Ebenso uneinheitlich wie das Votum der
Ägypter fällt auch die mediale Bewertung der Präsidentschaftswahlen
in den Meinungsspalten der Region aus. Wer nun bei der Stichwahl das
Rennen macht, spielt bei der Betrachtung aber kaum eine Rolle.
Von Dominik Peters, Bodo Straub und Björn
Zimprich
Einen klaren Favoriten auf das Amt des
ägyptischen Präsidenten hat Uri Heitner. »Wenn der arabische
Frühling gewesen wäre, wie wir gewollt und gewünscht hätten, oder
selbst so, wie wir uns selbst belogen hatten zu glauben, dann wäre
die letzte Person, die es verdient hätte, Hosni Mubarak zu
ersetzten, General Ahmed Schafik«, schreibt er in seinem Kommentar
für das israelische Massenblatt Israel Hajom.
Nun aber, nach den bereits abgehaltenen
Parlamentswahlen und dem überragenden Sieg gemäßigter wie
radikaler Islamisten, steht für ihn fest: »Jeder intelligente und
aufgeklärte Mensch in der Welt hofft auf einen Sieg Schafiks, denn
die Alternative zu ihm ist kein ägyptischer Lech Walesa, Vaclav
Havel oder Nelson Mandela« – sondern ein Kandidat der
Muslimbruderschaft.
»Zum ersten Mal erfährt unsere
Generation die Bitterkeit der Naksa«
Diese Sicht der Dinge teilt Hazem Helal
nicht – freut sich aber genau so wenig wie sein israelischer
Kollege über das Ergebnis der ersten freien Präsidentschaftswahlen
am Nil. »Zum ersten Mal erfährt unsere Generation die Bitterkeit
der Naksa (Niederlage der arabischen Anrainerstaaten gegen Israel,
Anm. d.Red.) von 1967«, schreibt er in der Internetausgabe der
ägyptischen Tageszeitung al-Masry al-Youm. Er verstehe nun, wie es
sei, schreibt er, »wenn man große Träume habe, diese zerschlagen
werden und wie hart es sich anfühlt, gerade weil die Forderungen
richtig seien – die Kraft sie zu erreichen jedoch in der Macht
eines anderen liegen.«
Die Hoffnung hat der in Ägypten
bekannte Blogger aber noch nicht verloren. »Egal, ob der Sieger
Morsi oder Schafik heißt, beide dürften sich darüber im Klaren
seien, dass sie für 75 Prozent der Ägypter nicht die präferierte
Wahl sind. Nach vier Jahren werden die Ägypter einen anderen
Präsidenten wählen können. Und dann werden wir unsere Lektion aus
den Wahlen von 2012 gelernt haben.«
Hani Shukrallah kann dem Votum
ebenfalls nicht viel abgewinnen. Frei nach Hegels Weisheit »Die Eule
der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung« meint er in seinem
Kommentar für die halbamtliche al-Ahram: »Der Wahlsieg des
Mubarak-Regimes auf der einen Seite und auf der anderen Seite der
Wahlsieg seines historischen Gegners, der Muslimbruderschaft, die
jedoch nicht weniger autoritär ist, sollte man weder als Vorboten
des Aufstiegs noch des Falls sehen.«
Vielmehr, so Shukrallah, »ist es weder
der Beginn« einer Ära der Bruderschaft, »die wir sehen, noch das
Revival eines semi-säkularen Polizeistaates à
la Mubarak, stattdessen ist es ein Mix aus beidem.«
»Die Völker der Region haben die
Faxen dicke«
Der ehemalige algerische Kulturminister
Mohieddine Amimour macht in der Tageszeitung El Watan seinem Ärger
Luft: »Wählen zwischen Pest und Cholera« heißt seine lesenswerte
Analyse. »Die Völker der Region haben die Faxen dicke. Sie haben
all ihr Vertrauen verloren, nicht nur in die regierenden Mächte,
sondern auch und vor allem in jegliche Opposition, ob rechts oder
links, islamistisch oder pseudo-laizistisch.« Und was Ägypten
betreffe, »so bin ich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der
Militärrat nicht von gestern war bei seiner Handhabung des
postrevolutionären Ägyptens.«
Denn »als im Februar 2011 Ägypten
explodierte, haben Feldmarschall Tantawi und Konsorten verstanden,
dass zwar Mubarak fertig war, aber dass das Regime überleben
musste.« Dafür hätte der Militärrat einerseits jegliche Kritik
zum Verstummen bringen und andererseits die Macht des Volkes von
Tahrir marginalisieren müssen. Nachdem dann auch noch die Islamisten
die Lehren aus Algerien, Tunesien und Marokko in den Wind schlugen,
sei der Weg frei gewesen für einen Kandidaten, der, obwohl
juristisch befleckt, die einzige Hoffnung gegen Anarchie und
wirtschaftlichen KO sei. »Wenn ich Ägypter wäre, hätte ich wohl
auch Schafik gewählt«, sagt Amimour. Aber er baut seine Hoffnung
auf den linksnationalistischen Kandidaten Hamdeen Sabbahi, dessen
»spektakulärer Aufstieg eine bemerkenswerte Garantie dafür ist,
dass die treibende Kraft Ägyptens nicht alles mit sich machen
lässt.«
Die ebenfalls in Algerien erscheinende
Tageszeitung Le Matin lässt den Wahlkampf Revue passieren zwischen
zwei Kandidaten, die entweder als dem alten Regime und der Armee oder
aber der Muslimbruderschaft unterworfen gelten. »Aber abgesehen von
dieser ganzen Polemik ist entscheidend, dass die Wahlen gut
abgelaufen sind«, so die Zeitung, und dass es ein Ergebnis gibt,
»das zum ersten Mal in der Geschichte des Landes noch nicht vorher
bekannt ist.« Es sei allerdings ein Fehler der neuen Verfassung,
dass die Kompetenzen des neuen Präsidenten immer noch nicht
endgültig geklärt seien.
In seiner Begeisterung kaum zu bremsen
ist dagegen Rami Khouri vom libanesischen Daily Star: Unter allen
historischen Ereignissen in der arabischen Welt seit der
Selbstverbrennung Mohammad Bouazizis in Tunesien im Dezember 2010
seien die ägyptischen Präsidentschaftswahlen das am tiefgreifendste
gewesen. Das Ergebnis sei dabei nicht entscheidend, sondern »die
schlichte Tatsache, dass 50 Millionen Ägypter zum ersten Mal seit
drei Generationen in der Lage waren, ihren Präsidenten aus einem
Kandidatenfeld zu wählen, das ihnen eine tatsächliche Wahl ließ.«
Diese Wahlen seien ein Präzedenzfall
für einen freien und gerechten Wahlprozess – selbstorganisiert und
-beaufsichtigt – der in der arabischen Welt noch in Generationen
nachhallen werde. Ȇberall in diesem Land von 80 Millionen freien
und stolzen Bürgern werden nun Männer und Frauen eifriger am
öffentlichen Leben teilnehmen, weil sie wissen, dass ihre Stimme
zählt und ihre Meinung wichtig ist, und dass sie tatsächlich die
Welt ändern können, oder zumindest die Politik ihrer Regierung.«
Eine tote politische Landschaft sei zum Leben erwacht. »Die
Präsidentschaftswahlen kennzeichnen einen Meilenstein auf Ägyptens
Weg zurück von nationaler Schande hin zu nationaler Einheit und zu
regionaler vorbildlicher Führung.«
Eine Hommage an die ägyptischen
Muslimbrüder
In der in London erscheinenden al-Quds
al-Arabi schreibt Abdelwahab Al-Afandi eine »Hommage an die
ägyptischen Muslimbrüder und die Demokratie«. In seinem
gleichnamigen Kommentar erhebt er zwar verschiedenartige Kritikpunkte
gegenüber der Bewegung. Dennoch müsse man den Erfolg der
Muslimbrüder anerkennen. »In diesem kritischen Augenblick müssen
wir einen Moment innehalten und den Hut vor dieser Bewegung ziehen,
die alle Erwartungen übertroffen hat, alle Herausforderungen und
Versuche, sie zu zerschlagen überwunden hat und acht Jahrzehnte
Isolierung überdauert hat ... . Dieser Wahlgang hat sich in einen
Showdown um die Zukunft Ägypten, zwischen Muslimbrüdern und den
Pfeilern des alten Regimes, angeführt vom Militärrat, entwickelt.«
Obwohl die Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen nach Afandis Meinung fair abliefen, gilt dies
nicht für das Nominierungsverfahren, dessen Regeln die
Entscheidungsmöglichkeiten der Menschen einschränkten. Abdelwahab
erwähnt hierbei besonders die Ausschlüsse des Kandidaten der
Muslimbrüder, Khairat el-Shater, als auch des Mubarak-Vize Omar
Suleiman.
Nach Meinung Afandis sollte der
Ausschluss der Kandidaten, nach Hoffnung der Strippenzieher des alten
Regime, auf einen zweiten Wahlgang zwischen Amr Moussa und Abdel
Moneim Abou El Fotouh hinausgelaufen. Danach wäre es leicht gewesen,
Unterstützung für den moderaten Amr Moussa zu mobilisieren und mit
diesem das alte Regime in modifizierter Form weiterzuführen. Die
Stimmungsschwankungen der ägyptischen Öffentlichkeit sowie die
Unzuverlässigkeit der Meinungsumfragen haben dieses Planspiel
allerdings nicht aufgehen lassen.
Afandi schließt seinen Text mit den
Worten: »Hommage an die ägyptischen Muslimbrüder für ihren
hochverdienten Triumph. Aber die größere Hommage gebührt der
Demokratie, die ihnen, den Muslimbrüdern, mit diesem Sieg die große
Last überträgt sie, die Demokratie zu verteidigen.«
http://www.alquds.co.uk/index.asp?fname=today\28qpt699.htm&arc=data\2012\05\05-28\28qpt699.htm
Ein Boykott ist keine Option
Eigentlich sollten die
Präsidentschaftswahlen dem Land den Weg aus der Krise ebnen.
Stattdessen ist das Land, nach Meinung von Khalil al-Anani in die
gefährlichsten Turbulenzen seit dem Sturz von Mubarak eingetreten.
»Mit dem Ende der Auszählung der Stimmen der ersten Runde der
Wahlen, versank das Land in einen Zustand der Frustration«. In
seinem Kommentar in der in London erscheinenden al-Hayat räumt er
unter dem Titel »Legenden der ägyptischen Präsidentschaftswahlen«
mit diversen Mythen auf. So sei die Krise nicht durch die
Präsidentschaftswahlen ausgelöst worden, sondern sei nur »das
natürlich Ende des demokratischen Übergangs, der viel naher am
Scheitern ist als am Erfolg.«
Ein weiterer »Mythos«, dem al-Anani
widerspricht, ist, dass die Wahl fair war. Eine Wahl müsse immer
frei und fair sein. Allerdings könne man dies nicht für Ägypten
behaupten. »Die Wahl in Ägypten war nur eine freie Wahl, aber sie
war sicherlich nicht fair.« Al-Anani geht hier insbesondere auf die
zahlreichen Ausschlüsse aussichtsreicher Kandidaten ein. Ein
»Mythos« sei zudem, dass »das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen
nicht die politischen Realitäten in Ägypten widerspiegelt.«
Vielmehr sei nach dem »Revolutionären Traum“«Frustration
eingekehrt. Abgesehen von den revolutionären Massen sehnten sich
große Teile der ägyptischen Gesellschaft nach der Wiederherstellung
von Sicherheit und Ordnung.
Den letzten »Mythos«, den Al-Anani
ins Feld führt, richtet sich gegen einen Boykott der Stichwahl
zwischen Morsi und Schafik. Dies sei nicht die beste Lösung, wenn
man gegen beide Kandidaten sei. Es handele sich nicht mehr um die
alten Konflikt zwischen Militär und den Muslimbrüdern.
»Auf der einen Seite ist es nicht
wahr, dass Morsi schlimmer ist als Schafik.« Vielmehr sollten die
revolutionären Kräfte mit den Muslimbrüdern verhandeln, »die
immer noch ein fester Bestandteil des nationalen Kampfes gegen
Mubarak und sein korruptes Regime« seien. Ein Boykott wäre dagegen
Schafiks große Chance und »dann würden alle verlieren und das darf
niemals eine Option sein.«
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