Liebe Leser,
wir gratulieren unserem Alsharq-Autoren Maximilian Felsch zur erfolgreichen Promotion! Lest hier die Rezension seiner 2011 im Waxmann-Verlag erschienen Dissertation mit dem Titel »Die Hamas: eine pragmatische soziale Bewegung?«
»Radikalislamisch«, »extremistisch« und »terroristisch« sind einige der wenig schmeichelhaften Attribute, mit denen die palästinensische Hamas meist charakterisiert wird. Zu einer ganz anderen Einschätzung kommt hingegen Autor Maximilian Felsch. Laut ihm ist die » Bewegung des islamischen Widerstandes« vor allem eines – pragmatisch. Von Fabian Köhler
»Unerfreulich tendenziös« urteilte die taz. Von einer »spürbaren Sympathie« für die Hamas schrieb die Neue Zürcher Zeitung, während man sich in der Süddeutschen über die »Verteidigungsschrift« für die palästinensische Organisation echauffierte. Als die Professorin für Politikwissenschaft Helga Baumgarten vor sechs Jahren die erste deutschsprachige Abhandlung zur Hamas veröffentlichte, wurde deutlich, dass es sicherlich Untersuchungsthemen mit weniger Konfliktpotential als die palästinensische Hamas gibt.
Maximilian Felsch hat es mit seiner im November letzten Jahres veröffentlichten Studie trotzdem gewagt, sich des Themas anzunehmen. Für seine Dissertation reiste er nicht nur über ein Jahr durch den Nahen Osten, sondern traute sich damit auch wieder zurück nach Hause. Wenn er auf dem Cover seines Buches die Frage stellt »Die Hamas: eine pragmatische soziale Bewegung?«, dann darf sich der Leser also nicht nur auf einen der raren wissenschaftlichen Beiträge zur Diskussion um die Hamas, sondern auch auf allerlei politische Sprengkraft freuen.
Transnational statt palästinensisch
Auf den ersten Blick ist die Untersuchung des Dozenten an der Beiruter Haigazian-Universität ein umfassendes Überblickswerk über Handeln, Wirken und Motive der Hamas. Dies ist schon allein deshalb lobenswert, gibt der deutschsprachige Hamas-Buchmarkt neben Baumgartens »Hamas – Der politische Islam in Palästina« nur noch das 2010 neu aufgelegte »Hamas – Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat« von Joseph Croitoru her.
Ähnlich wie der Freiburger Journalist Croitoru und die in Ostjerusalem lebende Baumgarten, rekonstruiert Felsch die Herkunft der Hamas aus Muslimbruderschaft und Intifada, beleuchtet den Beginn der Selbstmordanschläge während der Osloer Jahre und fragt nach dem Wandlungsprozess, der mit und durch ihren Sieg bei den palästinensischen Kommunal- und Parlamentswahlen eintrat.
Die Hamas, die medial wie in der wissenschaftlichen Literatur oft nur als territorial eingedämmtes und politisch eindimensionales Phänomen stattfindet, wird vom Autor aus ihrer gazaischen Enklave gezerrt und als transnationaler Gemischtwarenhändler präsentiert. Felsch portraitiert die Hamas gleichzeitig als verbotene Organisation in Jordanien und als de-facto Vertretung der Palästinenser in Syrien, als um internationale Anerkennung bemühte Regierung in Gaza und als Anbieter von Hochzeitsfeiern im Libanon – und lässt so die Analysen von Baumgarten und Croitoru zuweilen wie uninspirierte Brockhaus-Einträge erscheinen.
Vom Jihadismus zum Realismus
Anders als seine Autoren-Kollegen belässt es Maximilian Felsch zudem nicht bei einer deskriptiven Hamas-Schau, sondern zwängt die Hamas in das politikwissenschaftliche Korsett einer sozialen Bewegung. Mit dem Ziel, ihr Verhalten nach dogmatischen oder eben pragmatischen Kalkülen zu durchleuchten, analysiert er das politische und soziale Umfeld der Hamas, fragt, wie die Hamas in diesem Umfeld Menschen mobilisiert und wie sie ihre Inhalte nach Außen und innerhalb der Bewegung kommuniziert.
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Hamas nicht um eine an islamistischen Dogmen ausgerichtete, unkalkulierbare Organisation fanatischer Extremisten handelt. Stattdessen stelle sie bis auf wenige »irrationale Ausnahmefälle« einen pragmatischen Akteur dar. Die Hamas wird bei Felsch zu einer Getriebenen ihrer Umstände, die in einem feindlichen Umfeld viel mehr mit dem Selbsterhalt beschäftigt ist als mit der Umsetzung jihadistischer Ziele.
Detaillierte empirische Studie mit Aussetzern
Die Belege, die Felsch für diese in manchen Ohren provokant klingende These anführt, können durchaus überzeugen. Da ist zum Beispiel das Regierungsprogramm, welches kaum noch ein Wort über den bewaffneten Widerstand gegen Israel, stattdessen umso mehr Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung enthält oder die konsensorientierte Organisationsstruktur der Bewegung, die mehr zum Überleben beiträgt als alle Qassam-Rakteten.
Wenn Felsch kenntnisreich über die Exil-Führung schreibt, die weniger darum bemüht ist, israelische Grenzbefestigungen als das israelische Meinungsmonopol in der Hamas-Berichterstattung zu brechen, wird deutlich, dass er es bei seiner Untersuchung nicht bei der Auswertung bestehender Studien belassen hat. Ein großer Teil der verwendeten Daten des Autors stammt aus eigenen Erhebungen, Interviews oder Umfragen, die nicht nur zur wissenschaftlichen Qualität sondern auch zu Lesbarkeit des Buches beitragen. Denn die vielen eingestreuten Interviews mit Muslimbrüdern, Hizbullah-Anhängern oder eben Hamas-Vertretern lesen sich in der durchweg in nüchterner wissenschaftlicher Sprache geschriebenen Studie schon fast spannend.
Umso ärgerlicher sind darum einige argumentative Aussetzer, wenn Felsch ohne jede Not Antworten auf Fragen liefert, die er weder selbst noch mittels fremder Studien untersucht hat. So spricht Felsch von einem Plan zur »vollständigen Unabhängigkeit eines palästinensischen Nationalstaates« während der Osloer Verhandlungen oder bezeichnet den Einfluss des Irans auf die Hamas mal als »erheblich ausgebaut« und mal als »klein«, jeweils ohne irgendeinen Beleg zu liefern.
Teils fragwürdige Fallauswahl
Treten diese Ungenauigkeiten vorrangig in weniger bedeutsamen Randbereichen der Studie auf, so ist manch konzeptioneller Fehler weniger leicht zu verschmerzen. Schlichtweg unerklärlich ist es, warum er darauf verzichtet, die Regierungspolitik der Hamas nach ihrer Machtübernahme im Gazastreifen im Jahr 2007 zu untersuchen. Gerade hier ließen sich doch zahllose Fallbeispiele für den Beleg oder die Widerlegung seiner These finden. Stattdessen ersetzt er Empirie durch gemutmaßtes Allerweltswissen, wenn er beispielsweise die These von der »ideologischen Radikalisierung und Militarisierung der Hamas in Gaza seit Juni 2007«, allein mit der Suggestion belegt, dass diese »nicht zu verkennen« sei. Entscheiden einige Kapitel später hingegen die Nicht-Teilnahme der Hamas an einer Demonstration, das Verhalten gegenüber einer Flüchtlingslager-Miliz und die Organisation einer Massenhochzeitsfeier darüber, ob die Hamas im Libanon als pragmatisch zu bezeichnen ist oder nicht, so wirkt Felschs Fallauswahl in diesem Punkt bestenfalls willkürlich.
Ähnlich fahrlässig ist das Fehlen einer eindeutigen Arbeitsdefinition von Pragmatismus und Dogmatismus. So wertet Felsch zum Beispiel die Kooperation der Hamas mit Salafisten als Beleg für pragmatisches Handeln. Auch wenn seine Erklärung hierfür in sich schlüssig ist, stellt sich dem Leser trotzdem unweigerlich die Frage, welche Handlung man dann überhaupt noch als dogmatisch bezeichnen kann.
Ehrliche Analyse mit politischer Sprengkraft
Ist die Beschreibung des transnationalen Charakters der Hamas eines der Alleinstellungsmerkmale des Buches, so erlebt es hier auch seinen langweiligen Tiefpunkt. Nachdem der Leser im Kapitel über die Hamas in den besetzten Gebieten noch mit erhellenden Aha-Momenten überschwemmt wurde, hinterlassen viele Seiten des Kapitels über die Hamas im Exil den Eindruck von Platzfüllern. Felsch streckt hier das Buch mit einer in dieser Länge überflüssigen Mischung aus Palästinenser- und Länderkunde sowie Systemanalyse über das jordanische, libanesische und syrische Gastland. Da der Leser auch hier kaum Verweise auf zugrundeliegende Studien zu Gesicht bekommt, sind seine Ausführungen für eine ernsthafte Systemanalyse wiederum viel zu knapp.
Erwähnt werden muss allerdings, dass derartige Mängel in politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Dass der Hallesche Politikwissenschaftler trotz der Schwächen seiner Untersuchung bis zum Ende des Buches seine Glaubwürdigkeit nicht verliert, liegt auch daran, dass sich anhand ihrer kaum eine Voreingenommenheit des Autors bezüglich eines bestimmten Untersuchungsergebnis feststellen lässt.
Im Gegenteil: Felsch hält sich während der ganzen Untersuchung fast stoisch an sein wissenschaftliches Analyseschema. Anders als Joseph Croitoru, der jede Moscheegründung zum jihadistischen Akt umdeutet, verschont er den Leser mit verschwörungstheoretischen Mutmaßungen. Und anders als Helga Baumgarten gibt er dem Leser mit seiner streng an der »social movement theory« orientierten Argumentation keinen Anlass zu denken, dass hier bewusst ein positives Gegenmodell zur allgemeinen Hamas-Dämonisierung geschaffen werden soll.
Maximilians Felschs »Hamas: Eine pragmatische soziale Bewegung?« ist deshalb die ehrlichste und damit überzeugendste Analyse, die auf dem deutschsprachigen Hamas-Buchmarkt erhältlich ist. Trotz einiger Schwächen entkräften seine 250 Seiten den Mythos einer politisch wie territorial einseitig aufgestellten Bewegung. Stattdessen offenbaren sie ein transnationales Netzwerk, welches sich mit vielerlei kritischen Attributen beschreiben lässt, dessen Handlungen aber trotz allem rational fassbar sind. Genau hier liegt die eingangs erwartete politische Sprengkraft der Untersuchung. Denn mit einer Hamas der islamistischen Dogmen braucht man nicht zu verhandeln, mit einer Hamas des pragmatischen Kalküls muss man es.
Maximilian Felsch: Die Hamas: eine pragmatische soziale Bewegung?
Waxmann, Internationale Hochschulschriften, Band 256, 2011
256 Seiten, broschiert, 29,90 Euro
wir gratulieren unserem Alsharq-Autoren Maximilian Felsch zur erfolgreichen Promotion! Lest hier die Rezension seiner 2011 im Waxmann-Verlag erschienen Dissertation mit dem Titel »Die Hamas: eine pragmatische soziale Bewegung?«
»Radikalislamisch«, »extremistisch« und »terroristisch« sind einige der wenig schmeichelhaften Attribute, mit denen die palästinensische Hamas meist charakterisiert wird. Zu einer ganz anderen Einschätzung kommt hingegen Autor Maximilian Felsch. Laut ihm ist die » Bewegung des islamischen Widerstandes« vor allem eines – pragmatisch. Von Fabian Köhler
»Unerfreulich tendenziös« urteilte die taz. Von einer »spürbaren Sympathie« für die Hamas schrieb die Neue Zürcher Zeitung, während man sich in der Süddeutschen über die »Verteidigungsschrift« für die palästinensische Organisation echauffierte. Als die Professorin für Politikwissenschaft Helga Baumgarten vor sechs Jahren die erste deutschsprachige Abhandlung zur Hamas veröffentlichte, wurde deutlich, dass es sicherlich Untersuchungsthemen mit weniger Konfliktpotential als die palästinensische Hamas gibt.
Maximilian Felsch hat es mit seiner im November letzten Jahres veröffentlichten Studie trotzdem gewagt, sich des Themas anzunehmen. Für seine Dissertation reiste er nicht nur über ein Jahr durch den Nahen Osten, sondern traute sich damit auch wieder zurück nach Hause. Wenn er auf dem Cover seines Buches die Frage stellt »Die Hamas: eine pragmatische soziale Bewegung?«, dann darf sich der Leser also nicht nur auf einen der raren wissenschaftlichen Beiträge zur Diskussion um die Hamas, sondern auch auf allerlei politische Sprengkraft freuen.
Transnational statt palästinensisch
Auf den ersten Blick ist die Untersuchung des Dozenten an der Beiruter Haigazian-Universität ein umfassendes Überblickswerk über Handeln, Wirken und Motive der Hamas. Dies ist schon allein deshalb lobenswert, gibt der deutschsprachige Hamas-Buchmarkt neben Baumgartens »Hamas – Der politische Islam in Palästina« nur noch das 2010 neu aufgelegte »Hamas – Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat« von Joseph Croitoru her.
Ähnlich wie der Freiburger Journalist Croitoru und die in Ostjerusalem lebende Baumgarten, rekonstruiert Felsch die Herkunft der Hamas aus Muslimbruderschaft und Intifada, beleuchtet den Beginn der Selbstmordanschläge während der Osloer Jahre und fragt nach dem Wandlungsprozess, der mit und durch ihren Sieg bei den palästinensischen Kommunal- und Parlamentswahlen eintrat.
Die Hamas, die medial wie in der wissenschaftlichen Literatur oft nur als territorial eingedämmtes und politisch eindimensionales Phänomen stattfindet, wird vom Autor aus ihrer gazaischen Enklave gezerrt und als transnationaler Gemischtwarenhändler präsentiert. Felsch portraitiert die Hamas gleichzeitig als verbotene Organisation in Jordanien und als de-facto Vertretung der Palästinenser in Syrien, als um internationale Anerkennung bemühte Regierung in Gaza und als Anbieter von Hochzeitsfeiern im Libanon – und lässt so die Analysen von Baumgarten und Croitoru zuweilen wie uninspirierte Brockhaus-Einträge erscheinen.
Vom Jihadismus zum Realismus
Anders als seine Autoren-Kollegen belässt es Maximilian Felsch zudem nicht bei einer deskriptiven Hamas-Schau, sondern zwängt die Hamas in das politikwissenschaftliche Korsett einer sozialen Bewegung. Mit dem Ziel, ihr Verhalten nach dogmatischen oder eben pragmatischen Kalkülen zu durchleuchten, analysiert er das politische und soziale Umfeld der Hamas, fragt, wie die Hamas in diesem Umfeld Menschen mobilisiert und wie sie ihre Inhalte nach Außen und innerhalb der Bewegung kommuniziert.
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Hamas nicht um eine an islamistischen Dogmen ausgerichtete, unkalkulierbare Organisation fanatischer Extremisten handelt. Stattdessen stelle sie bis auf wenige »irrationale Ausnahmefälle« einen pragmatischen Akteur dar. Die Hamas wird bei Felsch zu einer Getriebenen ihrer Umstände, die in einem feindlichen Umfeld viel mehr mit dem Selbsterhalt beschäftigt ist als mit der Umsetzung jihadistischer Ziele.
Detaillierte empirische Studie mit Aussetzern
Die Belege, die Felsch für diese in manchen Ohren provokant klingende These anführt, können durchaus überzeugen. Da ist zum Beispiel das Regierungsprogramm, welches kaum noch ein Wort über den bewaffneten Widerstand gegen Israel, stattdessen umso mehr Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung enthält oder die konsensorientierte Organisationsstruktur der Bewegung, die mehr zum Überleben beiträgt als alle Qassam-Rakteten.
Wenn Felsch kenntnisreich über die Exil-Führung schreibt, die weniger darum bemüht ist, israelische Grenzbefestigungen als das israelische Meinungsmonopol in der Hamas-Berichterstattung zu brechen, wird deutlich, dass er es bei seiner Untersuchung nicht bei der Auswertung bestehender Studien belassen hat. Ein großer Teil der verwendeten Daten des Autors stammt aus eigenen Erhebungen, Interviews oder Umfragen, die nicht nur zur wissenschaftlichen Qualität sondern auch zu Lesbarkeit des Buches beitragen. Denn die vielen eingestreuten Interviews mit Muslimbrüdern, Hizbullah-Anhängern oder eben Hamas-Vertretern lesen sich in der durchweg in nüchterner wissenschaftlicher Sprache geschriebenen Studie schon fast spannend.
Umso ärgerlicher sind darum einige argumentative Aussetzer, wenn Felsch ohne jede Not Antworten auf Fragen liefert, die er weder selbst noch mittels fremder Studien untersucht hat. So spricht Felsch von einem Plan zur »vollständigen Unabhängigkeit eines palästinensischen Nationalstaates« während der Osloer Verhandlungen oder bezeichnet den Einfluss des Irans auf die Hamas mal als »erheblich ausgebaut« und mal als »klein«, jeweils ohne irgendeinen Beleg zu liefern.
Teils fragwürdige Fallauswahl
Treten diese Ungenauigkeiten vorrangig in weniger bedeutsamen Randbereichen der Studie auf, so ist manch konzeptioneller Fehler weniger leicht zu verschmerzen. Schlichtweg unerklärlich ist es, warum er darauf verzichtet, die Regierungspolitik der Hamas nach ihrer Machtübernahme im Gazastreifen im Jahr 2007 zu untersuchen. Gerade hier ließen sich doch zahllose Fallbeispiele für den Beleg oder die Widerlegung seiner These finden. Stattdessen ersetzt er Empirie durch gemutmaßtes Allerweltswissen, wenn er beispielsweise die These von der »ideologischen Radikalisierung und Militarisierung der Hamas in Gaza seit Juni 2007«, allein mit der Suggestion belegt, dass diese »nicht zu verkennen« sei. Entscheiden einige Kapitel später hingegen die Nicht-Teilnahme der Hamas an einer Demonstration, das Verhalten gegenüber einer Flüchtlingslager-Miliz und die Organisation einer Massenhochzeitsfeier darüber, ob die Hamas im Libanon als pragmatisch zu bezeichnen ist oder nicht, so wirkt Felschs Fallauswahl in diesem Punkt bestenfalls willkürlich.
Ähnlich fahrlässig ist das Fehlen einer eindeutigen Arbeitsdefinition von Pragmatismus und Dogmatismus. So wertet Felsch zum Beispiel die Kooperation der Hamas mit Salafisten als Beleg für pragmatisches Handeln. Auch wenn seine Erklärung hierfür in sich schlüssig ist, stellt sich dem Leser trotzdem unweigerlich die Frage, welche Handlung man dann überhaupt noch als dogmatisch bezeichnen kann.
Ehrliche Analyse mit politischer Sprengkraft
Ist die Beschreibung des transnationalen Charakters der Hamas eines der Alleinstellungsmerkmale des Buches, so erlebt es hier auch seinen langweiligen Tiefpunkt. Nachdem der Leser im Kapitel über die Hamas in den besetzten Gebieten noch mit erhellenden Aha-Momenten überschwemmt wurde, hinterlassen viele Seiten des Kapitels über die Hamas im Exil den Eindruck von Platzfüllern. Felsch streckt hier das Buch mit einer in dieser Länge überflüssigen Mischung aus Palästinenser- und Länderkunde sowie Systemanalyse über das jordanische, libanesische und syrische Gastland. Da der Leser auch hier kaum Verweise auf zugrundeliegende Studien zu Gesicht bekommt, sind seine Ausführungen für eine ernsthafte Systemanalyse wiederum viel zu knapp.
Erwähnt werden muss allerdings, dass derartige Mängel in politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Dass der Hallesche Politikwissenschaftler trotz der Schwächen seiner Untersuchung bis zum Ende des Buches seine Glaubwürdigkeit nicht verliert, liegt auch daran, dass sich anhand ihrer kaum eine Voreingenommenheit des Autors bezüglich eines bestimmten Untersuchungsergebnis feststellen lässt.
Im Gegenteil: Felsch hält sich während der ganzen Untersuchung fast stoisch an sein wissenschaftliches Analyseschema. Anders als Joseph Croitoru, der jede Moscheegründung zum jihadistischen Akt umdeutet, verschont er den Leser mit verschwörungstheoretischen Mutmaßungen. Und anders als Helga Baumgarten gibt er dem Leser mit seiner streng an der »social movement theory« orientierten Argumentation keinen Anlass zu denken, dass hier bewusst ein positives Gegenmodell zur allgemeinen Hamas-Dämonisierung geschaffen werden soll.
Maximilians Felschs »Hamas: Eine pragmatische soziale Bewegung?« ist deshalb die ehrlichste und damit überzeugendste Analyse, die auf dem deutschsprachigen Hamas-Buchmarkt erhältlich ist. Trotz einiger Schwächen entkräften seine 250 Seiten den Mythos einer politisch wie territorial einseitig aufgestellten Bewegung. Stattdessen offenbaren sie ein transnationales Netzwerk, welches sich mit vielerlei kritischen Attributen beschreiben lässt, dessen Handlungen aber trotz allem rational fassbar sind. Genau hier liegt die eingangs erwartete politische Sprengkraft der Untersuchung. Denn mit einer Hamas der islamistischen Dogmen braucht man nicht zu verhandeln, mit einer Hamas des pragmatischen Kalküls muss man es.
Maximilian Felsch: Die Hamas: eine pragmatische soziale Bewegung?
Waxmann, Internationale Hochschulschriften, Band 256, 2011
256 Seiten, broschiert, 29,90 Euro
3 Kommentare:
Eine interessante und erfreulicherweise durchaus kritische Rezension, die auf jeden Fall große Lust aufs Buch macht.
Ich würde mich über eine kurze Reaktion auf die genannten Kritikpunkte freuen.
Liebe(r) g.c.,
gern möchte ich kurz auf den Hauptkritikpunkt der Rezension eingehen: die „willkürliche Fallauswahl“. Die Fälle meiner Untersuchung sind die Hamas in den besetzten Gebieten, die Hamas in Jordanien, die Hamas im Libanon und die Hamas in Syrien. Die Fallauswahl habe ich im Einleitungskapitel meiner Arbeit genauer erläutert und begründet. Entscheidend für die Fallauswahl war die Existenz einer palästinensischen Bevölkerung (im Exil als Flüchtlingsgemeinschaft), die von verschiedenen palästinensischen Parteien „umworben“ werden. Auch die politische und räumliche Nähe zum Nahostkonflikt spielte eine Rolle. Sicherlich hätte man den Gazastreifen und das Westjordanland auch als getrennte Fälle untersuchen können. Ich habe beide Gebiete zusammen untersucht und dabei natürlich auch die Hamas im Gazastreifen beleuchtet. Dabei bin ich u.a. auf die militante Auseinandersetzung mit der Fatah-Organisation 2007, die 2009 initiierte „Tugendkampagne“ und ihre angespannte Beziehung zu lokalen Salafisten eingegangen. Evt. hätte die Regierungstätigkeit noch detaillierter untersucht werden können. Jedoch habe ich mich bei diesem Fallbeispiel auf Sekundärliteratur bezogen, die ich mit Interviews mit palästinensischen Politikern ergänzt habe, welche Alsharq-Autor Christoph Dinkelaker in den besetzten Gebieten Anfang 2011 geführt hatte. Eigene Datenerhebungen liegen nicht zugrunde.
Über die Hamas in den angrenzenden Ländern ist die Datenlage im Gegensatz zu den besetzten palästinensischen Gebieten sehr gering. Daher war ein längerer Forschungsaufenthalt dort notwendig. Natürlich konnten nicht alle Details bezüglich Organisation, Aktivitäten und Mobilisierungsmethoden aufgedeckt werden. Ich habe all jene Daten „verarbeitet“, die sich erheben ließen und die als gesichert gelten können. Besonders in Syrien gestaltete sich die Forschungsarbeit recht schwierig. Die Ergebnisse sind daher zum Teil als vorläufige Ergebnisse zu verstehen, die durch weitere Forschungsprojekte ergänzt und vertieft werden können. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass meine transnationale Analyse ein situationsangepasstes bzw. pragmatisches Verhaltensmuster der Hamas vor den Hintergrund ganz unterschiedlicher Rahmenbedingungen aufzeigen kann.
Zu den in der Rezension kritisierten „Aussetzern“ will ich nicht im Einzelnen eingehen; doch sicherlich hätte ich an einigen Stellen präziser argumentieren können bzw. müssen.
Herzlichen Dank für die schnelle und ausführliche Antwort.
Das Buch ist bestellt :-)
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