Donnerstag, 28. Oktober 2010

Presseschau zu den Wikileaks-Enthüllungen: „Wir haben aufgehört uns aufzuregen“

In der vergangenen Woche veröffentlichte die Internetplattform Wikileaks knapp 400.000 geheime Dokumente über den Krieg im Irak aus den Jahren 2004 bis 2009. Darin wird enthüllt, dass seit dem Sturz Saddams mehr als 100.000 Iraker gewaltsam ums Leben gekommen sind, der Großteil von ihnen Zivilisten. Die Protokolle aus dem Pentagon belegen zudem schwere Misshandlungen und Folterungen irakischer Bürger durch Sicherheitskräfte. In der arabischen Presse sind die Enthüllungen seither zwar das bestimmende Thema, ernsthaft überrascht über das geschilderte Ausmaß der Gewalt im Irak zeigt sich fast keiner der Kommentatoren.


Sabah Ali Shahir, Kommentator für die irakische Zeitung „al-Zaman“, sieht in den hunderttausenden Unterlagen den deutlichen Beleg dafür, dass seit 2003 die USA unverändert die Hauptverantwortlichen dafür seien, was im Irak geschehe. Die Verantwortlichen für die geschilderten Gräueltaten müssten nun zur Verantwortung gezogen werden. „Die Namen derer, die Blut an ihren Händen kleben haben, dürfen nicht länger geschwärzt werden, sondern müssen offengelegt werden“, fordert Shahir. Er hat jedoch nur wenig Hoffnung, dass der Irak dazu in der Lage ist. Die Politiker in Baghdad seien zu schwach und die Verantwortlichen hätten kein Interesse an einer Regierung der Nationalen Einheit, die die Interessen aller Iraker vertrete. Ernüchtert schließt Shahir seinen Kommentar mit den Worten: „Die Besatzung wird keine Befreiung bringen, es gibt keine Freiheit und keine Demokratie unter der Besatzung, das wird im Irak bewiesen.“

Yussuf al-Kuweilit stellt die Enthüllungen aus den Wikileaks-Dokumenten in seinem Kommentar für die in der saudischen Hauptstadt erscheinenden Zeitung „al-Riyadh“ in den historischen Kontext: „Würden die Verbrechen nach internationalem Recht verfolgt, dann ist das was im Irak passiert, nicht weniger schrecklich als das, was in Bosnien & Herzegowina geschah, oder das was über die Vernichtung der Juden und Armenier, über Darfur und anderswo gesagt wird. Das Problem in diesem Fall ist, ganz ähnlich der Verbrechen Israels in Palästina, dass ihre Staatsmänner von der Rechtssprechung der internationalen Gerichte ausgeschlossen sind. Das trifft auch auf Amerika zu, dessen Führer unantastbar hinsichtlich der Verbrechen in Hiroshima, Nagasaki, My Lai und schließlich auch hinsichtlich dessen sind, was die Dokumente über die Ereignisse in Afghanistan und im Irak enthüllt haben.“

„Wer zählt die Opfer?“, fragt Asad Abboud, Herausgeber der staatlichen syrischen Tageszeitung „al-Thawra“ in seinem Leitartikel. US-Außenministerin Hillary Clinton und NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hätten die Veröffentlichung der geheimen Dokumente durch die Internet-Plattform Wikileaks unisono verurteilt, „aber niemand entschuldigt sich für die Tötung unschuldiger irakischer Zivilisten an US-Checkpoints.“ Zornig fährt der Kommentator fort: „ Gibt es in der Geschichte des Rassismus rassistischere Menschen als diese? Oh Gott, mit Ausnahme des terroristischen, faschistischen Gebildes in Israel.“ Die Pentagon-Protokolle enthüllten das wahre Gesicht des imperialistischen, kapitalistischen Westens, gibt sich Abboud überzeugt. Der Preis dafür müsse von Menschen bezahlt werden. Unter dem Strich bleibe nach dem Studium der Wikileaks-Dokumente folgende Erkenntnis: „Die Veröffentlichung belegt den Fakt, dass selbst die Vereinigten Staaten nicht in der Lage sind, die Opfer zu zählen.“

Das in den Vereinigten Arabischen Emiraten erscheinende Blatt „al-Bayan“ fragt in seinem Editorial nach dem Nutzen, den die Welt aus den veröffentlichten Dokumenten ziehen könnte. „Einen Nutzen für die Iraker gibt es praktisch nicht. Sie haben seit dem 9. April 2003 dunkle Momente erlebt, die auch von Millionen Dokumenten nicht beschrieben werden können.“ Die schwersten Folgen könnten die Protokolle für die US-Regierung haben, so der Artikel weiter, auch wenn die gegenwärtige Administration keine Schuld an den geschilderten Verbrechen trage. „Es ist zu hoffen, dass die Enthüllungen den Arabern und in erster Linie den Irakern das Ausmaß der Kriegsverbrechen vor Augen führt, die im Namen von Demokratie, Freiheit und für die Errichtung eines neuen Nahen Ostens begangen wurden.“

„Es läuft etwas falsch, wenn die Veröffentlichung tausender Dokumente, die das routinemäßige Töten und Foltern beschreiben, eine Debatte darüber auslösen, ob die Publikation der Protokolle die richtige Entscheidung war oder ob sie nicht das Leben von Soldaten gefährden könnten“, kritisiert Issandr El Amrani in seinem Kommentar für die ägyptische Zeitung „al-Masry al-Yaum“. Er äußert sich weiter verwundert darüber, dass sich die Medien eher mit der Person des Wikileaks-Gründers Julian Assange und den internen Abläufen seiner Website befassten als mit der Tötung tausender Zivilisten. Unverständlich ist für Amrani zudem, dass der weltweite Aufruhr über die enthüllten Verbrechen weitaus kleiner ausfiel, als im Fall der Folterbilder aus Abu Ghraib, die schon vor sechs Jahren das Ansehen der USA in der Welt erheblich erschütterten. „Wir wissen von der Privatisierung militärischer Macht, wir wissen von den Todesschwadronen des neuen irakischen Regimes, wir wissen das zivile Opfer und Friendly Fire die unvermeidlichen Folgen des Krieges sind. Wir kümmern uns nur nicht mehr darum und haben lange aufgehört uns über die Ereignisse im Irak aufzuregen.“

2 Kommentare:

Ben hat gesagt…

Danke Christoph für die Presseschau! Perspektivenwechsel macht in diesem Kontext wirklich Sinn: Es ist wirklich beachtlich, wie wenig über die Opfer und wie viel über die "Gefährdung von Soldaten" in den deutschen und US-Medien berichtet wird. Double Standards, once again.

M.A. hat gesagt…

Voll Zustimmung zum Vorposter. Merci bien an den Autor!