Von Daniel Gerlach und Robert Chatterjee
Nabil Shaath, palästinensischer Chef-Unterhändler bei den Friedensgesprächen in Washington, über seine Vision des »Endspiels« im Nahostkonflikt, die Sturheit Netanjahus und eine drohende Einstaatenlösung
Alsharq: Herr Shaath, derzeit sieht alles danach aus, als würden die Nahost-Friedensgespräche abermals scheitern. Welchen Handlungsspielraum hat die palästinensische Seite, sollte das geschehen?
Nabil Shaath: Man braucht zwei Partner, um Frieden zu schließen, daran führt kein Weg vorbei. Es besteht jedoch ein fundamentales Ungleichgewicht der Kräfte. Als die Verhandlungen das letzte Mal abgebrochen wurden und die Intifada begann, gab es keine ebenbürtigen Partner mehr. Dies erlaubte Israel anschließend, unser ganzes Territorium erneut zu besetzen und Gaza einzukesseln. So wurde die Grundlage für die Teilung zwischen Gaza und dem Westjordanland geschaffen. Sie haben uns auf jedem erdenklichen Weg für unsere vermeintlich unversöhnliche Haltung im Friedensprozess bestraft. Die Palästinensische Autonomiebehörde existiert, weil wir uns in einem Prozess befinden, aus dem noch kein unabhängiger palästinensischer Staat gereift ist.
Sind der PA politisch die Hände gebunden oder ist sie für diese Stagnation selbst verantwortlich?
Jede israelische Regierung erklärt das, was die vorherige ausgehandelt hat, für nichtig und will von Null anfangen. Und israelische Regierungen von Jitzhak Rabin …
… der in seiner zweiten Amtszeit von 1992 bis 1995 regierte ...
… bis heute glauben, sie könnten, während wir um Land gegen Frieden verhandeln, immer mehr Siedlungen bauen. Deshalb ist eine unserer Optionen, einfach zu sagen: Kommt her, übernehmt alles, besetzt uns wieder, und zwar vollständig! Ihr seid nur noch eine Besatzungsmacht gemäß den Genfer Konventionen. Also müsst ihr bezahlen: für Bildung, Gesundheit, Wachstum. Ihr seid für eure Sicherheit selbst verantwortlich. Das ist das, was ich »Endspiel« nenne. Mahmud Abbas …
… der amtierende Präsident der PA …
… bringt diese Option nicht vor, um zu rechtfertigen, dass es womöglich zu neuen Gewaltausbrüchen kommen wird, sondern, um ein Druckmittel bei den Verhandlungen zu haben. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat uns bereits einen Weg aufgezeigt. Er hat gesagt: »Wenn Netanjahu sich nicht bewegen sollte, werden wir euch als unabhängigen Staat in den Grenzen von 1967 anerkennen – mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt.« Sobald das geschieht, ändert sich der Status der PA. Die Besatzung wird weiter andauern, aber wir werden ein besetzter Staat sein und als solcher mehr Gewicht besitzen.
Ihre Beschreibung des »Endspiels« klingt nach einem strategischen Trick. Indem Sie sich zurückziehen, zwingen Sie die Regierung Netanjahu dazu, Verantwortung zu übernehmen, die sie gar nicht haben will. Präsentieren Sie hier nur die Folterinstrumente oder wäre das wirklich ein gangbarer Weg?
Herr Netanjahu träumt von der anhaltenden Besetzung des Jordantals. Er beschwört den jüdischen Charakter Israels – angefangen mit diesem lächerlichen Eid …
… dem zufolge nichtjüdische Israelis ihre Treue zum »jüdischen Staat« beschwören sollen, wenn sie die Staatsbürgerschaft erlangen wollen.
Ja. Wenn wir zwei Staaten wollen, müssen wir Israel mit der Einstaatenlösung drohen. Die Israelis fürchten sich ja so sehr vor der »demografischen Bombe«, da die palästinensische Bevölkerung schneller wächst als die israelische. Die Einstaatenlösung bedeutet einen Apartheidsstaat. Unter ihm würden Palästinenser und Israelis leiden.
»Wir haben von den Verhandlungen nicht viel erwartet, uns aber trotzdem bemüht.«
Während Präsident Abbas den Friedensprozess aushandelt, ist Premierminister Salam Fayyad mit dem politischen Tagesgeschäft beschäftigt. Die Wirtschaft wächst und es gibt mehr Sicherheit. Würde ein Szenario wie das von Ihnen beschriebene »Endspiel« nicht die gesamten Anstrengungen der Regierung Fayyad zunichte machen?
Da haben Sie völlig Recht. Das Endspiel kam erst in den letzten zwei bis drei Wochen ernsthaft auf den Tisch. Denn während wir verhandelten, lieferten die Amerikaner 20 Kampfjets an Israel. Was zum Teufel soll das? Warum tun die Amerikaner das?
Bisher haben sich viele US-Präsidenten am Nahost-Friedensprozess versucht und sind gescheitert. Ist Barack Obama auch nur ein weiterer Kandidat, dem dieses Schicksal blüht?
Bisher war die Obama-Regierung wirklich eine Enttäuschung. Das hat nichts mit der Integrität, Moral oder dem Intellekt von Barack Hussein Obama zu tun. Es geht um seine Prioritäten. Sie definieren, wie der Präsident der größten Supermacht der Welt Politik betreibt. Präsident Obama hat damit angefangen, den Ruf der Vereinigten Staaten in der islamischen Welt zu verbessern. Er fing an, sich für den Friedensprozess zu engagieren, lud Netanjahu ins Weiße Haus ein und machte seinem Ärger gegen dessen Verhalten in aller Öffentlichkeit Luft. Aber dann verschwand er plötzlich. Die Ölpest im Golf von Mexiko, der Stillstand in Afghanistan, dann der Irak, wo es noch immer keine neue Regierung gibt, und schließlich die wachsende Macht der Republikaner – das alles drängte Obama dazu, seine Prioritäten zu ändern. Um Frieden zu erreichen, brauchen wir die Vereinigten Staaten. Ohne Amerika geht es nicht.
Ist die palästinensische Delegation nur nach Washington gereist, um den Amerikanern einen Gefallen zu tun und ihren guten Willen zu zeigen, ohne wirklich Fortschritte zu erwarten?
Es gibt einen Unterschied zwischen Erwartungen und der Politik. Ein Journalist kann Erwartungen haben, ein Politiker muss Kompromisse aushandeln, selbst wenn es ihm nicht gefällt. Manchmal muss man dafür mit Konventionen brechen: zum Beispiel einen Staat erzwingen, um dann zwei zu bekommen. Wir haben von den Verhandlungen nicht viel erwartet, aber wir haben uns dennoch bemüht. Uns ging es darum zu beweisen, dass wir keine Ausflüchte suchen. Wir hatten schriftliche Positionen ausgearbeitet und sie den Israelis übergeben. Heute behaupten sie, dass wir die Zeit während des zehnmonatigen Siedlungsstopps verschwendet hätten. Außenstehende mögen denken, dass wir im Sessel vor dem Kamin sitzen und Mozart hören. Aber so läuft das nicht.
Der so genannte Fayyad-Plan sieht vor, 2011 einen unabhängigen palästinensischen Staat auszurufen. Ist das realistisch?
Premierminister Fayyad arbeitet darauf hin, diesen Teil unserer Strategie umzusetzen. Er treibt den Aufbau staatlicher Institutionen und eine Verbesserung der Wirtschaftslage voran. Trotzdem ist der Plan umstritten. Zwar hat sich Fayyad das Jahr 2011 auf die Fahne geschrieben. Gleichzeitig sagt er: Auch wenn der Staat erst in zehn Jahren kommt, ist es besser, schon in einem Jahr darauf vorbereitet zu sein. Zu große Erwartungen zu wecken, dass es innerhalb des nächsten Jahres geschieht, ist allerdings nicht klug.
Mittwoch, 27. Oktober 2010
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