 Botschafter islamisch geprägter Staaten wenden sich an den dänischen Ministerpräsidenten Rasmussen und fordern diesen auf, jegliche „im Rahmen des Gesetzes“ mögliche Schritte gegen die Karikaturen zu unternehmen.


27. Oktober 2005: Verschiedene muslimische Organisationen in Dänemark erstatten mit dem Vorwurf der Blasphemie und Verweis auf Paragraph 140 des Strafgesetzbuchs Strafanzeige gegen den Jyllandsposten (§ 140: „Derjenige, der öffentlich die Glaubenslehre oder Gottesverehrung irgendeiner legal in diesem Land bestehenden Religionsgemeinschaft verspottet oder verhöhnt, wird zu einer Geldstrafe oder Haftstrafe bis zu vier Monaten verurteilt.“) → die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren am 6. Januar 2006 ein.


November/Dezember 2005: Ein Zusammenschluss in Dänemark aktiver Imame verbreitet das so genannte 43-seitige Akkari-Laban-Dossier während Delegationsreisen in Ägypten und im Libanon. Neben den Karikaturen des Jyllandsposten enthält das Dokument obszöne Karikaturen – unter anderem wird auf einer Zeichnung ein Muslim beim Gebet von einem Hund bestiegen, auf einer anderen wird Mohammad als „pädophil“ bezeichnet –, die nach Darstellung der Organisation Muslimen in Dänemark anonym zugeschickt wurden. Am 6. Dezember verteilt der ägyptische Außenminister Ahmad Abu al-Ghait das Dossier beim Gipfel der Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) in Mekka, woraufhin die OIK die Karikaturen in einem offiziellen Communique verurteilt.


Erst im Zuge der Verurteilung der Karikaturen durch die OIK kommt den Zeichnungen in der Arabischen Welt allmählich größere (mediale) Aufmerksamkeit zuteil.


Weitere wichtige Etappen auf dem Weg zur Eskalation der Geschehnisse:


10. Januar 2006: Die norwegische Zeitung Magazinet druckt die Mohammad-Karikaturen erneut ab.


24. Januar 2006: Saudi-Arabien beruft aus Protest seinen Botschafter aus Dänemark ab (Pakistan folgt diesem Beispiel am 17. Februar); Libyen schließt seine Botschaft in Kopenhagen.


26. Januar 2006: Die jordanische Wochenzeitung al-Mihwar veröffentlicht die Karikaturen, um nach eigener Darstellung die Arabische Welt angesichts einer im Okzident wahrgenommenen Islamfeindlichkeit im Westen „zu alarmieren“. In der Folgezeit veröffentlichen mehrere arabische Magazine beziehungsweise Zeitungen (Algerien: al-Safir, al-Risala; Jordanien: al-Schahin; Jemen: Yemen Observer; al-Hurriya; Marokko: Journal Hebdomadaire) mit ähnlichen Motiven die Zeichnungen. In den meisten Fällen werden die verantwortlichen Redakteure entlassen, zum Teil werden die Journalisten inhaftiert. Ebenso werden die Zeitungsausgaben mit den Karikaturen vielfach zurückgezogen.


31. Januar 2006: Der in Kopenhagen lebende, renommierte, syrischstämmige Gelehrte Mohammad Fouad al-Barazi berichtet während eines viel beachteten Auftritts bei al-Dschasira – dem am meisten rezipierten arabischen Nachrichtensender – von Aufrufen in Dänemark, den Koran zu verbrennen.


1. Februar 2006: Nachdem sich der Chefredakteur des Jyllandspostens dafür entschuldigt, die Gefühle vieler Muslime verletzt zu haben, jedoch die Veröffentlichung der Zeichnungen verteidigt, drucken mehrere europäische Zeitungen die Karikaturen ab.


Massendemonstrationen, Angriffe auf dänische beziehungsweise europäische Institutionen und gewalttätige Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften geschehen in der Islamischen Welt ab Ende Januar 2006. Unter anderem wird ein Büro der EU im Gaza-Streifen von bewaffneten Milizen besetzt. In Syrien werden die Botschaften Dänemarks und Norwegens angegriffen, ebenso attackieren Demonstrierende in Beirut und Teheran die dänischen Dependancen. In anderen islamischen Ländern wie Afghanistan, Somalia, Libyen, oder Pakistan richtet sich der Protest bald gegen die eigene Staatsführung, Straßenschlachten zwischen aufgebrachten Menschenmengen und dem Militär sind die Folge. Insgesamt kommen bei den Demonstrationen gegen die Karikaturen laut „Cartoon Body Count“ mindestens 139 Menschen ums Leben. Parallel hierzu werden dänische, zum Teil auch norwegische Produkte in vielen islamischen Staaten monatelang boykottiert.


3) Zur Wahrnehmung der Proteste im Orient und Okzident

Der Islamwissenschaftler Stefan Rosiny schreibt diesbezüglich treffend:

"Warum gibt es diesen Aufruhr um einige Mohammed-Karikaturen? Das wird man derzeit als Islamwissenschaftler allenthalben gefragt. Es müsse doch jemand hinter dieser Eskalation stecken, der die Muslime manipuliere und den Islam missbrauche. Auf der anderen Seite empören sich Muslime, dass trotz ihrer Proteste zahlreiche Zeitungen die aus ihrer Sicht beleidigenden Karikaturen nachdruckten und westliche Politiker auf den Skandal nur mit Achselzucken und dem Verweis auf die Pressefreiheit reagierten. Sie wittern hinter den Karikaturen eine gezielte Kampagne gegen ihre Religion, den Islam."

Offizielle Reaktionen aus der Arabischen Welt:

Sowohl die Staatschefs streng-islamischer (z.B. Saudi-Arabien) als auch säkularer politischer Systeme (z.B. Ägypten, Syrien) zeigen sich empört und fordern rechtliche Schritte gegen die Autoren der Karikaturen. Die überwiegend autoritär herrschenden Regierungen präsentieren sich als Beschützer der Religion. Hierdurch versuchen sie, an Popularität innerhalb der Bevölkerung hinzu zu gewinnen. Einzig der tunesische Präsidenten Ben Ali warnt in diesem Zusammenhang vor der Gefahr extremistischer Reaktionen von Muslimen gegenüber Andersgläubigen, wie sie etwa in Nigeria oder Ägypten kurze Zeit später zu beobachten sind. Gleichzeitig nutzt Ben Ali die Mohammad-Kontroverse als Vorwand, um gegen islamistische Kräfte im eigenen Land kompromisslos vorzugehen.


Reaktionen arabischer Medien:


Bis auf einige dissidente Medien und Persönlichkeiten, die zumeist in Europa publiziert werden beziehungsweise aktiv sind, verurteilt der Großteil der arabischen Zeitungen und Magazine die Veröffentlichung der Karikaturen scharf. Jedoch unterscheidet sich die Berichterstattung in Bezug auf den Grad an Selbstkritik sowie anderer Nuancen signifikant. Ein immer wiederkehrendes Thema ist dabei die Wahrnehmung der Zeichnungen als bewusste Provokation aller Muslime und als bewusster Missbrauch der Meinungsfreiheit. Exemplarisch sei auf einen Leitartikel in der vergleichsweise liberalen saudi-arabischen Zeitung Arab News verwiesen:
"Er (Carsten Juste, der Chefredakteur des Jyllandpostens, Anmerkung des Verfassers) sagt, dass die Karikaturen nicht dazu bestimmt waren, zu beleidigen. Die Darstellung des Propheten als Terrorist waren ganz eindeutig dazu bestimmt, zu beleidigen. Wie könnte es auch anders sein? Rasmussen (der dänische Ministerpräsident, A.d.V.) muss erkennen, dass Muslime mittlerweile ein integraler Bestandteil seiner Gesellschaft sind und dass ein Angriff auf ihren Glauben ein Angriff gegen sie bedeutet. Die Redefreiheit muss mit dem Recht, dass der Glaube des Einzelnen nicht missbraucht und lächerlich gemacht wird, in Einklang gebracht werden."


Auch der Chefredakteur der in London erscheinenden "al-Quds al-Arabi", Abd al-Bari Atwan interpretiert die Karikaturen als Angriff auf den Islam als Religion.
"Die dänische Zeitung, welche die verspottenden und abscheulichen Bilder des ehrwürdigen Propheten veröffentlicht hat, verfolgte mit diesem Verbrechen das Ziel, mehr als 1,5 Milliarden Muslime auf der ganzen Welt zu kränken und zu beleidigen. Deswegen muss sie sich auf jede erdenkliche Weise und ohne wenn und aber entschuldigen. Das gilt auch für ihre Regierung."

Des Weiteren konstatiert er eine „Islamfeindschaft“ im Westen, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 bestehe. Gleichwohl hebt Atwan hervor, dass die Arabische Welt in Bezug auf persönliche Freiheiten „dem Westen“ hinterherhinke:
"Wir leben nun schon seit dreißig Jahren im Westen und wissen, dass hier Gesetze und Bräuche die Meinungsfreiheit gewährleisten, wie es sie in keinem arabischen Land gibt, wo die Freiheit unterdrückt wird. Wir wissen aber auch sehr gut, dass es Grenzen und Regeln gibt, die den Angriff auf andere Religionen verbieten. Was sich nun in Dänemark und Norwegen an Angriffen auf den Islam und den ehrwürdigen Propheten Muhammad [...] ereignet hat, sind Fälle einer Islamfeindschaft, deren Ausbreitung im Westen mit dem 11.9.2001 begann."

Eine vermeintlich explizite Islamfeindschaft in Europa lasse sich daran erkennen, dass Juden und Christen in den europäischen Medien nicht verunglimpft würden. In diesem Zusammenhang wirft Atwan den europäischen Medien Doppelmoral vor. Wie viele andere arabische Journalisten kritisiert er dabei die Tabuisierung einer Diskussion über die Existenz der Holocausts:

"Die großen europäischen Zeitungen und Fernsehkanäle greifen nicht die Juden oder den christlichen Glauben an und sie wagen es auch nicht, den Holocaust infrage zu stellen. Und wenn es doch geschieht, dann greifen spezifische Gesetze und die Angreifer werden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Während Antisemitismus im Westen als Verbrechen gilt, ist die Islamfeindschaft etwas ganz Gewöhnliches und fällt unter das Kapitel Meinungsfreiheit [...]."

31. Januar 2006, al-Quds al-Arabi
Hierzu äußert sich ebenso Abdallah Bin Bakhit in der saudi-arabischen Zeitung "al-Jazirah" (nicht zu verwechseln mit dem katarischen Medienimperium al-Jazeera):

"Wenn die dänische Regierung behauptet, dass die Veröffentlichung der Karikaturen unter die Meinungsfreiheit fallen, die von der dänischen Verfassung garantiert wird, würde sie die gleiche Behauptung aufstellen, wenn ein Wissenschaftler einen Bericht über den Holocaust veröffentlichte, der die offizielle Meinung, die von jüdischen Organisationen aufgezwungen werden, in Frage stellt?"

2. Februar 2006, al-Jazirah

Außerdem Husain Shabakshi in der in London ansässigen pan-Arabischen Zeitung „al-Sharq al-Awsat“:

"Antisemitismus ist inakzeptabel und die dänischen Karikaturen wären nicht veröffentlicht worden, wenn sie zum Beispiel einen jüdischen Rabbi dargestellt hätten. Den Juden ist es gelungen, jede kritische Erwähnung von Juden als Antisemitismus zu kriminalisieren, wodurch jeder der sich daran versucht hart bestraft wird. Heute ist es notwendig für islamische Organisationen gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen auf internationaler Ebene um Übergriffe auf den Islam zu kriminalisieren.“

2. Februar 2006, al-Sharq al-Awsat

Rami Khouri, ein renommierter Journalist christlich-palästinensischer Herkunft, ordnet die Ereignisse in einem bemerkenswerten Artikel im libanesischen „Daily Star“ in den größeren Kontext ein. Entschieden wehrt Khouri sich mit einer post-kolonialistischen Argumentationsweise gegen die These Huntingtons eines „Kampfes der Kulturen“

“Es wäre ein großer Fehler sich nur auf die wenigen politischen Skinheads zu konzentrieren und die Bedeutung der großen Mehrheit von hunderttausenden Protestierenden zu ignorieren die in ernsthafter und geordneter Weise demonstrierten.


Das passiert zu einer Zeit, in der islamistische politische Bewegungen in der ganzen Region Wahl für Wahl gewinnen. Die islamistische Identität triumphiert immer dort, wo die traditionellen herrschenden Eliten sich öffnen und den Raum für andere freimachen mussten, die ihre Macht demokratisch und friedlich herausfordern – in arabischen Staaten, der Türkei, dem Iran, Pakistan und anderswo. Die beständigste Quelle arabisch-islamischer Angst der letzten zwei Jahrhunderte - der westliche Kolonialismus – steht jetzt dem Widerstand der beständigsten Form indigener Identität und anti-imperialer Opposition gegenüber – dem kulturellen und politischen Islam.


Es ist zu simpel und einfach dies als Kampf der Kulturen darzustellen, eine sehr westliche Perspektive, die politische Spannungen primär durch Kultur- und Wertunterschiede zu erklären. Die meisten Muslime (und nicht-muslimische Orientale, unter ihnen mehrere Millionen Christen) sehen die aktuellen Spannungen als eine politische und nicht als kulturelle Schlacht. Das ist nicht in erster Linie ein Streit über die Pressefreiheit in Europa, auch wenn unsere europäischen Freunde das noch so gerne glauben möchten. Es geht um das Verlangen arabisch-islamischer Gesellschaften, frei von westlicher und israelischer Unterdrückung, doppelten diplomatischen Standards und aggressiver neo-kolonialer Politik zu leben. Das ist kein bloßer Kampf der Kulturen. Es ist eine neue Form des kolonialen Kampfes, der die europäisch-arabischen und europäisch-asiatischen Beziehungen im 19. Jahrhundert geformt hat.


Der Unterschied besteht diesmal darin, dass die Einheimischen im Süden den großen Waffen, der erniedrigenden Rhetorik und den beleidigenden Karikaturen des Westens nicht mehr hilflos und still gegenüberstehen. Muslime, Araber und Asiaten sind sich heute der Politik der westlichen Staaten weitaus bewusster, sorgen sich um deren Politik, sind wütend über westliche Doppelstandards, sind willens sich diesem durch Massenmedien, politisch und andere Kanäle zu widersetzen und sind bereit sich zu erheben, zu kämpfen und ihr Recht wahrzunehmen in Freiheit und Würde zu leben. Die Botschaft aus dem arabisch-islamischen Herzland lautet, dass das 19. Jahrhundert offiziell vorüber ist.


Die Muslime wurden durch das europäische Verhalten hinsichtlich der dänischen Karikaturen tief beleidigt, aber nicht nur wegen der Karikaturen sind unsere Befürchtungen und Ängste viel größer als das. Viele gewöhnliche Bürger in der arabischen Welt und Asien sehen die europäische Position gegenüber Irans Nuklearprogramm und der siegreichen Hamas in Palästina und sehen, dass diese Positionen sich der amerikanisch-israelischen Haltung annähern, die Araber und Muslime diskriminiert.


Nach dem US-geführten Angriff auf den Irak erklärt dies, warum große Mehrheiten erst vor drei Monaten in einer Umfrage in arabischen Staaten glaubten, dass die Hauptmotive amerikanischer Politik im Nahen Osten 'Öl, Israels Sicherheit, Dominanz in der Region und die Schwächung der muslimischen Welt' sind. " Die Veröffentlichung der Karikaturen sendet eine Botschaft, denn sie symbolisiert viel größere politische und soziale Themen. Genauso sollten die aktuellen Proteste vieler Muslime als Reflex verstanden werden.“

Daily Star Lebanon, 8. Februar 2006



http://www.workablepeace.org/Cartoons/slap.pdf



Abd al-Bari Atwan von „al-Quds al-Arabi“ geht zudem auf die spaltende Wirkung der Karikaturen ein und zeigt die Gefahr auf, dass sich aufgebrachte Muslime gewaltbereiten Bewegungen anschließen könnten. Dabei verweist er explizit auf al-Qaida und somit implizit auf die weitreichenden Folgen des 11. Septembers.
Zielgerichtete Beleidigungen wie diese sind Wasser auf die Mühlen des Extremismus. Sie vergiften die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen, stacheln zur Gewalt an und erleichtern es Al-Qaida und anderen, zornige junge Männer für Racheakte gegen die westlichen Gesellschaften zu rekrutieren."

31. Januar, al-Quds al-Arabi

Ähnlich reflektiert äußert sich Ahmad Abd-al-Husain in der irakischen Zeitung „al-Sabah“. Dabei bezeichnet er Freiheit und Würde als zwei Menschenrechte, die im Karikaturenstreit aufeinander trafen:

"Im Namen der Freiheit, die ein Menschenrecht ist, wird die Würde, ein anderes heiliges Recht, mit Füßen getreten. Was ist falsch gelaufen? Was sollte die Überhand behalten? Die Handlungs- und Meinungsfreiheit, die höchste der Künste und die kostbarste Gabe der Menschheit auf Erden, oder der freie Wille die Symbole zu heiligen, die die Existenz der Nationen und Kulturen ordnen? (...)Die schändliche Zeichnung dieses Dänen ist nur ein extremes Beispiel in denen die Freiheit sich selbst entgegensteht. Die freie Presse hat es al-Qaida gestattet, jedes Haus per Fernsehen und Internet zu erreichen. Aber wir alle wissen, was al-Qaida von einer freien Presse hält. Es reicht aus an den Verbot des Fernsehens in Kabul zu erinnern, als die Stadt vom 'Befehlshaber der Gläubigen' regiert wurde. Die Verleumder des Propheten sind nicht frei. Sie benutzen die Freiheit als eine Waffe in einem Krieg, den niemand gewinnen wird.“

2. Februar, al-Sabah

Einen besonders interessanten Leitartikel verfasst der Chefredakteur der jordanischen Zeitung „Shihan“, Jihad Momani, der zudem drei der zwölf Karikaturen abdrucken lässt. Wenige Stunden später werden alle Zeitungsausgaben zurückgezogen, Momani wird entlassen. SpiegelOnline-Experte Yassin Musharbash schreibt hierzu:

"(…) Als die Bilder gestern in "Shihan" erschienen, hatte der Ton des mittlerweile geschassten Chefredakteurs noch anders geklungen. Zwar machte auch er keinen Hehl aus seiner Abscheu gegenüber den Zeichnungen und erklärte, er wolle nur das Ausmaß der dänischen Angriffe zeigen. Aber er warf in seinem mit "Muslime dieser Welt, reagiert vernünftig" überschriebenen Begleit-Kommentar auch selbstkritische Fragen auf. So wies Momani etwa darauf hin, dass die "Jyllands-Posten" sich längst entschuldigt habe - aber "aus irgendeinem Grund will niemand in der muslimischen Welt diese Entschuldigung hören". Noch weitreichender war der folgende Einwurf: "Wer beleidigt den Islam eigentlich mehr? Ein Ausländer, der den Propheten (...) darstellt (...), oder ein Muslim, der mit einem Sprengstoffgürtel bewaffnet auf einer Hochzeitsfeier in Amman ein Selbstmordattentat durchführt (...)?"

(...)Diese Frage hätte der Ausgangspunkt einer interessanten Debatte sein können. Aber so weit kam es nicht, denn augenblicklich prasselte ein Wutgewitter auf Momani nieder."


Abd al-Bari Atwan gibt den „zutiefst korrupten und diktatorischen islamischen Regierungen“ eine Mitschuld am fraglichen Image der Islamischen Welt in Europa und den USA. Mit Verweis auf die „Schwäche der arabischen Regime“ vis-à-vis den in vielerlei Hinsicht überlegenen westlichen Regierungen greift Atwan schließlich ein seit den Jahren des Kolonialismus gewachsenes und in der Arabischen Welt weit verbreitetes Minderwertigkeitsgefühl auf. Sehr viel subtiler kritisiert der bereits erwähnte Abdallah Bin Bakhit die schwache Position der arabischen Regime, indem er in Bezug auf den Boykott dänischer Produkte sämtliche Initiativen der Bevölkerung zuschreibt. Als ein in Saudi-Arabien lebender Aktivist muss Bakhit im Gegensatz zu Atwan, der in London lebt und publiziert, seinen Standpunkt vorsichtig formulieren:

"Der ganze Druck, der auf die dänische Regierung ausgeübt wird, ist einfach spontaner Druck, der von einigen Unternehmern unterstützt wird, der mit dem Mann auf der Straße begann und der mit ihm enden wird. Die dänischen Produkte, die heute aus den Läden verschwinden, werden in ein paar tagen wieder auftauchen, als sei nichts passiert. Muslime sind die stärksten Menschen auf der Welt, wenn es um individuelle Reaktionen geht und die schwächsten, wenn es um institutionalisierte Schritte geht. Die Ereignisse haben uns gezeigt, dass jede Reaktion auf solche Angriffe gegen den Islam (wo immer sie stattfinden mögen) mit institutionalisierten Antworten endet, die darauf zielen den Volkszorn zu zügeln und nicht das Thema dort anzugehen, wo es entstand.“

Muhammad Karishan, wie Atwan von al-Quds al-Arabi, schlägt am Beispiel der erfolglosen Bemühungen muslimischer Botschafter, auf den dänischen Premierminister Rasmussen das Verbot der Karikaturen zu erwirken, in die gleiche Kerbe:
„Es ist jetzt klar, dass die Bilder der dänischen Produkte, die aus Supermarktregalen geworfen werden, tausendfach effektiver sind als die Versuche arabischer Botschafter in Dänemark, sich mit dem Ministerpräsidenten zu treffen, der sich sogar weigerte, sie zu empfangen.“


Den Boykott und die gewalttätigen Proteste kritisiert Sati Nur al-Din von der libanesischen Zeitung al-Safir, der ebenso die Karikaturen verurteilt, auf eine Weise, wie sie in der Arabischen Welt wohl nur im liberalen Klima des Zedernstaats möglich ist:


"Die Araber und Muslime, die heute gegen Dänemark marschieren, seine Produkte und Botschaften attackieren, beuten das Karikaturenthema nicht für irgendein politisches Ziel aus. (...) Stattdessen senden sie etwas, was auf jeden Fall die falsche Botschaft ist,. Sie wählen einen idiotischen Vorwand für die Karikatur einer Schlacht.“


Des Weiteren werfen arabische Medien den Zeichnern der Karikaturen vor, die islamische Religion mit Terrorismus gleichzusetzen. Dabei nehmen sie Bezug auf die Zeichnung, die Mohammed mit einem Turban in Form einer Bombe zeigt. Dass die Existenz extremistischer islamischer Bewegungen ebensolche Bilder im Westen begünstige, zeigt Muhammad al-Hamadi von al-Ittihad aus den Vereinigten Arabischen Emirate selbstkritisch auf:


"Die Welt hat angefangen zu glauben, dass der Islam das ist, was von Bin Laden, Zawahiri, Zarqawi, der Muslimbruderschaft, den Salafisten und anderen praktiziert wird, die ein verzerrtes Bild vom Islam darstellen. Wir müssen ehrlich mit uns sein und zugeben, dass wir der Grund für diese Zeichnungen sind. Jede Beschädigung des Propheten oder des Islam ist das Ergebnis von Muslimen, die das schlechteste Bild des Islam darstellen und einiger Araber, die nicht das Leben und die Biographie des Propheten glaubwürdig überliefert haben. ."


Reaktionen von Dissidenten

Bezug nehmend auf die Auseinandersetzungen zwischen den staatlichen Autoritäten und der demonstrierenden Bevölkerung vertreten einige in Europa tätige, arabische Intellektuelle und Akademiker wie Mohammed Benzakour die Ansicht, die Karikaturen seien lediglich ein Anlass, um (in Form gewalttätiger Proteste) aufgestaute Frustration mit der politischen Situation im eigenen Lande abzubauen. Stefan Rosiny illustriert diesen Standpunkt anhand einiger Beispiele:
"In den Palästinensergebieten reagieren sich die über den Wahlausgang frustrierten (nationalistischen) Fatah-Angehörigen an Einrichtungen der EU ab, aus deren Hilfsgeldern sich bislang ihre korrupten Parteibonzen bedient hatten. Verkehrte Welt, dass sich die (islamistische) Hamas staatsmännisch gebärdet und sich nicht an den gewaltsamen Ausschreitungen beteiligt! (…) In Syrien, wo am 4. Februar die dänische und norwegische Botschaft brannten, hat man vermutlich noch nicht die Demütigung überwunden, sich auf westlichen Druck hin aus dem Nachbarland Libanon zurückgezogen zu haben. Und syrische Brandstifter halfen am folgenden Tag ihren libanesischen Glaubensbrüdern, die dänische Botschaft in Beirut anzuzünden – und eine benachbarte Kirche, 40 Geschäfte und Fahrzeuge im christliche Ostteil der Stadt gleich mit. In den libanesischen Flüchtlingslagern riefen derweil Palästinenser, die in keinem Nahost-Friedensplan mehr ernsthaft erscheinen und keine Hoffnung auf Rückkehr in ihre Heimat haben können, Osama bin Laden und Zarqawi zu Hilfe, Rache zu nehmen für die Blasphemie und die "schmutzigen Dänen" umzubringen. Die Entführer westlicher Ausländer im Irak können ihre finanziellen Interessen nunmehr zusätzlich religiös verbrämen. In Afghanistan wittern die entmachteten Taliban, die vermutlich die stilistischen Vorbilder für die Mohammed-Karikaturen darstellten, Morgenluft und mimen die Rächer der Beleidigten."


Das Manifest der 12

Als Reaktion auf die Kontroverse um die Karikaturen und die anschließenden gewalttätigen Proteste, veröffentlichten einige prominente Intellektuelle mit muslimischem Hintergrund ein Dokument, in dem der Islamismus als „neue weltweite totalitäre Bedrohung“ bezeichnet wird. Die Unterzeichner, zu denen unter anderem der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie und die aus Somalia stammende niederländische Abgeordnete Ayaan Hirsi Ali gehören, verkünden:


"Die jüngsten Ereignisse nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in europäischen Zeitungen zeigt die Notwendigkeit des Kampfes für die universellen Werte. Dieser Kampf kann nicht mit Waffen, sondern muß auf dem Feld der Ideen gewonnen werden. Es handelt sich nicht um ein Aufeinanderprallen der Kulturen oder einen Gegensatz von Okzident und Orient, sondern um einen weltweiten Kampf der Demokraten gegen die Theokraten."
→http://www.welt.de/printwelt/article201259/Manifest_der_12_Gemeinsam_gegen_den_neuen_Totalitarismus.html


5) Der Islam am Wendepunkt – eine akademische Reaktion

Im zeitlichen Umfeld der Kontroverse um die Mohammad-Karikaturen entsteht in Deutschland die Publikation „Der Islam am Wendepunkt“ verschiedener Islam- und Politikwissenschaftler. Die Aufsatzsammlung steht exemplarisch für das Verlangen der akademischen Welt, stärkeren Einfluss auf den Diskurs zum Islam zu nehmen, der zu diesem Zeitpunkt vor allem von Begriffen wie „Extremismus“ oder „Kampf der Kulturen“ geprägt wird. Dies tun die Autorinnen und Autoren, indem sie muslimische Persönlichkeiten porträtieren, die sich für ein zeitgemäßes Islamverständnis einsetzen und deshalb Reformen einfordern. Gleichzeitig ist das Buch aufgrund der Heterogenität der vorgestellten Charaktere ein Plädoyer für eine differenzierte Sichtweise auf den Islam.
→ Katajun Amirpur / Ludwig Ammann (Hg.): Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg 2006.



6) Weiterführende Literatur:

Baatz, Ursula: Bilderstreit 2006: Pressefreiheit? Blasphemie? Globale Politik?, Wien 2006.

Debatin, Martin (Hrsg.): Der Karikaturenstreit und die Pressefreiheit: Wert- und Normenkonflikte in der globalen Medienkultur., Münster 2007.

Knieper, Thomas; Tinnefeld, Marie-Theres: Der Karikaturenstreit im säkularisierten Staat – Wie weit reichen Meinungsfreiheit und Toleranz?, in: Schweighofer, Geist, Heindl, Szücs (Hrsg.): Komplexitätsgrenzen der Rechtsinformatik., Stuttgart 2008 (S. 473–482)

Müller,Marion; Özcan, Esra: The Political Iconography of Muhammad Cartoons: Understanding Cultural Conflict and Political Action., in: Political Science and Politics. 2007, S. 287–291

Soage, Ana Belen: The Danish Caricatures seem from the Arab World, in: Totalitarian Movements and Political Religions, Vol. 7/3 (S. 363-369), September 2006.


7) Weblinks:


Die 12 Karikaturen im Jyllandsposten.

→ http://eavis.jp.dk/Arkiv/30-09-2005/demo/JP_04-03.html


Fragen und Antworten zum Darstellungsverbot Mohammads bei BBC World.

→ http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/4674864.stm

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