Freitag, 24. Dezember 2010

Wenn Christen und Muslime gemeinsam der Armut entfliehen - Zum 150-jährigen Bestehen der Schneller Schulen im Nahen Osten

Lieber Leserinnen und Leser,

die Schneller-Schulen im Nahen Osten feiern in diesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehen im Nahen Osten. Auch für Alsharq ein Grund zum Feiern, schließlich trug insbesondere die Schneller-Schule im Libanon bei einigen "Sharqisten" in nicht unerheblichem Maße dazu bei, dass sie sich bis heute eingehend mit Politik und Gesellschaft des Nahen Osten beschäftigen. Unser Reiseexperte Simon Welte und ich absolvierten unseren Zivildienst an der Schule, außerdem diente die Schule Robert Chatterjee und Christoph Sydow während der turbulenten Tage der sogenannten Zedernrevolution 2005 als Herberge.
Es folgt ein ausführlicher Artikel der freien Journalistin Katja Dorothea Buck zur bewegten Geschichte und zur gegenwärtigen Situation der Schneller-Schulen.

Von Katja Dorothea Buck
Seit 150 Jahren setzen sich die evangelischen Schneller-Schulen im Nahen Osten für Kinder aus armen Verhältnissen ein – egal ob sie Christen oder Muslime sind. Die Kinder bekommen nicht nur eine Schul- und Berufsausbildung, sie lernen gleichzeitig, dass Religion nicht trennen muss.
Donnerstagabend in der Johann-Ludwig-Schneller-Schule in Khirbet Kanafar (Bekaa-Ebene/Libanon): 130 Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 22 Jahren sitzen in der Kirche auf dem Schulgelände und hören die Geschichte von Abraham. Es ist die tägliche Abendandacht, mit der fast jeder Schultag zu Ende geht. Dass hier Christen und Muslime nebeneinander sitzen, gemeinsam Lieder singen und zusammen beten, ist an der Johann-Ludwig-Schneller-Schule eine Selbstverständlichkeit. An der christlichen Schule soll Religion nicht trennen. Die Gebete im Gottesdienst, vor dem Essen oder beim Zubettgehen werden so formuliert, dass auch Muslime sie mitsprechen können. Weihnachten und Ostern werden genauso gefeiert wie Ramadan und das Opferfest. Jeder soll die Religion des anderen kennen lernen und Respekt vor dem anderen Glauben bekommen – das ist das Konzept der Schneller-Schulen. Und das hat selbst im libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1989) funktioniert. Während sich im ganzen Land Christen und Muslime gegenseitig und untereinander bekriegten, herrschte in der Johann-Ludwig-Schneller-Schule in der südlichen Bekaa-Ebene ein friedliches Miteinander.
Die Johann-Ludwig-Schneller-Schule im Libanon / Foto: Martina Waiblinger
Die Glocken läuten zum Ende der Abendandacht. Für die meisten Schüler im Internat beginnt nun der Feierabend. Die Hausaufgaben sind gemacht, auf die Klassenarbeit am nächsten Tag ist gelernt. Nur im Mädchenwohnheim ist noch was los. Iman* wird heute zwölf Jahre alt. Nach Torte und Ständchen wollen die Mädchen tanzen. „Miss Rima, dürfen wir die DVD von Shakira anschauen?“, fragt Leila (13). Rima Duaibis, die Erzieherin, lässt sich nicht lange bitten und neun halbwüchsige Mädchen schauen gebannt zu, wie Shakira, die weltberühmte Popsängerin aus Kolumbien, zu einem ihrer Hits tanzt. Nicht nur die Choreographie ist ein Hingucker, auch das Outfit der Sängerin – eine sehr enge Hose und ein mit Pailletten besetzter Sport-BH – fasziniert die Mädchen. Einige versuchen, wie die Pop-Ikone zu tanzen, andere zögern, wissen nicht genau, ob sie sich so aufreizend bewegen dürfen. Schnell beginnt eine Diskussion. Yasmin (12) findet es schrecklich, so dürfe man als Frau doch nicht tanzen. Lina (14) dagegen meint, es sei toll, was Shakira alles erreicht habe. Schließlich habe sie ja auch libanesische Wurzeln. Iman, Leila und die anderen fünf wissen nicht so recht, was sie davon halten sollen. Irgendwann macht Rima Duaibis den Fernseher aus und fragt, wer mit ihr Dabke tanzen wolle. Alle wollen und begeistert tanzen die neun Mädchen mit ihrer Erzieherin den libanesischen Volkstanz, bis alle schwitzen. Dann heißt es, ab ins Bad und danach in die Betten. Immer drei Mädchen teilen sich ein Schlafzimmer. Am nächsten Tag werden sie um kurz vor sechs aufstehen müssen, um noch vor Schulbeginn ihre Sachen fürs Wochenende zu packen. Direkt nach Schulschluss um drei Uhr werden alle Kinder des Internats nach Hause zu ihren Eltern oder Verwandten fahren – und in eine andere Welt eintauchen.

Seit 2002 nimmt die Johann-Ludwig-Schneller-Schule Mädchen auf. Mittlerweile sind es 27, die in drei Wohngruppen leben. Die Schule dürfte damit eine der wenigen, wenn nicht die einzige Einrichtung im Libanon sein, in der Jungen und Mädchen zusammenwohnen. Auch wenn sich der Libanon gerne offen und modern nach außen hin vermarktet, in weiten Teilen der Gesellschaft herrschen noch traditionelle Moralvorstellungen.
Wie die meisten Jungen im Internat der Johann-Ludwig-Schneller-Schule haben auch die Mädchen einen schweren familiären Hintergrund. Sie kommen aus sehr armen, oft auch traurigen Verhältnissen. Lina hat vor acht Jahren ihre Mutter verloren, Leila vor sechs. Hanna und Julieta, beide zwölf Jahre alt, sind Scheidungskinder. Für sie war kein Platz mehr in den neuen Familien ihrer Väter und Mütter. Sie waren auf einmal unerwünscht. Und Hanadi (15) weiß nicht einmal, wo ihre Mutter ist. Eines Tages war sie einfach weg und hatte Hanadi und ihre Geschwister im Stich gelassen. Armut kann viele Fassetten haben. „Manchmal ist es leichter Kindern zu erklären, dass ihre Eltern tot sind, als ihnen zu erklären, dass die eigenen Eltern sich nicht mehr um sie kümmern wollen oder können“, sagt George Haddad, der Direktor der Einrichtung. „In der Schneller-Schule sollen die Kinder erfahren, dass sie willkommen sind, dass man sich um sie sorgt und dass man an sie glaubt.“

Iman, das Geburtstagskind vom Vortag, kommt aus einer intakten, aber sehr armen Familie. Sie hat einen langen Heimweg und muss verschiedene Sammeltaxis nehmen. Die Familie wohnt in einem kleinen Häuschen irgendwo in der Bekaa-Ebene. Imans Fahrtkosten von der Schule nach Hause und wieder zurück belasten das Familienbudget extrem. Die achtköpfige Familie muss mit 500.000 Libanesischen Pfund (= 230 Euro) im Monat auskommen. Das ist alles, was die Landwirtschaft und die wenigen Kühe an Ertrag bringen. Da sind die 32.000 Pfund (= 14 Euro), die Iman im Monat an Fahrgeld braucht, ein stolzer Betrag.
Die Familie lebt in zwei Zimmern. Ein Badezimmer sucht man vergebens. Auch Tisch und Stühle fehlen. An den Wänden der beiden Zimmer reihen sich Matratzen und Sofas. Das ist alles. Nur eines der beiden Zimmer wird von einem Ölofen beheizt. Hier findet sich nach Sonnenuntergang die ganze Familie ein. Auch die Katzen drängen von draußen in die Wärme. An Herbstabenden kann es in der Bekaa-Ebene bereits empfindlich kalt werden. Iman sitzt neben ihrer Mutter, schmiegt sich an sie. Ob sie gerne zu Hause sei. Iman zögert. Sie mag ihre Mutter, aber sie ist auch gerne an der Schneller-Schule. „Dort sind meine Freundinnen.“ Ob sie hier denn keine Freundin habe? „Nur eine, aber die wohne sehr weit weg“, sagt Iman. Wenn sie zu Hause sei, gehe sie in den Feldern spazieren, spiele mit der kleinen Schwester oder mit den Katzen. Und Spielzeug? „Wir haben eine Puppe, ein Puzzle und einen Teddybär“, zählt sie auf. 
Die Mutter freut sich, dass Iman an der Schneller-Schule ist. Sie wisse, dass sie dort eine gute Schulbildung bekomme. Dass es eine christliche Einrichtung ist, störe sie nicht. Ihre beiden erwachsenen Söhne waren früher ja selbst auf der Schneller-Schule und seien nach wie vor gute Muslime. Seit ihrem siebten Lebensjahr geht Iman in die Schneller-Schule, sie will nicht an eine andere Schule. Sie fühlt sich dort wohl. „Das Mädchen ist fleißig und diszipliniert“, sagt ihre Erzieherin Rima Duaibis. Ihre Hausaufgaben mache Iman sehr selbständig, helfe manchmal auch einer Freundin, wenn diese mal nicht weiterkomme. Weder Imans Vater noch ihre Mutter könnten ihr bei den Schulaufgaben helfen, und die Mutter weiß das. „Ich wünsche mir, dass meine Kinder einmal nicht so arbeiten müssen wie wir“, sagt sie.

Iman träumt indes von einem anderen Leben und hat auch schon Pläne für die Zukunft. „Ich möchte Astronautin werden“, sagt sie und lässt sich von dem ungläubigen Lächeln ihres Gegenübers nicht beirren. Ja, sie wolle neue Welten entdecken. Ein Wunsch, der vielleicht in der Johann-Ludwig-Schneller-Schule gewachsen ist. Schließlich pendelt Iman schon seit einigen Jahren zwischen zwei Welten und hat erfahren, dass sich dadurch neue Horizonte öffnen können.

Vor 150 Jahren legte Johann Ludwig Schneller in Jerusalem der Grundstein für diese Arbeit. Der schwäbische Lehrer war zusammen mit seiner Frau nach Palästina gekommen, um dort Missionsarbeit zu leisten. Als 1860 im heutigen Libanon blutige Unruhen zwischen Christen und Drusen ausbrachen, machte Schneller sich auf den Weg dorthin und holte neun Waisenkinder zu sich nach Jerusalem – der Beginn des Syrischen Waisenhauses. Bereits ein Jahr später lebten mehr als 40 Kinder in Schnellers Obhut. Die Einrichtung sollte in den kommenden Jahrzehnten zur größten diakonischen Einrichtung in der Region werden. Zeitweise betreute das Syrische Waisenhaus mehr als 400 Kinder. Sie kamen gleichermaßen aus muslimischen und christlichen Familien.

Das Syrusche Waisenhaus in Jerusalem / Foto: Landeskirchliches Archiv Stuttgart
Vom reinen Missionsgedanken verabschiedete sich Schneller bald. Er spürte, dass die muslimischen Familien ihm die Waisenkinder aus der Verwandtschaft nicht anvertraut hätten, wenn sie Gefahr gelaufen wären, vom Glauben abzufallen. Doch Schneller ging es in erster Linie darum, Waisenkindern eine Zukunftsperspektive zu geben. Deswegen setzte er sich von Anfang an dafür ein, dass die Kinder nach einer guten Schulausbildung einen Beruf lernen konnten und somit dem Teufelskreis der Armut entrinnen konnten. „Damit sie in Ehren ihr Brot essen“, war sein Motto. Das Syrische Waisenhaus entwickelte sich im Laufe der Zeit zur größten Berufsschule der Region. In den Werkstätten der Einrichtung wurden Schreiner, Schlosser, Töpfer, Schneider, Schuster und Drucker ausgebildet. Die Handwerker aus dem Syrischen Waisenhaus hatten einen so guten Ruf, dass das Wort „Schnelleri“ im palästinensischen Dialekt gleichbedeutend für einen akkurat arbeitenden und pünktlichen Handwerker wurde.

Mit Kriegsbeginn 1939 wurde das Syrische Waisenhaus von der britischen Mandatsmacht geschlossen. Die Rolle der Schnellers während der NSDAP-Herrschaft war ambivalent. Während Familienmitglieder in Palästina leitende Funktionen innerhalb der Jerusalemer NSDAP-Ortsgruppe innehatten, engagierte sich der Leiter der Heimatarbeit in Deutschland, Ludwig Schneller, in der Bekennenden Kirche, weshalb er von der Gestapo überwacht wurde.
Mit der Gründung des Staates Israel 1948 wurde das Syrische Waisenhaus schließlich enteignet. In die Gebäude auf dem Gelände zog israelisches Militär ein und blieb dort bis Anfang 2009, bis die Stadt Jerusalem das Anwesen an einen Privatinvestor verkaufte, der dort nun Wohnungen bauen will. Doch in Israel/Palästina hatte die Schneller-Arbeit längst aufgehört. 

Im Libanon und in Jordanien war sie nach 1948 aber weitergegangen. Mit der geringen Entschädigungssumme (etwa zehn Prozent des eigentlichen Wertes der Immobilien) bauten ehemalige Mitarbeitende um Hermann und Ernst Schneller, beide Enkel von Johann Ludwig Schneller, 1952 im Libanon die Johann-Ludwig-Schneller-Schule und 1959 in Amman die Theodor-Schneller-Schule auf.
Die Schneller-Schule in Jordanien / Foto: Katja Buck

Im dortigen Internat leben heute rund 130 Jungen und Mädchen. Die drei Brüder Mustafa (14), Hamid (12) und Rami (10) sind dort schon seit vielen Jahren. Ihren Vater haben sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. „Er will von ihnen nichts mehr wissen“, sagt Umm Mustafa, die Mutter der drei Jungen. Sie hat sich vor sechs Jahren scheiden lassen – für jordanische Verhältnisse sehr ungewöhnlich. Normalerweise verstößt der Mann seine Frau und nicht umgekehrt. Aber Umm Mustafa hatte ihre Gründe und die wurden – wenigstens vor Gericht – anerkannt. Nicht aber von der Gesellschaft. Die 36-Jährige muss mit dem Ruf leben, eine Hure zu sein. Und schuld daran ist ihr Mann.

Mustafa zögert, als Yassin Masri, sein Erzieher an der Schneller-Schule, ihn fragt, ob er mit dem Besuch aus Deutschland zu seiner Mutter fahren wolle. Der 14-Jährige ist ein verschlossener Junge. Auf der Fahrt nach Hause antwortet er nur einsilbig. Die Freude über das Wiedersehen mit seiner Mutter ist verhalten. Er wirkt unsicher. Die Mutter freut sich, ihren Ältesten zu sehen und streicht ihm schnell über den Kopf. Umm Mustafa ist nach ihrer Scheidung in ein Außenviertel von Amman gezogen. Sie lebt in einer Kellerwohnung. Nur eines der drei Zimmer ist spärlich mit Bett, Tisch und einigen Matratzen an der Wand eingerichtet. Die anderen beiden Zimmer stehen leer. Bis auf eine Neonröhre im Schlafzimmer und eine in der Küche ist es dunkel in der Wohnung. Das Geld reicht nicht für mehr Lampen. Und durch die Fenster dringt kein Tageslicht. Überall hängen dicke Vorhänge und die Scheiben sind mit dunkler Farbe zugestrichen. Umm Mustafa will nicht, dass irgendjemand reinschauen kann. Lieber sitze sie den ganzen Tag im Dunkeln. Zu den Nachbarn habe sie keinen Kontakt. „Ich will nicht, dass man über mich redet“, sagt sie, während Mustafa still auf einer Matratze an der Wand sitzt und vor sich hinstarrt. Als die Mutter auf den Vater zu sprechen kommt, schaut sie ihren Sohn kurz an und fordert ihn dann freundlich auf, doch bitte zum Spielen auf die Straße zu gehen. Der Junge soll nicht hören, was sie zu erzählen hat. Dabei kennt er die Geschichte nur zu gut.

Umm Mustafas Körper ist übersät von Narben, die ihr Mann ihr zugefügt hat. Bei den vielen Streitereien sei es immer um Geld und um die Ehre gegangen. „Er war spielsüchtig“, sagt sie. Als er seine Spielschulden nicht mehr zahlen konnte, habe er seine Frau als „Gegenleistung“ angeboten. Die Frau mit den feinen Gesichtszügen erzählt sehr schnell, bleibt im Tonfall aber sachlich. Sie habe sich gegen ihren Mann und dessen Spielkumpanen gewehrt und verbarrikadiert. Leider vergeblich. „Die Kinder haben alles mitbekommen“, sagt sie ernst. Doch selbst nach diesem Vorfall war das Maß noch nicht voll. Kurz darauf habe ihr Mann angefangen, sie in aller Öffentlichkeit als Hure zu beschimpfen. Bevor er sie offiziell verstoßen konnte, hatte sie die Scheidung eingereicht. Doch ihr Ruf war dahin. „Selbst meine eigene Familie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben“, erzählt sie. Man habe den Worten des Mannes mehr geglaubt als der eigenen Tochter.

Umm Mustafa hat niemanden, der ihr hilft. Sie hat kaum genug Geld, um allein über die Runden zu kommen. Ab und zu arbeite sie als Aushilfe in einem Laden, sagt sie. Monatlich habe sie etwa 140 Jordanische Dinar (= 140 Euro) zur Verfügung. „Allein 105 Dinar kostet die Miete“, rechnet sie vor. Sie sei froh, dass ihre drei Söhne auf der Schneller-Schule seien. „Dort können die Kinder sich wenigstens satt essen“, fügt sie schnell dazu. Yassin Masri, der Erzieher, erzählt hinterher, dass die drei Brüder oft ganz ausgehungert seien, wenn sie nach einem Wochenende wieder an die Schule kämen. „Zuhause bekommen sie nur sehr wenig zu essen. Manchmal gar nichts“, sagt er. Das sei ein Grund, warum sie nur sehr selten zu ihrer Mutter in die dunkle Kellerwohnung fahren würden. Die meisten Wochenenden und auch die Ferien verbrächten die Jungen an der Schule.

Kinder in der Theodor-Schneller-Schule in Amman / Foto: Martina Waiblinger
Für Mustafa, Hamid und Rami ist es existenziell, an der Schneller-Schule zu leben. Nicht nur, weil sie dort täglich ausreichend und gut zu essen bekommen. In den Wohngruppen haben sie einen strukturierten Alltag und erfahren, dass sie unabhängig von ihrer Herkunft angenommen sind. Sie haben die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen Jungen. Jeder hat seinen Platz am Tisch, sein Bett, seine Schrankfächer. Jeder muss beim Putzen, Tischdecken und Spülen mithelfen. Und auf jeden haben die Erzieherinnen und Erzieher ein wachsames Auge. „Kein Kind darf verloren gehen“, sagt Musa Al-Munaizel, der pädagogische Berater der Schneller-Schulen und fasst damit das Motto der beiden Schulen zusammen. „Wir tun alles, damit jedes Kind, egal welche Probleme es mitbringt, eine Zukunft hat und später in Würde leben kann.“

In der Schneller-Schule in Amman / Foto: Martina Waiblinger
Die meisten Kinder, die aus derart desolaten Verhältnissen kommen, brauchen professionelle Hilfe, um mit dem eigenen Leben klarzukommen. Mustafa, Hamid und Rami sind verhaltensauffällig. Der Älteste ist extrem verschlossen, Hamid neigt zu Aggressionen und der Jüngste, Rami, hat Mühe, sich auf etwas zu konzentrieren. Gerade für solche Kinder hat die Schneller-Schule eine Schulpsychologin angestellt. Spielerisch, beim Basteln oder in Gesprächen versucht sie, zu den schmerzhaften Punkten in den Seelen der Kinder vorzustoßen und sie mit ihnen zu bearbeiten. Die drei Jungen lernen bei ihr, über ihre Gefühle zu sprechen, auch über die Gefühle, die sie ihrer Mutter gegenüber haben. Sie wissen nur zu gut, was über sie geredet wird. „Es ist wichtig, dass die Jungen hören, dass ihre Mutter unverschuldet in diese Situation gelangt ist“, sagt Musa Al-Munaizel. Alle Mitarbeitenden in der Schule seien deswegen angehalten, Umm Mustafa wie jede andere Frau mit Respekt zu behandeln. „Wir müssen den Kindern ein Vorbild sein.“

Der Umgang mit seelischen Problemen ist das eine. Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen, haben aber oft auch in der Schule Schwierigkeiten. An der Schneller-Schule wurde deswegen extra ein Lehrer eingestellt, der lernschwachen Schülern Nachhilfe gibt. Und die Volontäre aus Deutschland, die ein freiwilliges soziales Jahr oder ihren Zivildienst an der Schule machen, helfen unter anderem bei den Hausaufgaben oder lernen mit den Kindern und Jugendlichen in Fächern wie Englisch oder Mathematik. Der Abschluss nach der zehnten Klasse ist wichtig. Er ist die Zulassung für eine anschließende Handwerksausbildung. Auch wer den Abschluss trotz aller Hilfsangebote nicht schafft, bekommt noch eine Chance. Die Theodor-Schneller-Schule bietet seit einigen Jahren für lernschwache Jugendliche längere Praktika in den Werkstätten an, wo sie die Grundregeln und -techniken des jeweiligen Handwerks erlernen, um sich dann mit einem Begleitschreiben von der Schneller-Schule als Hilfsarbeiter auf dem freien Markt bewerben zu können. „Das ist zwar kein offiziell anerkanntes Zeugnis, aber wir haben damit gute Erfahrungen gemacht“, sagt Musa Al-Munaizel. Der Name Schneller habe nach wie vor einen sehr guten Ruf. „Junge Männer mit einer solchen Referenz werden gerne genommen und verdienen auch ein wenig mehr, als ungelernte Kräfte.“

Welchen Weg Mustafa, Hamid und Rami einmal einschlagen werden, ist noch nicht klar. Ihre Mutter wünscht sich nichts mehr, als dass ihre Söhne an der Schneller-Schule eine Lehre absolvieren. „Dann können sie als gemachte Männer zu meiner Familie gehen und sagen: ‚Unsere Mutter ist eine gute Frau. Schaut her, was aus uns geworden ist.‘“ Bleibt zu hoffen, dass dieser Wunsch einmal in Erfüllung geht. Für Mustafa, Hamid und Rami kann er auch zu einer schweren Bürde werden. Vielleicht ermutigt sie aber das Beispiel der vielen ehemaligen Schneller-Schüler, die auch aus sehr schwierigen Verhältnissen kamen. Heute verdienen sie ihr Brot als Schreiner, Schlosser, KFZ-Mechaniker oder haben in anderen Branchen ihr Auskommen gefunden. Sie sind geachtete Mitglieder der jordanischen Gesellschaft geworden. 

*Die Namen der Kinder, Eltern und Erzieher wurden geändert.

Keine Kommentare: