Montag, 4. April 2011

Zu guter Letzt: Die Araber kehren zur Geschichte zurück

Ein Beitrag des libanesischen Journalisten Muhammad Ali Miqlad, aus dem Arabischen übersetzt von Clemens Recker.

Im letzten Jahrhundert stellte Shakib Arslan seine berühmte Frage: Wieso ist der Westen fortgeschritten und wieso sind die Muslime rückständig? Erst durch das Tunesien Bouazizis und den Midan Tahrir in Kairo kam die Antwort: Das Volk will die Veränderung des Systems. Zuvor wurden die Antworten innerhalb des Systems selbst gesucht, in seiner Struktur und dem, was es umgibt.

Muhammad Ali kam durch das Feld der Wirtschaft und wurde Pascha. Abd al‐Nasir ging durch die Hintertür in die Politik, bewahrte aber das System und beschränkte sich auf die Umstellung der Regierung. Dabei ist doch die Tür zum Eintritt in die moderne Zivilisation, ja in die Geschichte, die Tür der politischen Revolution und keiner anderen Revolution wie etwa einer kulturellen durch Mao Tze Tung oder einer wirtschaftlichen nach dem Vorbild Lenins.


Es ist der Weg der Französischen Revolution selbst, der das System der Erbherrschaft abschaffte und positive Gesetze ausrief, die auf Gewaltentrennung und Herrschaftswechsel gegründet sind. Bereits vor der Französischen Revolution hatten die Niederlande, Spanien und England ihre jeweiligen wirtschaftlichen Revolutionen, aber die Ehre und der Ruhm gebührt niemandem außer der Französischen Revolution, denn sie erreichte, daß die Politik die großartigen Entwicklungen in Kultur und Wirtschaft, die bereits ein Jahrhundert zuvor begonnen hatten, beschützte. Dies geschah auch dadurch, daß Europa das Banner der Zivilisation der Araber annahm, was einem kompetitiven Austausch der Zivilisationen entspricht, nachdem die Araber ihrerseits zuvor von Persern, Byzantinern und Griechen übernommen hatten. Die Zivilisation der Araber war eine Weiterentwicklung der Zivilisationen, die ihr direkt zuvorgekommen waren. Sie zeichnete sich dadurch aus, daß sie den Herrscher zum Herrscher im Namen Gottes oder als Stellvertreter Gottes auf Erden machte, nachdem die Herrscher in vorherigen Zivilisationen wie etwa den Pharaonen, selbst Götter oder zumindest gottähnlich waren. Europa erfand eine neue Entwicklung, indem es den Herrscher zum Repräsentanten des Volkes machte und die Demokratie erfand, indem es aus der Gleichheit einer Elite (wie bei den alten Griechen) eine Gleichheit aller Bürger machte.

Im Namen dieser Zivilisation breitete Europa sich in der Welt aus und die arabische Region war die erste, die von diesem Kontakt profitierte, als Napoleon nach Ägypten kam. Dies ist richtig, auch wenn die (europäischen, C.R.) Errungenschaften mit zwei Gesichtern kamen: dem Gesicht der Zivilisation und dem Gesicht des Imperialismus. Wir waren nicht die einzigen, die in Verlegenheit ihre Zweifel fallen ließen, aber wir waren die am entschlossensten und lehnten das Angebot vom ersten Moment an ab, während andere es annahmen ‐ zwangsweise wie in China oder freiwillig wie in Japan.

Es ist die Zivilisation des Kapitalismus, die sich selbst als Zivilisation des Wissens, der Industrie und der Demokratie präsentierte und die arabische Abneigung ihr gegenüber reichte vom ersten religiösen Fundamentalismus bis zum letzten säkularen Extremismus. Wir haben dieser Zivilisation (der kapitalistischen, C.R.) alle mögliche Namen außer ihrem richtigen gegeben: westliche Zivilisation, materialistische Zivilisation, christliche Zivilisation usw.

Wir erklärten sie zum Feind und zielten auf sie und beschuldigten sie des Angriffs auf Reinheit und Geschichte. Wir widerstanden ihr mit allem, was uns an blindem Fundamentalismus, Ignoranz und Unkenntnis und allen Formen der Rückständigkeit gegeben wurde. Wir versuchten, ihr mit der Verschließung in uns selbst zu begegnen, ja wir erfanden zu ihrer Bekämpfung alles, was der Geist aus den Reihen des Despotismus hervorbringen kann, Altes wie Neues, vom Folterkeller bis zum Töten, Exilieren, Gefängnis, Geheimdienste, Sicherheitsdienste usw.

Bestehend blieb in dieser Reihe nur die politische Erbfolge und zu ihr kam die ägyptisch‐tunesische Antwort, die jetzt in allen Teilen der Umma wiederklingt: Das Volk will die Veränderung des Systems!

Von der unvollständigen Erfahrung Muhammad Alis bis zur panarabistischen Bewegung, die an der Konfrontation mit den Herausforderungen ihrer Zeit zugrunde ging, haben wir versucht, diese historische Frage zu beantworten. Die erste Antwort kam vom islamischen Fundamentalismus kurz vor und nach der Ankunft Napoleons einerseits und vom Osmanischen Reich andererseits, das sich auf eine repressive Politik stützte. Dies geschah dadurch, daß die islamisch-osmanisch‐arabische Rückständigkeit in den Augen der Verfechter dieser Position nur ein Ergebnis der Unkenntnis der Muslime von den Wurzeln ihrer Religion sei. Dies bedeutet, daß die Lösung nur in einer Rückkehr zu den Wurzeln zu finden sei. Aber diese Lösung verkannte alle Fundamente des vollständigen westlichen und kapitalistischen Fortschritts ‐ im Denken wie in der Politik wie in der Wirtschaft.

Die Sanusiya war das vielleicht vollständigste dieser fundamentalistischen Experimente, das sich aber damit begnügte, leichte Veränderungen in der Administration der bestehenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ordnung durchzusetzen, aber keine substantielle Veränderung des Fundaments dieses Systems anstrebte, wie es zwei Jahrhunderte später der Sozialismus versuchen würde, der sich auf die Verteilung des Reichtums anstatt seiner Erwirtschaftung konzentrierte.

Der nationalistische Fundamentalismus sah im Kapitalismus stets nur dessen häßliches Gesicht ‐ den Imperialismus, und bekämpfte ihn genauso wie es auch der Marxismus tat und den Kapitalismus aus der Geschichte tilgen wollte, um auf seinen Trümmern eine neue Gesellschaft zu erreichten, die mit dem Sozialismus beginnt.

Doch diese kompromisslosen und fundamentalen Ablehungen ‐ religiös, nationalistisch oder marxistisch ‐ hatten nichts gemein außer der Ablehung der guten Seite der kapitalistischen Zivilisation, also der Ablehnung der Demokratie. Vielleicht ist dies der Grund für das singuläre Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts: Fortbestehen der erblichen Herrschaft in der arabischen Welt allein, ohne Entsprechung in anderen Ländern der Erde, und dies in jeder Herrschaft seit der Zeit der ersten vier Kalifen, im späteren Kalifatsstaat oder in den aus ihm hervorgegangenen zersplitterten Kleinstaaten oder auch in den oppositionellen Partei‐, Organisations‐ und Stammessystemen. Und wenn sich die militärischen Putsche in den unabhängigen Ländern ereigneten, dann nur um die selbe Position zu verherrlichen, die die Demokratie und den Wechsel der Herrschaft in der arabischen Welt ablehnt, und damit die Bedeutung des Wortes Revolution zu verstümmelten.

Es dauerte also ungefähr zwei Jahrhunderte, zwei Jahrhunderte der Halsstarrigkeit gegenüber der Geschichte, ja dem Ausgang der Araber aus der Geschichte, bis die Initialzündungen in Tunesien und Ägypten kamen, die das Ende der Militärputsche und das erste Dekret, das die Aufmerksamkeit wieder auf die Revolution lenkte, verkündigten: dem grundlegenden Wandel in der Struktur von Gesellschaft und Staat und nicht nur im politischen System, ein Wandel, der insbesondere Platz schaffte für den Übergang in eine demokratische Epoche, die Herrschaft des Volkes, den Wandel zum Rechtsstaat, Gleichheit und Chancengleichheit und Freiheit und Gerechtigkeit und Gewaltenteilung.

Die arabische Region hatte alle Antworten ausprobiert: Der Islam ist die Lösung: dessen Implementierung in Algerien bedeutete Bürgerkrieg und in Iran und Afghanistan die Abschaffung der Meinung des anderen.

Die nationale Einheit ist die Lösung: Die Erfahrungen der freiwilligen ägyptisch-syrischen Union und der unfreiwilligen zwischen Libanon und Syrien oder der Besetzung Kuwaits durch den Irak sind voll von Katastrophen.

Der Sozialismus ist die Lösung: Mit dem Untergang des Experiments in seinem Mutterland gingen auch alle Experimente des Sozialismus, die sich dessen angenommen hatten, zugrunde.

Was all diese Lösungen gemeinsam hatten ist die Ablehnung der Demokratie und die arabischen Länder von zwei Alternativen zu stellen: Despotie oder Bürgerkrieg und Teilung. Vom Irak im Osten bis Algerien im Westen, vom Libanon im Norden bis Jemen im Süden sind es die gleichen Schicksale. Entweder Verewigung von Herrschaftssystemen, Herrschaft von Konfessionen,
Stämmen und Erben ... oder Bürgerkrieg. Bis die klare Antwort aus Ägypten und Tunesien kam: Die Lösung liegt in der Demokratie.

Die Französische Revolution hat keinen zivilen Frieden gestiftet, aber das Fundament für ihn gelegt. Auch die kapitalistische Zivilisation brauchte zwei Weltkriege, um sich davon zu überzeugen, daß Demokratie nicht nur Wahlurnen bedeutet, sondern daß sie zuvorderst Chancengleichheit im Erreichen von Wohlstand und Wissen meint, sowie eine Gerechtigkeit, die auf nichts außer der Gewaltenteilung und dem Herrschaftswechsel beruht.

Alles, was wir hoffen, ist, daß die arabische Welt keine lange Zeit und keine Übel des Bürgerkriegs braucht, um sich davon zu überzeugen, daß die Tür zur modernen Geschichte der Aufbau eines demokratischen Staates ist.

Der Text ist im Original erschienen als: Akhiran ... Al‐'Arab ya'udun ila al‐tarikh. Al‐Hayat International Edition,
Ausgabe Nr. 17519, 23. März 2011, S. 9

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Interessanter Zugang, nur leider ungebührlich vereinfachend - dass sich etwa erbliche Systeme überall in der Welt überlebt hätten außer in der arabischen Sphäre, ist einfach falsch, denn hier wie dort verstecken sich gleichartige Diktatoren und den gleichen pseudodemokratischen Floskeln. Das schreiende Beispiel der Kim Dynastie in Nordkorea oder ähnlicher Konstrukte in Afrika und Asien spricht ja für sich.

Auch ist die "westliche" Kultur viel zu einheitlich und positiv dargestellt (was zugegebenermaßen bei Außenperspektive leicht geschieht) - gerade das Musterland der (jakobinisch-) revolutionären Ideologie, die USA, sind ein klassisch aristokratisch verwaltetes System ähnlich dem vorimperialen Rom. Und gerade in der Zeit einer technokratischen Überwucherung Europas kann angesichts eines völlig undurchschaubaren und vom "Volk" weitgehend abgekoppelten EU-Apparats kaum die Rede von einer geglückten demokratischen Entwicklung sein.

Schließlich führt der Autor leider auch die Identifikation des osmanischen Reiches mit der antiwestlichen Reaktion weiter, wie sie die Westmächte des 19. Jh. und in ihrem Gefolge die Jungtürken des frühen 20. Jh. geprägt haben - was sie aber noch nicht richtig mach. Gerade das osmanische Reich war trotz seiner wirtschaftlich-militärischen Schwäche ein ideologisch und kulturell relativ offenes Gebilde, das eher zuviel als zuwenig von Europa übernahm. Der antiwestlichen Reaktion die Schuld für dessen Scheitern (und das der ganzen arabischen Nation) zu geben, halte ich für zu einseitig.