Dienstag, 20. September 2011

Slim Amamou: "Ein Tunesien, das weniger frei ist als der Westen, wäre der Worst Case"

Slim Amamou ist einer der bekanntesten tunesischen Blogger und Internetaktivisten. Schon zu Zeiten des Ben Ali-Regimes kämpfte er gegen Internetzensur und die staatliche Gängelung der Jugend. Im Zuge der Proteste gegen die Diktatur wurde Amamou im Januar dieses Jahres verhaftet. Am 17. Januar, drei Tage nach Ben Alis Sturz, wurde er im Rahmen eine Generalamnestie für politische Gefangene freigelassen. Von der Gefängniszelle wechselte der 34-Jährige nahtlos auf die Regierungsbank. Er wurde als Staatsekretär für Jugend und Sport Mitglied der tunesischen Interimsregierung – ein Amt, das er im Mai wieder aufgab.

Für sein Engagement wurde Amamou am gestrigen Montag in Berlin mit dem Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet. Alsharq hatte zuvor im Rahmen eines Pressegesprächs die Gelegenheit, mit Slim Amamou zu sprechen. Ein Interview mit der Schwester des zweiten Preisträgers, dem von der ägyptischen Polizei getöteten Khaled Said, folgt in den nächsten Tagen.

Du bist am 17. Januar 2011 zum tunesischen Staatssekretär für Jugend und Sport ernannt worden und wurdest Teil der Übergangsregierung von Mohamed Ghannouchi. Warum hast du das damals gemacht und wie haben deine Freunde reagiert? 

 Ich hielt diesen Schritt für wichtig, weil damals niemand Vertrauen in die Regierung besaß. Viele meiner Freunde zeigten sich enttäuscht und warfen mir vor, die Revolution zu verraten. Die Regierung sollte die ersten freien Wahlen nach Ben Alis Sturz vorbereiten und dabei wollte ich mitreden. Später wurde eine Wahlkommission gebildet, die mit der Organisation der Wahlen betraut ist. Die Regierung spielt als keine Rolle mehr bei der Vorbereitung der Wahlen, was auch richtig so ist, deshalb bin ich im Mai zurückgetreten. Ein weiterer Punkt war, dass es Mitgliedern der Interimsregierung verboten ist, bei den Wahlen zu kandidieren oder andere Bewerber zu unterstützen.


Willst du denn für einen Parlamentssitz kandidieren? 

 Nein, das wohl nicht, aber ich möchte unabhängige Kandidaten unterstützen. Ich halte es für sehr wichtig, dass unabhängige Leute ins Parlament einziehen und an der Formulierung einer neuen Verfassung mitwirken. Die Parteien wollen die künftige Verfassung nach ihren Wünschen formen. Das ist nicht gut, deshalb unterstütze ich unabhängige Bewerber.

 Warst du überrascht, dass Tunesien das erste arabische Land war, in dem das Volk sich erhob? 

 Ja. Ich hatte erwartet, dass die Ägypter zuerst aufbegehren würden. Selbst die Leute, die am 14. Januar - dem Tag an dem Ben Ali fliehen musste – in Tunis auf der Straße waren erzählten mir später, dass sie das alles überhaupt nicht fassen konnten. Ich selbst saß ja zu dem Zeitpunkt leider im Gefängnis. Aber natürlich wusste man, dass die Unzufriedenheit im Volk riesig war und es war klar, dass die Revolution irgendwann einfach passieren würde. Deshalb waren die Ereignisse in Tunesien zwar eine Überraschung, aber sicher kein Zufall.

Und das alles nur, weil sich in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi selbst in Brand setzte und so ein Fanal schuf. 

 Bouazizis Tat war in vielerlei Hinsicht der Funke, der die Revolution entfachte, ähnlich wie der Mord an Khaled Said in Ägypten. Aber es gibt hunderte oder tausende anderer, deren Namen niemand kennt und die vielleicht noch viel mehr leisteten.

Weshalb warst du damals eigentlich im Gefängnis? 

 Es gab eine Anonymous-Attacke gegen Internetseiten der damaligen Regierung und mir wurde vorgeworfen, dass ich irgendwie dahinterstecken würde, weil ich Kontakte zu Leuten aus diesem Bereich hatte. Über Anonymous haben übrigens auch Deutsche eine aktive Rolle bei der Revolution gespielt. Allein dadurch, dass sie sich mit unseren Zielen identifizierten und die tunesischen Regierungsserver angriffen.

Wie bewertest du die Rolle des Militärs während und nach der Revolution? 

Das Militär hat während der Revolution im Volk eine gewisse Popularität gewonnen, weil die Armee ein größeres Blutvergießen verhindert hat und Spezialkräfte der Armee Angehörige der Präsidentenfamilie festgenommen haben. Das Militär war in Tunesien jedoch nie so mächtig wie etwa in Ägypten. So gibt es etwa eine traditionelle Rivalität zwischen der Armee und den Sicherheitskräften des Innenministeriums, die unter Ben Ali gefördert wurden. Jetzt, nach der Revolution, will das Militär mehr Macht. Aber es gibt einen Konsens darüber, dass das Innenministerium nicht in die Hände der Armeeführung geraten darf. Außerdem hat der Druck der Zivilgesellschaft verhindert, dass das Kriegsrecht verhängt wird und durchgesetzt, dass Urteile von Militärgerichten inzwischen angefochten werden können.

Bei uns wird die Berichterstattung oftmals von der Angst vor einer Machtübernahme der Islamisten in Tunesien dominiert. Wie real ist diese Gefahr und welche Rolle haben die Islamisten überhaupt beim Sturz der Diktatur gespielt? 

Die Islamisten waren anfangs ganz eindeutig gegen die Revolution. Sie sagten, das sei „haram“, dahinter stünden Leute die Alkohol trinken und Drogen nehmen. Sie sind erst im letzten Moment auf den Zug aufgesprungen. Ich glaube nicht, dass die Islamisten große Chancen bei den Wahlen haben, auch wenn der religiöse Diskurs gerade für ältere, konservative Menschen sehr attraktiv ist. Die Gefahr ist, dass die Leute, die im Dezember und Januar gegen Ben Ali auf die Straße gehen, bei den Wahlen möglicherweise zu Hause bleiben. Sie glauben nicht an Veränderung und Wahlen und fürchten, dass diese wieder nur einen neuen Alleinherrscher hervorbringen. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen, dann werden auch die Islamisten keinen Erfolg haben.

Würden denn die Tunesier wieder auf die Straße gehen, wenn die Revolution verraten werden sollte?

Ja. Und wir haben auch die Mittel dazu: ein mittlerweile fast freies Internet und neue Infrastruktur. Wenn die Meinungsfreiheit wieder beschnitten wird oder die Korruption nicht entschlossen bekämpft wird, werden wir uns wieder erheben. Mich beunruhigt eher die Haltung gegenüber den Rechten von Minderheiten, etwa Atheisten oder Homosexuelle. Es gibt leider eine weit verbreitete rückwärtsgewandte Mentalität in Tunesien, die Veränderungen dort ablehnt. Eine Gesellschaft, die aber weniger frei ist, als im Westen, wäre für mich der Worst Case.

Wie steht es denn derzeit um die Pressefreiheit? 

Die Situation der Medien hat sich deutlich verbessert. Gegenüber der Zustände unter Ben Ali ist jeder noch so kleine Schritt eine große Verbesserung. Das Problem ist aber, dass fast alle Journalisten durch das alte Regime selbst korrumpiert wurden. Die Rolle dieser leicht reformierten Medien, die die Landschaft immer noch dominieren, müssen wir sehr kritisch begleiten. Leider braucht es seine Zeit, bis neue Medien entstehen. Diese werden sicher erst nach den Wahlen eine größere Rolle spielen.

Aber es gibt doch nach wie vor Internetzensur in Tunesien. 

Ja, die gibt es. Mehrere Internetseiten, auf denen zur Gewalt aufgerufen wurde, hat die Regierung zensiert. Gleichzeitig gibt es islamistische, fundamentalistische Anwälte, die knallhart gegen Pornographie im Internet sind und wollen, dass der Staat entscheidet, was pornographisch ist und was nicht. Schon das alte Regime hat den Kampf gegen Pornographie als Vorwand benutzt um die Opposition im Internet zu bekämpfen. Deshalb brauchen wir eine neue Verfassung, die die Presse schützt und freien Zugang zu Informationen gewährt. Der Kampf gegen Medien- und Internetzensur ist aber ein weltweiter Kampf. Umso verwerflicher ist es, wenn Staaten wie die USA oder auch Deutschland selbst das Internet zensieren. Das macht es schwer gegenüber Autokraten zu fordern, das Internet nicht zu zensieren. Das ist bizarr.

Umso mehr muss dich ja dann der Erfolg der Piratenpartei bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin freuen.

Ja, das ist wirklich großartig. Exzellent! Ein gutes Signal für ein freies Internet und mehr Transparenz in der Politik. Ich habe viele Freunde bei den Piraten in Deutschland und gratuliere ihnen herzlich. Und wenn ich diese Anekdote noch erzählen darf: Ich war das letzte Mal in Berlin, als ich noch Staatssekretär für Jugend und Sport war und wurde deshalb auch vom tunesischen Botschafter in Deutschland empfangen. Ich fragte ihn damals, ob während der Revolution Menschen vor der Botschaft in Berlin demonstriert hätten. Er verneinte das. Aber als ich im Gefängnis saß hätten mehrere Anhänger der Piratenpartei vor seinem Hause protestiert, erzählte er mir.

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