Donnerstag, 31. Mai 2012

Presseschau zu den Präsidentschaftswahlen in Ägypten: »Wenn ich Ägypter wäre, hätte ich wohl auch Schafik gewählt«

Ebenso uneinheitlich wie das Votum der Ägypter fällt auch die mediale Bewertung der Präsidentschaftswahlen in den Meinungsspalten der Region aus. Wer nun bei der Stichwahl das Rennen macht, spielt bei der Betrachtung aber kaum eine Rolle.

Von Dominik Peters, Bodo Straub und Björn Zimprich


Einen klaren Favoriten auf das Amt des ägyptischen Präsidenten hat Uri Heitner. »Wenn der arabische Frühling gewesen wäre, wie wir gewollt und gewünscht hätten, oder selbst so, wie wir uns selbst belogen hatten zu glauben, dann wäre die letzte Person, die es verdient hätte, Hosni Mubarak zu ersetzten, General Ahmed Schafik«, schreibt er in seinem Kommentar für das israelische Massenblatt Israel Hajom.

Nun aber, nach den bereits abgehaltenen Parlamentswahlen und dem überragenden Sieg gemäßigter wie radikaler Islamisten, steht für ihn fest: »Jeder intelligente und aufgeklärte Mensch in der Welt hofft auf einen Sieg Schafiks, denn die Alternative zu ihm ist kein ägyptischer Lech Walesa, Vaclav Havel oder Nelson Mandela« – sondern ein Kandidat der Muslimbruderschaft.

»Zum ersten Mal erfährt unsere Generation die Bitterkeit der Naksa«

Diese Sicht der Dinge teilt Hazem Helal nicht – freut sich aber genau so wenig wie sein israelischer Kollege über das Ergebnis der ersten freien Präsidentschaftswahlen am Nil. »Zum ersten Mal erfährt unsere Generation die Bitterkeit der Naksa (Niederlage der arabischen Anrainerstaaten gegen Israel, Anm. d.Red.) von 1967«, schreibt er in der Internetausgabe der ägyptischen Tageszeitung al-Masry al-Youm. Er verstehe nun, wie es sei, schreibt er, »wenn man große Träume habe, diese zerschlagen werden und wie hart es sich anfühlt, gerade weil die Forderungen richtig seien – die Kraft sie zu erreichen jedoch in der Macht eines anderen liegen.«

Die Hoffnung hat der in Ägypten bekannte Blogger aber noch nicht verloren. »Egal, ob der Sieger Morsi oder Schafik heißt, beide dürften sich darüber im Klaren seien, dass sie für 75 Prozent der Ägypter nicht die präferierte Wahl sind. Nach vier Jahren werden die Ägypter einen anderen Präsidenten wählen können. Und dann werden wir unsere Lektion aus den Wahlen von 2012 gelernt haben.«

Hani Shukrallah kann dem Votum ebenfalls nicht viel abgewinnen. Frei nach Hegels Weisheit »Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung« meint er in seinem Kommentar für die halbamtliche al-Ahram: »Der Wahlsieg des Mubarak-Regimes auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Wahlsieg seines historischen Gegners, der Muslimbruderschaft, die jedoch nicht weniger autoritär ist, sollte man weder als Vorboten des Aufstiegs noch des Falls sehen.«
Vielmehr, so Shukrallah, »ist es weder der Beginn« einer Ära der Bruderschaft, »die wir sehen, noch das Revival eines semi-säkularen Polizeistaates à la Mubarak, stattdessen ist es ein Mix aus beidem.«

»Die Völker der Region haben die Faxen dicke«

Der ehemalige algerische Kulturminister Mohieddine Amimour macht in der Tageszeitung El Watan seinem Ärger Luft: »Wählen zwischen Pest und Cholera« heißt seine lesenswerte Analyse. »Die Völker der Region haben die Faxen dicke. Sie haben all ihr Vertrauen verloren, nicht nur in die regierenden Mächte, sondern auch und vor allem in jegliche Opposition, ob rechts oder links, islamistisch oder pseudo-laizistisch.« Und was Ägypten betreffe, »so bin ich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Militärrat nicht von gestern war bei seiner Handhabung des postrevolutionären Ägyptens.«

Denn »als im Februar 2011 Ägypten explodierte, haben Feldmarschall Tantawi und Konsorten verstanden, dass zwar Mubarak fertig war, aber dass das Regime überleben musste.« Dafür hätte der Militärrat einerseits jegliche Kritik zum Verstummen bringen und andererseits die Macht des Volkes von Tahrir marginalisieren müssen. Nachdem dann auch noch die Islamisten die Lehren aus Algerien, Tunesien und Marokko in den Wind schlugen, sei der Weg frei gewesen für einen Kandidaten, der, obwohl juristisch befleckt, die einzige Hoffnung gegen Anarchie und wirtschaftlichen KO sei. »Wenn ich Ägypter wäre, hätte ich wohl auch Schafik gewählt«, sagt Amimour. Aber er baut seine Hoffnung auf den linksnationalistischen Kandidaten Hamdeen Sabbahi, dessen »spektakulärer Aufstieg eine bemerkenswerte Garantie dafür ist, dass die treibende Kraft Ägyptens nicht alles mit sich machen lässt.«

Die ebenfalls in Algerien erscheinende Tageszeitung Le Matin lässt den Wahlkampf Revue passieren zwischen zwei Kandidaten, die entweder als dem alten Regime und der Armee oder aber der Muslimbruderschaft unterworfen gelten. »Aber abgesehen von dieser ganzen Polemik ist entscheidend, dass die Wahlen gut abgelaufen sind«, so die Zeitung, und dass es ein Ergebnis gibt, »das zum ersten Mal in der Geschichte des Landes noch nicht vorher bekannt ist.« Es sei allerdings ein Fehler der neuen Verfassung, dass die Kompetenzen des neuen Präsidenten immer noch nicht endgültig geklärt seien.

In seiner Begeisterung kaum zu bremsen ist dagegen Rami Khouri vom libanesischen Daily Star: Unter allen historischen Ereignissen in der arabischen Welt seit der Selbstverbrennung Mohammad Bouazizis in Tunesien im Dezember 2010 seien die ägyptischen Präsidentschaftswahlen das am tiefgreifendste gewesen. Das Ergebnis sei dabei nicht entscheidend, sondern »die schlichte Tatsache, dass 50 Millionen Ägypter zum ersten Mal seit drei Generationen in der Lage waren, ihren Präsidenten aus einem Kandidatenfeld zu wählen, das ihnen eine tatsächliche Wahl ließ.«
Diese Wahlen seien ein Präzedenzfall für einen freien und gerechten Wahlprozess – selbstorganisiert und -beaufsichtigt – der in der arabischen Welt noch in Generationen nachhallen werde. »Überall in diesem Land von 80 Millionen freien und stolzen Bürgern werden nun Männer und Frauen eifriger am öffentlichen Leben teilnehmen, weil sie wissen, dass ihre Stimme zählt und ihre Meinung wichtig ist, und dass sie tatsächlich die Welt ändern können, oder zumindest die Politik ihrer Regierung.« Eine tote politische Landschaft sei zum Leben erwacht. »Die Präsidentschaftswahlen kennzeichnen einen Meilenstein auf Ägyptens Weg zurück von nationaler Schande hin zu nationaler Einheit und zu regionaler vorbildlicher Führung.«

Eine Hommage an die ägyptischen Muslimbrüder

In der in London erscheinenden al-Quds al-Arabi schreibt Abdelwahab Al-Afandi eine »Hommage an die ägyptischen Muslimbrüder und die Demokratie«. In seinem gleichnamigen Kommentar erhebt er zwar verschiedenartige Kritikpunkte gegenüber der Bewegung. Dennoch müsse man den Erfolg der Muslimbrüder anerkennen. »In diesem kritischen Augenblick müssen wir einen Moment innehalten und den Hut vor dieser Bewegung ziehen, die alle Erwartungen übertroffen hat, alle Herausforderungen und Versuche, sie zu zerschlagen überwunden hat und acht Jahrzehnte Isolierung überdauert hat ... . Dieser Wahlgang hat sich in einen Showdown um die Zukunft Ägypten, zwischen Muslimbrüdern und den Pfeilern des alten Regimes, angeführt vom Militärrat, entwickelt.«

Obwohl die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nach Afandis Meinung fair abliefen, gilt dies nicht für das Nominierungsverfahren, dessen Regeln die Entscheidungsmöglichkeiten der Menschen einschränkten. Abdelwahab erwähnt hierbei besonders die Ausschlüsse des Kandidaten der Muslimbrüder, Khairat el-Shater, als auch des Mubarak-Vize Omar Suleiman.

Nach Meinung Afandis sollte der Ausschluss der Kandidaten, nach Hoffnung der Strippenzieher des alten Regime, auf einen zweiten Wahlgang zwischen Amr Moussa und Abdel Moneim Abou El Fotouh hinausgelaufen. Danach wäre es leicht gewesen, Unterstützung für den moderaten Amr Moussa zu mobilisieren und mit diesem das alte Regime in modifizierter Form weiterzuführen. Die Stimmungsschwankungen der ägyptischen Öffentlichkeit sowie die Unzuverlässigkeit der Meinungsumfragen haben dieses Planspiel allerdings nicht aufgehen lassen.

Afandi schließt seinen Text mit den Worten: »Hommage an die ägyptischen Muslimbrüder für ihren hochverdienten Triumph. Aber die größere Hommage gebührt der Demokratie, die ihnen, den Muslimbrüdern, mit diesem Sieg die große Last überträgt sie, die Demokratie zu verteidigen.«
http://www.alquds.co.uk/index.asp?fname=today\28qpt699.htm&arc=data\2012\05\05-28\28qpt699.htm

Ein Boykott ist keine Option

Eigentlich sollten die Präsidentschaftswahlen dem Land den Weg aus der Krise ebnen. Stattdessen ist das Land, nach Meinung von Khalil al-Anani in die gefährlichsten Turbulenzen seit dem Sturz von Mubarak eingetreten. »Mit dem Ende der Auszählung der Stimmen der ersten Runde der Wahlen, versank das Land in einen Zustand der Frustration«. In seinem Kommentar in der in London erscheinenden al-Hayat räumt er unter dem Titel »Legenden der ägyptischen Präsidentschaftswahlen« mit diversen Mythen auf. So sei die Krise nicht durch die Präsidentschaftswahlen ausgelöst worden, sondern sei nur »das natürlich Ende des demokratischen Übergangs, der viel naher am Scheitern ist als am Erfolg.«

Ein weiterer »Mythos«, dem al-Anani widerspricht, ist, dass die Wahl fair war. Eine Wahl müsse immer frei und fair sein. Allerdings könne man dies nicht für Ägypten behaupten. »Die Wahl in Ägypten war nur eine freie Wahl, aber sie war sicherlich nicht fair.« Al-Anani geht hier insbesondere auf die zahlreichen Ausschlüsse aussichtsreicher Kandidaten ein. Ein »Mythos« sei zudem, dass »das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen nicht die politischen Realitäten in Ägypten widerspiegelt.« Vielmehr sei nach dem »Revolutionären Traum“«Frustration eingekehrt. Abgesehen von den revolutionären Massen sehnten sich große Teile der ägyptischen Gesellschaft nach der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung.

Den letzten »Mythos«, den Al-Anani ins Feld führt, richtet sich gegen einen Boykott der Stichwahl zwischen Morsi und Schafik. Dies sei nicht die beste Lösung, wenn man gegen beide Kandidaten sei. Es handele sich nicht mehr um die alten Konflikt zwischen Militär und den Muslimbrüdern.
»Auf der einen Seite ist es nicht wahr, dass Morsi schlimmer ist als Schafik.« Vielmehr sollten die revolutionären Kräfte mit den Muslimbrüdern verhandeln, »die immer noch ein fester Bestandteil des nationalen Kampfes gegen Mubarak und sein korruptes Regime« seien. Ein Boykott wäre dagegen Schafiks große Chance und »dann würden alle verlieren und das darf niemals eine Option sein.«


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