Donnerstag, 27. Mai 2010

Alsharq-Interview mit Wa'el Qut, Mitglied eines Palästinensischen Kommunalrats

Liebe Leserinnen und Leser,

Wa'el Qut ist das jüngste Mitglied des Kommunalrats von Madama, einem kleinen Dorf in der Nähe von Nablus. Hauptberuflich arbeitet Wa'el als Rechtsanwalt für die Zweigstelle des Jerusalem Legal Aid and Human Rights Center in Ramallah. Alsharq sprach mit Wa'el über seine Tätigkeit im Kommunalrat, die Einschränkungen durch die Besatzung und das Verhältnis zur nur wenigen Kilometer von Madama entfernt gelegenen Siedlung Yitshar, deren Bewohner in der Vergangenheit wiederholt umliegende Dörfer, aber auch das israelische Militär attackiert haben.

Wael, du bist erst 27 Jahre alt. Wie kam es dazu, dass du Mitglied des Kommunalrats in deinem Heimatdorf Madama geworden bist?


Nach dem Kommunalwahlgesetz 9/2005 muss man mindestens 25 Jahre alt sein, um zur Wahl zugelassen zu werden. In lokalen Gremien, die bei den letzten Wahlen nicht einbezogen waren, werden die vakanten Posten gefüllt, indem Unterschriften gesammelt werden. Die Menschen bestimmen so ihre Abgeordneten in den Kommunalräten. Und das geschah auch in meinem Dorf, und meine Familie bestand darauf, dass ich als ihr Repräsentant in den Kommunalrat einziehe. Damals war ich 25 Jahre alt und das entsprach auch den legalen Richtlinien.

Ich wollte einfach weiter Gemeinschaftsarbeit leisten und engagiere mich schon sehr lange freiwillig. Aber im kommenden Juli läuft mein Mandat ab, wenn die Wahlen abgehalten werden.


Worin bestehen die größten Herausforderungen für den Kommunalrat?

Ich kann das ganz kurz in einige Punkte aufteilen:

1. Im Dorf wurden keine regulären Wahlen abgehalten, nur dadurch würden wirklich die besten Leute in die Kommunalräte gelangen.

2. Die politische und administrative Teilung des Dorfterritoriums in so genanntes B- und C-Land, also in einen Teil über den die palästinensische Autonomiebehörde die zivile Kontrolle unterhält und in einen Teil, der vollständig unter Kontrolle der israelischen Armee steht.
3. Die Straße, die von den israelischen Streitkräften Anfang der 1990er Jahre eingerichtet wurde, die unser Dorf von der Außenwelt abschneidet und die Wirtschaft im Dorf extrem einschränkt .
4. Die Siedlung Yetshar und die Attacken, die von dort aus von Zeit zu Zeit gegen unsere Leute ausgehen.
5. Lebenswichtige Projekte, die das Dorf zum Überleben braucht, wie etwa eine funktionierende Wasserversorgung. Wir arbeiten an solch einem Projekt und haben dafür auch schon Spenden von USAID und dem Roten Halbmond erhalten.
6. Einige Ratsmitglieder werden beschuldigt, nicht wirklich professionell zu arbeiten, sondern nur ihre Familien zu bevorteilen.
7. Die Mitgliedschaft im Kommunalrat ist ehrenamtlich und die meisten Kommunalräte haben Probleme, ausreichend Zeit zu finden, um ihren Pflichten nachzukommen und gleichzeitig ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Deswegen fehlen viele Mitglieder des Rates bei den regelmäßigen Sitzungen.
8. Die jungen Leute im Dorf treten an den Rat heran, um geeignete Orte für Freizeit und Sport sowie Unterstützung für lokale Sportmannschaften einzufordern. So zum Beispiel ein neues Gebäude für den “Athletic Club”, die einzige aktive Organisation im Dorf, die der Jugend Freizeitbeschäftigung bietet. Aber diese Bedürfnisse gehen über die Kapazitäten unseres Kommunalrates hinaus.


Ist der Kommunalrat zwischen den politischen Gruppen in Palästina gespalten?

Der Rat ist nicht unter den politischen Gruppen, dafür aber unter den drei wichtigsten Familien im Dorf aufgeteilt. Und jede Familie hat verschiedene Sichtweisen auf politische Fragen.


In welcher Hinsicht ist dein Dorf von der Besatzung des Westjordanlandes durch Israel betroffen?

Wie der Rest der palästinensischen Gebiete ist mein Dorf Madama auf sehr inhumane Weise von der Besatzung betroffen. Während der al-Aqsa-Intifada wurden viele Zivilisten, besonders Jugendliche, von den israelischen Streitkräften und auch von den Siedlern verletzt oder getötet. Immer mehr Jugendliche werden verhaftet, 33 allein letztes Jahr. Die meisten von ihnen waren Studenten und Teenager.

Dazu kommt das Problem der Arbeitserlaubnis: In meinem Dorf haben nur 15 bis 20 Leute eine Arbeitserlaubnis erhalten, während die anderen ihr Leben riskieren, wenn sie versuchen, nach Israel zu gelangen, um dort zu arbeiten.

Und dann ist da natürlich die eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Zu Beginn der al-Aqsa-Intifada war die Situation sehr hart. Die Umgehungsstraße umschließt ja unser Dorf. Das machte es den israelischen Streitkräften natürlich einfach, unser Dorf zu isolieren. Ich erinnere mich noch an die desaströse Situation während meines Studiums an der Najah-Universität in Nablus. Wir Studenten mussten oft 2 Kilometer durch bergiges Gelände laufen und manchmal verfolgten uns die israelischen Streitkräfte und schossen auf uns oder feuerten mit Tränengas. Oft wurde ich mit anderen Studenten in demütigender Weise stundenlang im Regen festgehalten.

Ich muss an dieser Stelle unbedingt den Howwara-Checkpoint erwähnen, der ein einschneidender Punkt in meinem Leben und all jener war, die in die Stadt Nablus hinein wollten. Ich habe so viel Stunden nur durch Warten an Checkpoints verloren. Aber heutzutage ist die Bewegungsfreiheit zwischen meinem Dorf und Nablus besser. Früher hat das zwei bis fünf Stunden gedauert, heute etwa 15 Minuten.


Welche Auswirkungen hat die benachbarte Siedlung Yitshar auf die Arbeit des Kommunalrates und das Dorf ?

Yitshar wurde 1983 illegal auf palästinensischem Land gegründet und gilt als eine der schlimmsten Siedlungen im Westjordanland. Die Bewohner dort sind sehr aggressiv und extremistisch. Immer wieder attackieren sie palästinensische Dörfer und zerstören deren Eigentum. Aus diesem Grund trauen sich viele Palästinenser nicht, Land, das nahe der Siedlung liegt, zu bewirtschaften, da es als C-Gebiet geführt, also von der israelischen Armee kontrolliert wird und weil es somit keinen Schutz für die Landarbeiter gibt. Wir müssten eigentlich eine Straße bauen, damit die Farmer zu ihrem Land kommen, aber auch das ist nicht ohne Risiko. Außerdem gibt es nur einen einzigen Brunnen, der das Dorf mit Wasser versorgt – und der liegt auch noch nahe der Siedlung. Die Siedler haben ihn mindestens dreimal zerstört und jedes Mal, wenn wir versuchen ihn zu reparieren, müssen wir das mit der Zivilverwaltung abstimmen – und das lässt sich auch nicht immer erreichen. In den letzten Jahren schaffte es OXFAM, Arbeitsgenehmigungen für die Reparatur zu bekommen und stellte die Kosten dafür sicher. In den letzten drei Jahren haben die Angriffe der Siedler aus Yitshar gegen arabische Dörfer extrem zugenommen.


Besteht Hoffnung, den Konflikt mit den Siedlern zu lösen? Versuchst du mit ihnen in Dialog zu treten und welche Rolle spielt die israelische Armee?

Ich glaube fest daran, dass die einzig faire Lösung darin besteht, diese unmoralische, illegale und hässliche politisch-militärische Besatzung zu beenden und all diese Siedlungen aufzulösen. Ich frage mich: Wie soll ich einen Dialog starten mit Siedlern, die das Land gestohlen haben und jeden Tag Verbrechen gegen uns begehen? Wie dem auch sein, ich bin auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde gar nicht dazu bemächtigt, so einen Dialog mit den israelischen Siedlern einzugehen. Leider bin ich nicht gerade optimistisch, dass dieser Konflikt gelöst werden kann. Jeden Tag sehe ich mit eigenen Augen, wie die Diskriminierung gegen uns zunimmt. Nicht nur, dass die Siedler unser Land besetzen und Verbrechen begehen. Die israelischen Behörden haben ein ganzes System der Diskriminierung geschaffen.

Die israelische Armee sorgt für die Sicherheit der Siedler, egal was diese uns Palästinensern antun, das ist wirklich sehr dumm. Ich habe gerade gelesen, dass die Armee von Siedlern aus Yitshar angegriffen wurde, als sie in der Siedlung trainieren wollte!

Die israelische Armee hält die Palästinenser immer für die Schuldigen, selbst wenn die Siedler eine palästinensische Familie in deren Haus angreift!

Ein ganz einfaches persönliches Beispiel: Vor zwei Jahren wollte ich nach Nablus, um mit meinem Kollegen dort Volleyball zu spielen. Wir liefen an einer Busstation für Siedler in der Nähe des Howwara-Checkpoints vorbei, als plötzlich zwei Siedler ankamen und uns attackierten. Die israelischen Soldaten kamen herbei und bedrohten uns mit vorgehaltener Waffe, so als wenn wir angegriffen hätten! Wir sind dann einfach gegangen ohne etwas zu sagen, weil es sonst sehr einfach für die israelischen Soldaten gewesen wäre, uns festzunehmen und zu Unrecht zu verurteilen. Glaub mir, es ist so einfach für sie…


Kommen wir noch kurz zur allgemeinen Lage im Westjordanland. Einige Analysten im Westen behaupten, dass sich die wirtschaftliche Lage im Westjordanland in den letzten Monaten stetig verbessert, ebenso wie die Lebensumstände der Palästinenser. Kannst du das bestätigen?

Dem würde ich zustimmen. Ich habe gerade gelesen, dass das palästinensische Wirtschaftswachstum im Westjordanland 2009 um 8,5% gestiegen ist. Die Situation hat sich also verbessert, besonders in Ramallah. Allerdings hat das auch einige schwerwiegende Folgen. Im Ramallah schießen die Immobilienpreise zum Beispiel in die Höhe. Und einige Farmer, die im Umland von Ramallah leben, denken jetzt ernsthaft darüber nach, an Investment-Projekte zu verkaufen! Das entspricht nicht der palästinensischen Kultur. Land ist eine rote Linie. Das darf unter keinen Umständen weggegeben werden, sogar, wenn es an palästinensische Firmen verkauft werden würde. Denn das Land ist der Kern des Konflikts um die israelische Besatzung.

Meine persönliche Meinung: Auf der einen Seite bewundere ich diese Entwicklung, aus dem einfachen Grund, dass die Palästinenser hier bessere Möglichkeiten bekommen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Auf der anderen Seite zweifel ich daran, dass dieser Wirtschaftsaufschwung stabil genug ist für die langfristige Zukunft des palästinensischen Staats. Man darf außerdem nicht vergessen, dass diese Entwicklung auf Kosten der politischen Einstellung der palästinensischen Führung geht, da sie von Zahlungen der internationalen Gemeinschaft abhängig ist. Das wird auch von vielen Palästinensern so gesehen.


Wie beurteilst du die Arbeit von Salam Fayyad als Regierungschef im Westjordanland?

Persönlich respektiere ich die Regierung Fayyad, weil sie sehr gut auftritt, besonders was Transparenz anbetrifft. Fayyad arbeitet professionell und er versucht, nah bei den Menschen zu sein. Jede Woche sehe ich ihn wie er verschiedene Orte besichtigt und neue Projekte startet. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Leute durch seine ständigen Auftritte irgendwann genug von ihm haben.

Seine Minister tun dasselbe. Als Mitglied eines einfachen Kommunalrates wurde ich eingeladen, an vielen Meetings und Workshops mit Regierungsmitgliedern teilzunehmen. Wir haben auch keine Probleme nach allem zu fragen, was unsere Gemeinde weiter entwickeln hilft.

Fayyad hat eine gut durchdachte Zukunftsvision auf den Weg gebracht, die auf einer freien Marktwirtschaft und einer Zwei-Staaten-Lösung, die wiederum auf gewaltfreiem Widerstand basiert .

Die Leute begrüßen die Boykott-Kampagne der Regierung Fayyad gegen Produkte, die in den Siedlungen hergestellt werden. Ich glaube, dass die Menschen seine Aktivitäten und Errungenschaften in den Gebieten befürworten.

Also, persönlich schätze ich Salam Fayyad für seine professionelle Arbeitsweise und seine klare Zukunftsvision. Aber als Anwalt wäre es mir lieber, wenn er seine Macht auf legalem Weg erreicht hätte. Viele Juristen bezweifeln die Legalität von Fayyads Regierung und seine politische Einstellung dazu, also wie die Regierung ihr Mandat für so lange Zeit verlängert – und das ohne Zustimmung des Palästinensischen Konsultativrates! Diese kritischen Stimmen kommen von verschiedenen politischen Strömungen, auch von Seiten der Fatah-Führung.

Ich glaube, wenn wir endlich mit der israelischen Seite zu einer Lösung gefunden haben, wäre Salam Fayyad ein konstruktiver Führer der Palästinenser, der ein professionelles, demokratisches und transparentes System einrichten wird.

Gibt es zum Schluss noch etwas, dass du unseren Lesern über die Arbeit des Kommunalrates sagen möchtest?

Die Aufgabe der Kommunalräte besteht laut Gesetz darin, grundlegende Dienstleistungen für die Bewohner bereitzustellen. Eine politische Rolle gibt es für sie hingegen nicht. Jedoch können die Kommunalwahlen natürlich ein Anzeichen für die Popularität der einen oder anderen politischen Partei sein. Ich hoffe, dass der nächste Kommunalrat aus einer transparenten Wahl hervor gehen wird.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir noch Spenden brauchen, um eine Gebäude für unser Freizeit- und Sportzentrum zu bauen. Außerdem sind wir sehr daran interessiert eine Städtepartnerschaft mit Gemeinden in Deutschland einzurichten.

1 Kommentar:

Christoph Dinkelaker hat gesagt…

Bei dem Google-Maps-Link wird Madama fälschlicherweise Israel zugeschrieben.