Von Sofian Philip Naceur
Nachdem der Arabische Frühling in Nordafrika in zahlreichen Staaten die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse kräftig aufgewirbelt hat, wurde die Parlamentswahl in Algerien am 10. Mai mit Spannung erwartet. Eine erste Umfrage der frankophonen algerischen Tageszeitung El Watan Anfang April deutete bereits an, dass sich am Status Quo in Algier wenig ändern würde. Doch niemand hatte mit einem derart deutlichen Resultat gerechnet. Die seit der politischen Unabhängigkeit 1962 ununterbrochen regierende frühere Einheitspartei »Front de Libération National« (FLN) von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika ist aus der Wahl als großer Gewinner hervorgegangen und erlangte 220 der 462 Sitze in der Nationalversammlung. Das »Rassemblement National Démocratique« (RND) von Premierminister Ahmed Ouyahia, eine Abspaltung des FLN, kommt auf 68 Mandate und die gemäßigten Islamisten der »Grünen Allianz« auf 48.
Erstmals wieder im Parlament vertreten ist die linksorientierte, in der Berberregion Kabylei verankerte »Front des Forces Socialistes« (FFS) von Hocine Ait Ahmed mit 21 Mandaten, die Partei hatte die letzten Wahlgänge boykottiert und war überraschend angetreten. Mit 20 Sitzen geht die trotzkistische Arbeiterpartei »Parti des travailleurs« von Louisa Hanoun leicht geschwächt aus der Wahl hervor. Zudem schafften 19 unabhängige Kandidaten den Einzug ins Parlament, 2007 waren es noch 33 parteilose Abgeordnete. Die sieben Mandate der »Front Justice et Développement« (FJD) sowie die vier Sitze der »Front du Changement« (FC) lassen den islamistischen Block auf 59 Abgeordnete anwachsen. Die verbleibenden 55 Mandate teilen sich weitere 18 Parteien. Insgesamt waren 44 Parteien zur Wahl angetreten, so viele wie nie zuvor. Das Regime hat vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings mit kosmetischen Reformen versucht der Protestdynamik den Wind aus den Segeln zu nehmen und 21 Parteien neu zugelassen.
Islamisten verlieren an Einfluss
Ein Sieg der beiden Staatsparteien FLN und RND war erwartet worden, jedoch überrascht das schlechte Abschneiden der Islamisten. Die »Mouvement de la société pour la paix« (MSP) von Bouguerra Soltani war seit 1997 an der Regierungskoalition mit der FLN und dem RND beteiligt und gewann bei den letzten Parlamentswahlen alleine noch 52 Mandate. Im Januar ließ die Partei die Koalition aus Solidarität mit der arabischen Protestbewegung platzen und ging in die Opposition. Wahltaktisches Kalkül dürfte hier gewiss eine Rolle gespielt haben, schließlich versuchte die MSP möglichst regimefern aufzutreten und von der gesellschaftlichen Dynamik in der Region zu profitieren. Das Abschneiden der tunesischen Ennahda beim ersten Urnengang nach dem Sturz Ben Alis und die Wahl Abdelilah Benkiranes von der »Parti de la Justice et du Développement« (PJD) zum Ministerpräsidenten Marokkos gaben den algerischen Islamisten Rückenwind.
Im März verkündete Soltani die Gründung der »Grünen Allianz«, einer gemeinsamen Liste der MSP mit El Islah und Ennahda. Diese strategische Allianz sollte das stark zersplitterte islamistische Parteienspektrum wieder zusammenführen und die Chancen auf einen Wahlsieg erhöhen. Regelmäßig verwies Soltani auf das Wählerpotential des politischen Islams in Algerien, welches in der Spitze auf 35 Prozent geschätzt wird. 1991 gewann die radikale Front Islamique du Salut (FIS) die Parlamentswahlen, bevor die Armee putschte und das Land in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen gewaltbereiten Islamisten und den der FLN nahe stehenden Militärs trieb. Die seither stillen Wähler der FIS wollte die MSP mobilisieren, jedoch ohne Erfolg. Ihre Regierungsbeteiligung dürfte ihrer Glaubwürdigkeit nicht gut getan haben. Zudem riefen die beiden ehemaligen FIS-Köpfe Abassi Madani und Ali Belhadj zum Wahlboykott auf.
Umstrittene Resultate: Wahlbeteiligung manipuliert?
Aufrufe zur Stimmenthaltung waren auch aus der außerparlamentarischen Opposition zu hören, vor allem von Jugendverbänden wie der »Mouvement de la Jeunesse Indépendante pour le Changement« (MJIC), einer Vereinigung, die sich im Zuge der zaghaften Protestbewegung Algeriens im Frühjahr 2011 formierte. Die oppositionelle Berberpartei »Rassemblement pour la Culture et a Démocratie« (RCD) nahm zwar an den Parlamentswahlen 2007 teil, verließ jedoch im Februar 2011 das Parlament aus Protest gegen das brutale Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte gegen eine Demonstration in Algier. Unter ihrem neuen Vorsitzenden Mohsine Belabbes boykottierte das RCD den Urnengang mit der Begründung, es sei keine faire und freie Wahl, sondern Wahlbetrug zu erwarten.
Erste Unregelmäßigkeiten gab es laut der EU-Wahlbeobachtermission unter dem spanischen Abgeordneten des EU-Parlaments José Salafranca bereits vor dem Urnengang. Überhaupt war es das erste Mal in der algerischen Geschichte, dass eine Wahl von internationalen Beobachtern überwacht wurde. Über 500 Beobachter hatte das Regime ins Land gelassen, darunter 120 Vertreter der EU sowie Delegationen der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und der Vereinten Nationen. Auch wenn sich Anzeichen einer Manipulation der Wahl mehrten, bescheinigte die EU-Mission dem Land eine ruhige und gut organisierte Wahl. Dennoch verwies die Delegation auf die auffallend leeren Wahllokale. Der algerische Innenminister Daho Ould Kablia nannte schon am Donnerstag eine Wahlbeteiligung von 42,36 Prozent. 2007 hatte die Beteiligung noch bei lediglich 36 Prozent gelegen, in Algier sogar nur bei 18 Prozent.
Dennoch bleibt diese Zahl umstritten. Seit der Einführung »freier Wahlen« hat sich in Algerien das Prinzip der »geschwängerten Urnen« etabliert, ein algerisches Bonmot für das Auffüllen der Wahlurnen vor Öffnung der Wahllokale und nach deren Schließung. Noch am Vormittag soll die Wahlbeteiligung deutlich niedriger gewesen sein als fünf Jahre zuvor, berichtet die Tageszeitung El Watan. Umso fragwürdiger mutet die offizielle Zahl an. Zudem entspricht sie etwa dem Wert, den FLN-Generalsekretär Abdelaziz Belkhadem im Vorfeld des Urnengangs als Zielmarke ausgab. Das oppositionelle RCD nannte hingegen mit Verweisen auf kommunale Quellen eine Wahlbeteiligung von nur 18 Prozent, eine Zahl, die angesichts der Politikverdrossenheit der algerischen Bevölkerung durchaus realistisch ist.
Überraschend erscheint das gute Abschneiden des FLN auch vor dem Hintergrund der parteiinternen Querelen der letzten Wochen. Hinter den Kulissen tobt ein Machtkampf um die politische Ausrichtung und die Verteilung der Pfründe aus dem Staatssäckel. Nur knapp konnte im April ein Misstrauensvotum gegen Generalsekretär Belkhadem abgewendet werden. Parteivorsitzender ist der amtierende Staatspräsident Bouteflika, der inzwischen seine dritte Amtszeit absolviert. Vieles deutet darauf hin, dass er nicht wieder antritt – für beide Ämter. Neben Belkhadem und Bouteflikas Bruder Said könnte auch der geschasste Ex-Premier Ali Benflis, der 2004 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Bouteflika antrat, sein politisches Comeback vorbereiten. Zunächst muss der FLN jedoch den Arabischen Frühling überstehen und hoffen, dass sich angesichts des zweifelhaften Wahlergebnisses keine weitere Protestbewegung formiert.
Ein Gespenst geht um in Nordafrika
In diesem Sinne jedenfalls versucht das autoritäre Regime in Algier seit Beginn der grenzüberschreitenden Protestwelle in Tunesien 2010 den Anschein der Normalität und Stabilität zu vermitteln und die Aufstände als das Produkt einer ausländischen Verschwörung zu diskreditieren. Premier Ouyahia behauptete sogar die Aufstände seien »das Werk der Zionisten und der Nato«. Wie in vielen Staaten der Region üblich wird der Nahostkonflikt und der imperialistische Westen bemüht, um von inneren Problemen abzulenken. Das Regime wurde in der Tat nicht müde, das Beispiel Libyen anzuführen, um die Menschen für die Wahl zu mobilisieren. Sollten die Islamisten gewählt werden oder die Wahl aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung die Legitimität des FLN untergraben, laufe das Land Gefahr ähnlich wie Libyen »re-kolonisiert« zu werden.
Noch sitzt das algerische Trauma aus dem Bürgerkrieg zu tief und der Funke der Massenaufstände in der Region ist nicht übergesprungen. Doch es brodelt in der algerischen Gesellschaft. Das Regime kündigte auf dem Höhepunkt der arabischen Aufstände in Tunesien, Ägypten, Jemen und Libyen zahlreiche Maßnahmen an, um der entstehenden algerischen Protestbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Neben der Aufhebung des Ausnahmezustandes wurden Parteien zugelassen, Lebensmittelsubventionen erhöht und Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und die Verkehrsinfrastruktur angekündigt. Zudem versprach Bouteflika die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die von der frisch gewählten Nationalversammlung erarbeitet werden soll.
Die Ergebnisse der Parlamentswahl und die nicht unbegründeten Vorwürfe der Manipulation der politischen Klasse um den FLN und die im Hintergrund die Fäden ziehenden Militärs zeigen jedoch, dass das Regime nach wie vor an der Macht klebt und zu keiner demokratischen Öffnung bereit ist. Die Rhetorik des Regimes zeigt aber auch, wie sehr die Machthaber um ihre Privilegien bangen.
Fraglich bleibt, welche Parteien die neue Regierung bilden werden. FLN und RND haben eine stabile Mehrheit, es spricht jedoch vieles dafür, dass sie versucht sind, weitere Parteien in die Exekutive einzubinden. Eine Beteiligung der MSP ist fraglich, auch wenn dies vor dem Urnengang als wahrscheinlich galt. FLN-Generalsekretär Belkhadem äußerte jedoch den Willen die Regierungskoalition auszuweiten. Möglich wäre auch die Öffnung nach links unter Einbindung der FFS oder der PT. Angesichts des Übergewichts der FLN im neuen Parlament dürfte die Partei weiterhin an den Schaltstellen der Macht verbleiben.
Entscheidend für einen mittelfristigen Wandel des politischen Systems dürfte sein, ob das Regime, wenn auch nur aus machttaktischem Kalkül, bereit sein wird, die Bevölkerung am Reichtum des Staates teilhaben zu lassen. Algerien gehört zu den boomenden Erdölproduzenten und schwimmt im Geld. Innerhalb weniger Jahre hat der Staat seine Auslandsschulden fast komplett getilgt, Devisenreserven in Höhe von 180 Milliarden US-Dollar angehäuft und leistet sich einen Militäretat von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Algerien stellt seit Ausbruch der arabischen Revolten eine Art Sonderfall dar, doch auch die algerische Bevölkerung wird sich nicht ewig auf der Nase herumtanzen lassen.
Nachdem der Arabische Frühling in Nordafrika in zahlreichen Staaten die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse kräftig aufgewirbelt hat, wurde die Parlamentswahl in Algerien am 10. Mai mit Spannung erwartet. Eine erste Umfrage der frankophonen algerischen Tageszeitung El Watan Anfang April deutete bereits an, dass sich am Status Quo in Algier wenig ändern würde. Doch niemand hatte mit einem derart deutlichen Resultat gerechnet. Die seit der politischen Unabhängigkeit 1962 ununterbrochen regierende frühere Einheitspartei »Front de Libération National« (FLN) von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika ist aus der Wahl als großer Gewinner hervorgegangen und erlangte 220 der 462 Sitze in der Nationalversammlung. Das »Rassemblement National Démocratique« (RND) von Premierminister Ahmed Ouyahia, eine Abspaltung des FLN, kommt auf 68 Mandate und die gemäßigten Islamisten der »Grünen Allianz« auf 48.
Erstmals wieder im Parlament vertreten ist die linksorientierte, in der Berberregion Kabylei verankerte »Front des Forces Socialistes« (FFS) von Hocine Ait Ahmed mit 21 Mandaten, die Partei hatte die letzten Wahlgänge boykottiert und war überraschend angetreten. Mit 20 Sitzen geht die trotzkistische Arbeiterpartei »Parti des travailleurs« von Louisa Hanoun leicht geschwächt aus der Wahl hervor. Zudem schafften 19 unabhängige Kandidaten den Einzug ins Parlament, 2007 waren es noch 33 parteilose Abgeordnete. Die sieben Mandate der »Front Justice et Développement« (FJD) sowie die vier Sitze der »Front du Changement« (FC) lassen den islamistischen Block auf 59 Abgeordnete anwachsen. Die verbleibenden 55 Mandate teilen sich weitere 18 Parteien. Insgesamt waren 44 Parteien zur Wahl angetreten, so viele wie nie zuvor. Das Regime hat vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings mit kosmetischen Reformen versucht der Protestdynamik den Wind aus den Segeln zu nehmen und 21 Parteien neu zugelassen.
Islamisten verlieren an Einfluss
Ein Sieg der beiden Staatsparteien FLN und RND war erwartet worden, jedoch überrascht das schlechte Abschneiden der Islamisten. Die »Mouvement de la société pour la paix« (MSP) von Bouguerra Soltani war seit 1997 an der Regierungskoalition mit der FLN und dem RND beteiligt und gewann bei den letzten Parlamentswahlen alleine noch 52 Mandate. Im Januar ließ die Partei die Koalition aus Solidarität mit der arabischen Protestbewegung platzen und ging in die Opposition. Wahltaktisches Kalkül dürfte hier gewiss eine Rolle gespielt haben, schließlich versuchte die MSP möglichst regimefern aufzutreten und von der gesellschaftlichen Dynamik in der Region zu profitieren. Das Abschneiden der tunesischen Ennahda beim ersten Urnengang nach dem Sturz Ben Alis und die Wahl Abdelilah Benkiranes von der »Parti de la Justice et du Développement« (PJD) zum Ministerpräsidenten Marokkos gaben den algerischen Islamisten Rückenwind.
Im März verkündete Soltani die Gründung der »Grünen Allianz«, einer gemeinsamen Liste der MSP mit El Islah und Ennahda. Diese strategische Allianz sollte das stark zersplitterte islamistische Parteienspektrum wieder zusammenführen und die Chancen auf einen Wahlsieg erhöhen. Regelmäßig verwies Soltani auf das Wählerpotential des politischen Islams in Algerien, welches in der Spitze auf 35 Prozent geschätzt wird. 1991 gewann die radikale Front Islamique du Salut (FIS) die Parlamentswahlen, bevor die Armee putschte und das Land in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen gewaltbereiten Islamisten und den der FLN nahe stehenden Militärs trieb. Die seither stillen Wähler der FIS wollte die MSP mobilisieren, jedoch ohne Erfolg. Ihre Regierungsbeteiligung dürfte ihrer Glaubwürdigkeit nicht gut getan haben. Zudem riefen die beiden ehemaligen FIS-Köpfe Abassi Madani und Ali Belhadj zum Wahlboykott auf.
Umstrittene Resultate: Wahlbeteiligung manipuliert?
Aufrufe zur Stimmenthaltung waren auch aus der außerparlamentarischen Opposition zu hören, vor allem von Jugendverbänden wie der »Mouvement de la Jeunesse Indépendante pour le Changement« (MJIC), einer Vereinigung, die sich im Zuge der zaghaften Protestbewegung Algeriens im Frühjahr 2011 formierte. Die oppositionelle Berberpartei »Rassemblement pour la Culture et a Démocratie« (RCD) nahm zwar an den Parlamentswahlen 2007 teil, verließ jedoch im Februar 2011 das Parlament aus Protest gegen das brutale Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte gegen eine Demonstration in Algier. Unter ihrem neuen Vorsitzenden Mohsine Belabbes boykottierte das RCD den Urnengang mit der Begründung, es sei keine faire und freie Wahl, sondern Wahlbetrug zu erwarten.
Erste Unregelmäßigkeiten gab es laut der EU-Wahlbeobachtermission unter dem spanischen Abgeordneten des EU-Parlaments José Salafranca bereits vor dem Urnengang. Überhaupt war es das erste Mal in der algerischen Geschichte, dass eine Wahl von internationalen Beobachtern überwacht wurde. Über 500 Beobachter hatte das Regime ins Land gelassen, darunter 120 Vertreter der EU sowie Delegationen der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und der Vereinten Nationen. Auch wenn sich Anzeichen einer Manipulation der Wahl mehrten, bescheinigte die EU-Mission dem Land eine ruhige und gut organisierte Wahl. Dennoch verwies die Delegation auf die auffallend leeren Wahllokale. Der algerische Innenminister Daho Ould Kablia nannte schon am Donnerstag eine Wahlbeteiligung von 42,36 Prozent. 2007 hatte die Beteiligung noch bei lediglich 36 Prozent gelegen, in Algier sogar nur bei 18 Prozent.
Dennoch bleibt diese Zahl umstritten. Seit der Einführung »freier Wahlen« hat sich in Algerien das Prinzip der »geschwängerten Urnen« etabliert, ein algerisches Bonmot für das Auffüllen der Wahlurnen vor Öffnung der Wahllokale und nach deren Schließung. Noch am Vormittag soll die Wahlbeteiligung deutlich niedriger gewesen sein als fünf Jahre zuvor, berichtet die Tageszeitung El Watan. Umso fragwürdiger mutet die offizielle Zahl an. Zudem entspricht sie etwa dem Wert, den FLN-Generalsekretär Abdelaziz Belkhadem im Vorfeld des Urnengangs als Zielmarke ausgab. Das oppositionelle RCD nannte hingegen mit Verweisen auf kommunale Quellen eine Wahlbeteiligung von nur 18 Prozent, eine Zahl, die angesichts der Politikverdrossenheit der algerischen Bevölkerung durchaus realistisch ist.
Überraschend erscheint das gute Abschneiden des FLN auch vor dem Hintergrund der parteiinternen Querelen der letzten Wochen. Hinter den Kulissen tobt ein Machtkampf um die politische Ausrichtung und die Verteilung der Pfründe aus dem Staatssäckel. Nur knapp konnte im April ein Misstrauensvotum gegen Generalsekretär Belkhadem abgewendet werden. Parteivorsitzender ist der amtierende Staatspräsident Bouteflika, der inzwischen seine dritte Amtszeit absolviert. Vieles deutet darauf hin, dass er nicht wieder antritt – für beide Ämter. Neben Belkhadem und Bouteflikas Bruder Said könnte auch der geschasste Ex-Premier Ali Benflis, der 2004 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Bouteflika antrat, sein politisches Comeback vorbereiten. Zunächst muss der FLN jedoch den Arabischen Frühling überstehen und hoffen, dass sich angesichts des zweifelhaften Wahlergebnisses keine weitere Protestbewegung formiert.
Ein Gespenst geht um in Nordafrika
In diesem Sinne jedenfalls versucht das autoritäre Regime in Algier seit Beginn der grenzüberschreitenden Protestwelle in Tunesien 2010 den Anschein der Normalität und Stabilität zu vermitteln und die Aufstände als das Produkt einer ausländischen Verschwörung zu diskreditieren. Premier Ouyahia behauptete sogar die Aufstände seien »das Werk der Zionisten und der Nato«. Wie in vielen Staaten der Region üblich wird der Nahostkonflikt und der imperialistische Westen bemüht, um von inneren Problemen abzulenken. Das Regime wurde in der Tat nicht müde, das Beispiel Libyen anzuführen, um die Menschen für die Wahl zu mobilisieren. Sollten die Islamisten gewählt werden oder die Wahl aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung die Legitimität des FLN untergraben, laufe das Land Gefahr ähnlich wie Libyen »re-kolonisiert« zu werden.
Noch sitzt das algerische Trauma aus dem Bürgerkrieg zu tief und der Funke der Massenaufstände in der Region ist nicht übergesprungen. Doch es brodelt in der algerischen Gesellschaft. Das Regime kündigte auf dem Höhepunkt der arabischen Aufstände in Tunesien, Ägypten, Jemen und Libyen zahlreiche Maßnahmen an, um der entstehenden algerischen Protestbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Neben der Aufhebung des Ausnahmezustandes wurden Parteien zugelassen, Lebensmittelsubventionen erhöht und Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und die Verkehrsinfrastruktur angekündigt. Zudem versprach Bouteflika die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die von der frisch gewählten Nationalversammlung erarbeitet werden soll.
Die Ergebnisse der Parlamentswahl und die nicht unbegründeten Vorwürfe der Manipulation der politischen Klasse um den FLN und die im Hintergrund die Fäden ziehenden Militärs zeigen jedoch, dass das Regime nach wie vor an der Macht klebt und zu keiner demokratischen Öffnung bereit ist. Die Rhetorik des Regimes zeigt aber auch, wie sehr die Machthaber um ihre Privilegien bangen.
Fraglich bleibt, welche Parteien die neue Regierung bilden werden. FLN und RND haben eine stabile Mehrheit, es spricht jedoch vieles dafür, dass sie versucht sind, weitere Parteien in die Exekutive einzubinden. Eine Beteiligung der MSP ist fraglich, auch wenn dies vor dem Urnengang als wahrscheinlich galt. FLN-Generalsekretär Belkhadem äußerte jedoch den Willen die Regierungskoalition auszuweiten. Möglich wäre auch die Öffnung nach links unter Einbindung der FFS oder der PT. Angesichts des Übergewichts der FLN im neuen Parlament dürfte die Partei weiterhin an den Schaltstellen der Macht verbleiben.
Entscheidend für einen mittelfristigen Wandel des politischen Systems dürfte sein, ob das Regime, wenn auch nur aus machttaktischem Kalkül, bereit sein wird, die Bevölkerung am Reichtum des Staates teilhaben zu lassen. Algerien gehört zu den boomenden Erdölproduzenten und schwimmt im Geld. Innerhalb weniger Jahre hat der Staat seine Auslandsschulden fast komplett getilgt, Devisenreserven in Höhe von 180 Milliarden US-Dollar angehäuft und leistet sich einen Militäretat von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Algerien stellt seit Ausbruch der arabischen Revolten eine Art Sonderfall dar, doch auch die algerische Bevölkerung wird sich nicht ewig auf der Nase herumtanzen lassen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen