die Filmemacherin Yulia Lokshina arbeitet momentan an einer Dokumentation über die größte jüdische Minderheit innerhalb Israels, den russischprachigen Einwanderern. Durch massive Zuwanderungswellen, ausgelöst durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, ist ihr Anteil an der gesamten israelischen Bevölkerung auf etwa 15 Prozent gestiegen. Unter anderem zeichnen sich die russischsprachigen Juden in Israel durch einen vergleichsweise sehr hohen Bildungsgrad aus - ihr Einfluss auf die israelische Ökonomie und Wissenschaft, aber etwa auch auf die Kunstszene ist dementsprechend groß.
Gleichwohl hat sich die Minderheit ihre partikulare Identität innerhalb der jüdischen Gesellschaft Israels bewahrt. Weiterhin wird untereinander auf Russisch kommunziert. Darüber hinaus rezipiert die Minderheit größtenteils russischsprachige Medien, organisiert sich in russischsprachigen Interessensverbänden und wählt nicht zuletzt Parteien, die hauptsächlich von russischsprachigen Einwanderern repräsentiert werden. Prominentestes Beispiel ist die an der Regierung beteiligte säkular-konservative Partei "Jisrael Beitenu", deren schillernde Führungsfigur Avigdor Liebermann 1978 aus Moldawien einwanderte.
Bei ihren Recherchen trifft Yulia auf Charaktere, deren Lebenswege hätten kaum unterschiedlicher verlaufen können. Ihre Eindrücke verarbeitet und teilt sie auf literarische Weise mit ihren Lesern auf ihrem Blog zuhause projekt. Auf Alsharq schreibt sie über einen Abend mit dem russischsprachigen Dichter Michail Ziv.
Hо землю, Doch das Land
с которою mit dem du
вместе мерз, gemeinsam frorst,вовек für ewig
разлюбить нельзя. nicht aufhörst zu lieben.
Der Wind klopft ein wenig gegen die gewellten Plastikplatten und zieht an einigen daran aufgehängten Tüchern. Anders als das Meer, riecht der Balkon nach Chlorwasser. So gehen die Weinflecken aus dem weißen Plastiktisch schneller raus. Ich war bereits vor einigen Stunden hier, kurz nach Mittag. Wir beide haben gegenseitig voneinander gehört, aber ein Kennenlernen ließ einige Wochen auf sich warten. Die Zettel an der Tür gegenüber des Sperrmüllhaufens auf dem Dach in der Allenby Street lachen über die Besucher: „Institut für Wohlriechkultur“, „Labor des gleichmäßigen Liegens“… Ein Klopfen, ein Rauschen, und langsam öffnet sich ein dunkler Spalt. „Einen Moment… Ich ziehe mir etwas an...“ Er steht inmitten seines schattenhaften Zimmers, in Hose und Hemd, und wirkt dennoch kaum angezogen. Verhalten und unbeholfen schiebt er seine langen Haare zurück, die in sein zerfurchtes, angefärbtes Gesicht fallen und seine Brauen ziehen sich in einem kindlichen Murren zur Nase. „Was halten Sie davon, wenn wir uns am Abend sehen? Ich bin etwas ungewaschen und ungekämmt… Frischer mache ich mehr Spaß.“
Gegen neun Uhr ist es schon Nacht und rotes Licht legt sich über den Balkon. Rund um den weißen Tisch stehen ein aufgesprungener, unbequemer Kunstlederstuhl, viele mit Klebeband vermummte, in Stoff und Plastik eingewickelte Schränke und Kisten. An der Wand zum Zimmer steht ein Sessel, mindestens so alt wie sein Besitzer. Michail, Herr Ziv, wühlt seinen Körper vorsichtig in die Polster hinein. Ohne sich umzudrehen verschwindet seine Hand hinter den Kissen an seinem Rücken und kommt nach kurzem tasten mit einer Flasche Rotwein wieder hervor. „Mögen Sie Roten? Er ist nicht besonders gut, aber zum Anstoßen reicht er.“ Neben ihm, auf einem Beistellkasten steht ein umgedrehtes Porträt – „an einen guten Freund und Dichter“. „Kann ich es sehen?“ „Sicher, aber ich mag es nicht. Das bin ich nicht.“ Auf dem dunkelgrünen Hintergrund thront ein adlerhafter Kopf mit blondem Haar, spitzer langer, schnabelartiger Nase und finsterem Blick. „Er sieht böse und dümmlich aus. Ich bin es nicht.“ Im winzigen, mit Büchern gefüllten Zimmer, wo man sich stets an etwas vorbei hindurchwalzen muss, hängen noch viele andere. Blumenvasen, Farbenspiele, Gesichter. Reihen- und Stapelweise Ausgaben des Jerusalemer Journals und russischsprachiger Gedichtbände. „Die drucken mich hin und wieder.“
Nach der Schule wollte Michail Zuhause in St. Petersburg russische Philologie und Literatur studieren. Als er es nicht durfte – „Mit dem Nachnamen in die russische Fakultät?!“ – schrieb er sich für Chemie ein. Man erinnerte sich noch gut an seinen Vater, David Iosefovich Ziv, einen großen sowjetischen Radiochemiker, der an der Entwicklung und Testversuchen an der ersten Bombe und Gewinnung von Polonium beteiligt war. Eine Leninprämie hing an der Familie, hier war der Nachname kein Problem mehr. Aber die Teilchen und Atomverbindungen nahmen zu viel Platz ein, sodass zum Schreiben nichts mehr übrig war. „ Natürlich trauerte Mutter, Vater war enttäuscht. Es hieß immer, es sei unmöglich, dass jemand in der Familie keinen Hochschulabschluss besitzt. Aber es hat sich herausgestellt, dass ich zwar ein schlechter Radiochemiker, aber doch ein ziemlich guter Umschlagarbeiter und Busfahrer bin.“
In der Zeit des 6-Tage-Kriegs, als der Vater in seinem Leningrader Bett im Sterben lag, träumte er von Israel und litt. Michael träumte nicht davon und litt auch aus anderen Gründen, aber in der unteren Ecke der Windschutzscheibe seines Busses klebte ein Magen David. „‘Mischka, der Zionist‘ nannten sie mich“, lacht er und zündet sich mit leicht unsicherer Hand eine Zigarette an. Nach dem „Nichtsystem“ der Kommunisten, der Tschechoslowakei, und Regalen voll von ‚Samizdat‘, also nicht systemkonformer Literatur, bedeutete der Zion für Mischka eine neue Freiheit. Ausland. Geldverdienen, neues Leben. Am Anfang bemühte er sich um die neue Sprache, aber als nach einigen Monaten der Absorptionskorb ausgeschöpft war, lernte er statt Hebräisch Tellerwaschen. „Man sagt von den Migranten, die ersten drei Jahre seien so etwas wie Entzugszeit. Danach soll es einfacher werden. Bei mir dauerte es etwas länger.“ Der Kopf und das Herz gewöhnten sich langsam an den neuen Boden, die Hand lernte schneller. Kreditkarten, Ratenzahlung, neues Konto, neue Kreditkarte. „Teuflische Prozente haben die hier“. Heute ist sein Konto gesperrt. Das Land kann er nicht verlassen.
Von einigen Wochen hat Michael Ziv für seine Dichtung den Jurij-Stern-Preis bekommen. Von dem Preisgeld könnte er über ein ganzes Jahr lang seine Miete bezahlen. Aber die Prozente gehen vor. „Weißt du, warum in Russland so viel getrunken wird? Aus Armut. Nichts zu verlieren. Trink, trink, es wird eh nichts bleiben.“ Natürlich zieht es ihn zurück, es geht gar nicht anders. „Es gab doch diese Zeilen von Majakowski… Wie war das nochmal? ‚Doch das Land mit dem du gemeinsam frorst, das kannst du niemals eintauschen…‘ Oder so ähnlich… “ Aber irgendwie, leise und unbemerkt, ist Israel auch etwas Eigenes geworden, etwas Heimisches. Etwas wo und wofür man lebt. Und dessen Werte und Vorstellungen man annimmt. „In der Sowjetunion waren wir alle Linke, gebadet in der Internationalen. Und hier sind wir allesamt nach rechts gerückt.“ Auch Zuhause habe man hin und wieder den kaukasischen Marktverkäufer „Schwarzgesicht“ genannt, aber das sei etwas anderes gewesen. Auf eine alltägliche, nachbarschaftliche Art, „Mädchen aus Taschkent haben wir nicht vergewaltigt.“
Heute, hier, ist es anders. „Wir unterschieden nicht nach nationalistischen Kriterien, wir haben ein Problem mit den Arabern nicht als Nation, sondern als Feind. Wir können mit ihnen keine Einigkeit finden. Im Gegensatz zu uns ist deren heutige Generation mit Hass groß geworden. Nationaler Hass ist, wenn mir die Haarfarbe nicht gefällt. Bei uns ist es etwas anderes. Sie wollen nicht bauen, sondern kämpfen. Gaunerisch und lüstern.“
Die Flasche Rotwein ist lange leer, die zweite atmet und kämpft noch mit dem Chlor. Michail erzählt von Pilzen und Wald, dem tiefen russischen. „Hier gibt es nur Palmen. Weißt du wie ein Wald wächst? Zuerst gibt es schwarzen Sumpf, darauf wächst irgendwann das Moos. Und dann, eines Tages, treibt der erste menschliche Baum, die Kiefer. Die Kiefer verdrängt die Tanne. Und dann wird alles wieder Sumpf.“
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