Ein Gastbeitrag von Sebastian Elsässer
Ahmad al-Tayyib wählte die große Bühne. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet hatten im Frühjahr 2011 eine Handvoll Azhar-Gelehrte über Wochen mit mehreren Dutzend namhaften säkularen Intellektuellen, darunter auch Christen, zusammengesessen und über die Zukunft Ägyptens diskutiert: Was sollen die Grundlagen der neuen Ordnung sein? Wie soll das Verhältnis von Islam und Staat definiert werden? Und welche Rolle soll die Azhar-Institution im neuen Ägypten spielen? Obgleich es den Intellektuellen zweifellos gelungen war, dem Dialog ihren Stempel aufzudrücken, wandte sich der Großscheich selbst am 20. Juni an die nationale Öffentlichkeit, um das Ergebnis vorzustellen: die »Erklärung der Azhar und einer Elite von Intellektuellen zur Zukunft Ägyptens«.
Lange Zeit am Gängelband des Mubarak-Regimes geführt, ist die traditionsreiche Azhar auf der Suche nach der eigenen Rolle im neuen Ägypten. In der Revolution spielte sie keine wesentliche Rolle, auch wenn sich einzelne Imame früh auf Seite der Demonstranten stellten. Doch im öffentlichen Bewusstsein galt der Staatsislam bis zuletzt als Marionette des Regimes, während die Muslimbrüder geschickt revolutionäre Meriten erwarben. Durch den Auftritt der Salafisten wurde die Konkurrenz im religiösen Lager noch größer. In dieser Situation wandte sich die Azhar-Führung nun interessanterweise an die liberale Bildungselite, um mit ihr zusammen eine Vision des neuen Ägyptens zu entwickeln.
Beide Seiten – Intellektuelle und Islamgelehrte – bekunden in der Azhar-Erklärung ihren gegenseitigen Respekt. So betont das Dokument die »Führungsrolle der Azhar« und bezeichnet sie als »zuständige Autorität in Sachen Islam, Islamwissenschaften, islamisches Erbe, und islamisches Denken«. Gleichzeitig wird jedoch betont, dass daraus kein Monopol auf Meinungsäußerung abzuleiten sei und dass »jede Person mit der nötigen wissenschaftlichen Befähigung« den Islam interpretieren darf. Aus dem Kontext lässt sich schließen, dass damit nicht nur Islamgelehrte im engeren Sinn gemeint sind, sondern auch »Philosophen, Juristen, Schriftsteller und Künstler« – eine durchaus bemerkenswerte Aussage.
Bekenntnis zur Glaubensfreiheit – mit einer Einschränkung
Die Richtung, in die sich Ägypten in Zukunft entwickeln soll, wird schon in der Einleitung klar vorgegeben und eindeutig säkular definiert: Ziel sei »ein demokratischer Wandel, der soziale Gerechtigkeit garantiert«. Ägypten solle endlich »in das Zeitalter der Wissensproduktion eintreten und dadurch Wohlstand und Frieden erreichen«. Dabei sollen »spirituelle und menschliche Werte und das kulturelle Erbe«, sowie »islamische Prinzipien« gewahrt werden. Diese und andere Formulierungen bekräftigen die religiöse und kulturelle Bindung politischer Grundwerte, ohne jedoch Menschen- und Bürgerrechte wie in früheren Verlautbarungen der Azhar, etwa dem Verfassungsentwurf von 1978, direkt durch einen Hinweis auf »die islamische Scharia« einzuschränken.
Die Erklärung befürwortet die »Gründung eines modernen demokratischen Verfassungsstaates«, in dem alle Staatsbürger die gleichen Rechte und Pflichte haben sollen. Die Gesetzgebung obliegt ausschließlich den Vertretern des Volkes, aber die »globalen Prinzipien der islamischen Scharia« sollen nach wie vor die »Hauptquelle der Gesetzgebung« sein – wie es auch bisher Artikel 2 der ägyptischen Verfassung vorsieht.
An verschiedenen Stellen bekennt sich die Azhar-Erklärung zu einer umfassenden Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Wichtigste Einschränkung bleibt dabei der Bezug auf die drei Offenbarungsreligionen Islam, Christentum und Judentum, die offenbar allein auf staatliche Anerkennung zählen können, wobei offen bleibt, ob den Anhängern aller anderen Religionen zumindest eine individuelle Religions- und Gewissensfreiheit zugestanden werden kann.
Seitenhieb auf die Salafisten
Interessant ist die weitere Spezifizierung des Grundprinzips der Religionsfreiheit im Bezug auf die religiöse Vielfalt innerhalb der Hauptreligionen Islam und Christentum. So wird betont, dass alle religiösen Bräuche frei und ungehindert ausgeübt werden dürfen und alle verschiedenen Formen des Gottesanbetung zu respektieren sind, und dies im expliziten Bezug auf die »Kultur des Volkes und seine authentischen Traditionen« – ohne Zweifel ein Seitenhieb gegen den intoleranten Purismus bestimmter islamistischer Tendenzen, wie etwa der Salafisten.
Bemerkenswert sind auch die Ausführungen zu Dialog, Pluralismus und Toleranz, welche nach einer »Kultur des Verschiedener-Meinung-Seins« und einer »Ethik des Dialogs« verlangen. Konkret wird abgelehnt, dass Andersdenkende als Ungläubige oder Verräter diffamiert werden und »die Religion zum Zwecke des Sähens von Hass und Zwietracht« missbraucht wird. Aufhetzung zu religiöser Diskriminierung, ebenso wie konfessionell motivierte und rassistische Tendenzen sollen geächtet werden, damit der Umgang miteinander in Form eines »Dialogs auf gleicher Augenhöhe in gegenseitigem Respekt« stattfinden kann.
Was die Rolle der Azhar und Ägyptens in der Welt angeht, fällt auf, dass dem islamischen Band keinerlei privilegierte Rolle zugesprochen wird. Die Erklärung betont lediglich, dass die »zivilisatorischen Errungenschaften in den menschlichen Beziehungen«, darunter alle internationalen Verträge und Abkommen, an denen Ägypten beteiligt ist, »im Einklang mit den Traditionen der arabisch-islamischen Kultur und der ägyptischen Nation« stehen sollen. Im Zeichen von Kooperation und gemeinsamen Interessen soll Ägypten zu allen Staaten der Welt freundschaftliche Beziehungen unterhalten, um in Wiederaufnahme seiner historischen Führungsrolle »einen Beitrag zum menschlichen Fortschritt zu leiten«. Israel wird nicht explizit erwähnt, sondern lediglich vage festgehalten, dass ägyptische Außenpolitik »das Recht der Palästinenser« verteidigen soll.
Weg vom staatlichen Gängelband
Ein letzter wichtiger Punkt ist die Forderung nach der Unabhängigkeit der Azhar-Institution, die zuvorderst darin zum Ausdruck kommen soll, dass der Großscheich von einem Gremium angesehener Islamgelehrter ausgewählt und nicht, wie unter dem alten Regime, vom Staatspräsidenten ernannt werden soll. Zudem soll die Azhar nach Meinung der Verfasser durch eine Verbesserung der Lehre ihre ursprüngliche intellektuelle Rolle wiedergewinnen.
Zweifellos spiegelt die Azhar-Erklärung die Eigeninteressen beider Parteien, der Intellektuellen und der Islamgelehrten, wieder. Für das liberale und säkulare Spektrum ist der Dialog mit der Azhar eine Chance, dem von religiöser Seite gerne vorgebrachten Vorwurf der Islamferne entgegenzuwirken. Ob das gelingt, könnte ein entscheidender Faktor bei den kommende Wahlen sein. Die Azhar ihrerseits sieht sich einer wachsenden Vielzahl religiöser Stimmen und Bewegungen gegenüber und ist bemüht, nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Zudem möchte sie im Windschatten der Revolution endlich das Joch der staatlichen Gängelung loswerden, unter dem sie seit dem Azhar-Gesetz von 1961 leidet. Dafür wirbt sie schon jetzt erfolgreich um Unterstützung in allen Lagern.
Diese Umstände schmälern aber nicht den inhaltlichen Wert des Dokuments. Dem Islamismus und seiner zentralen Vorstellung, dass alle gesellschaftlichen und politischen Probleme der Moderne durch eine Rückkehr zum wahren Islam zu bewältigen sind – oft unter dem handlichen Slogan »Der Islam ist die Lösung« komprimiert – wird eine deutliche Absage erteilt. Die Zukunft Ägyptens, so sind sich alle Beteiligten einig, liegt in der Umsetzung der Forderungen der Revolution: Demokratie, Freiheit, Pluralismus und religiöse Toleranz. Auch die Idee der Bewahrung des religiösen und kulturellen Erbes ist nicht wirklich kontrovers, wird aber natürlich zwischen Liberalen und Konservativen, Säkularen und Islamisten ganz unterschiedlich verstanden – und auch in der Azhar-Erklärung eher vage formuliert.
Genug Bewährungsproben für den neuen Azhar-Kodex
Die Reaktionen in der ägyptischen Öffentlichkeit waren überwältigend positiv, was den Anspruch der Azhar-Erklärung, einen gesellschaftlichen Konsens auszuformulieren, untermauert. Die staatlichen Medien sprachen von einem »historischen Dokument«. Die breite Zustimmung war sicher nicht überraschend: Eine große Mehrheit der Ägypter wünscht sich ein fortschrittliches politisches System und mehr Freiheiten, hält aber gleichzeitig an religiös-konservativen Familienwerten fest und möchte keineswegs die Religion aus dem öffentlichen Raum verbannen. Einige Kritiker aus dem liberalen, säkularen und linken Spektrum bemängelten lediglich die fehlende Klarheit des Dokuments und die Verwässerung säkularer politischer Prinzipien durch religiöse Bezüge und Klauseln.
Weitaus negativer war die Reaktion im religiös-konservativen und islamistischen Spektrum. Hier wurde es sicher als Zurücksetzung, wenn nicht offener Affront empfunden, dass die Azhar-Leitung einen exklusiven Dialog mit »Säkularisten« geführt und dessen Ergebnisse auch noch als ihren eigenen Standpunkt veröffentlicht hatte. Die Muslimbruderschaft stellte sich nicht gegen das Dokument, versuchte jedoch, seine Bedeutung mit der Behauptung herunterzuspielen, die Azhar-Erklärung habe zum Standpunkt der Bruderschaft und den gängigen Ansichten des sunnitischen Islams nichts hinzuzufügen. Radikalere Stimmen lehnten hingegen das Dokument rundweg ab, da es keine konkreten Bezüge auf Koran und Sunna enthalte – ebenso wenig wie die islamistische Forderung nach einer umfassenden Implementierung der Scharia.
Auch unter Azhar-Gelehrten und –Absolventen gibt es sicherlich nicht wenige Anhänger einer solchen Sichtweise. Vor diesem Hintergrund muss sich noch zeigen, ob die Azhar-Leitung in der Lage und willens ist, den eingeschlagenen Kurs durchzuhalten und konkret umzusetzen, etwa im Kontext von religiösen Spannungen zwischen Christen und Muslimen oder in Debatten um die Grenzen künstlerischer Freiheit. Erst wenn der Großscheich im Umgang mit den zu erwartenden Konflikten in diesen und anderen Bereichen dem Bekenntnis zu Meinungs- und Gewissensfreiheit und zu einer Kultur der Toleranz treu bleibt – und dabei auch internen Kritikern die Stirn bietet – wird man wohl mit Recht von einem historischen Schritt sprechen können.
Ahmad al-Tayyib wählte die große Bühne. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet hatten im Frühjahr 2011 eine Handvoll Azhar-Gelehrte über Wochen mit mehreren Dutzend namhaften säkularen Intellektuellen, darunter auch Christen, zusammengesessen und über die Zukunft Ägyptens diskutiert: Was sollen die Grundlagen der neuen Ordnung sein? Wie soll das Verhältnis von Islam und Staat definiert werden? Und welche Rolle soll die Azhar-Institution im neuen Ägypten spielen? Obgleich es den Intellektuellen zweifellos gelungen war, dem Dialog ihren Stempel aufzudrücken, wandte sich der Großscheich selbst am 20. Juni an die nationale Öffentlichkeit, um das Ergebnis vorzustellen: die »Erklärung der Azhar und einer Elite von Intellektuellen zur Zukunft Ägyptens«.
Lange Zeit am Gängelband des Mubarak-Regimes geführt, ist die traditionsreiche Azhar auf der Suche nach der eigenen Rolle im neuen Ägypten. In der Revolution spielte sie keine wesentliche Rolle, auch wenn sich einzelne Imame früh auf Seite der Demonstranten stellten. Doch im öffentlichen Bewusstsein galt der Staatsislam bis zuletzt als Marionette des Regimes, während die Muslimbrüder geschickt revolutionäre Meriten erwarben. Durch den Auftritt der Salafisten wurde die Konkurrenz im religiösen Lager noch größer. In dieser Situation wandte sich die Azhar-Führung nun interessanterweise an die liberale Bildungselite, um mit ihr zusammen eine Vision des neuen Ägyptens zu entwickeln.
Beide Seiten – Intellektuelle und Islamgelehrte – bekunden in der Azhar-Erklärung ihren gegenseitigen Respekt. So betont das Dokument die »Führungsrolle der Azhar« und bezeichnet sie als »zuständige Autorität in Sachen Islam, Islamwissenschaften, islamisches Erbe, und islamisches Denken«. Gleichzeitig wird jedoch betont, dass daraus kein Monopol auf Meinungsäußerung abzuleiten sei und dass »jede Person mit der nötigen wissenschaftlichen Befähigung« den Islam interpretieren darf. Aus dem Kontext lässt sich schließen, dass damit nicht nur Islamgelehrte im engeren Sinn gemeint sind, sondern auch »Philosophen, Juristen, Schriftsteller und Künstler« – eine durchaus bemerkenswerte Aussage.
Bekenntnis zur Glaubensfreiheit – mit einer Einschränkung
Die Richtung, in die sich Ägypten in Zukunft entwickeln soll, wird schon in der Einleitung klar vorgegeben und eindeutig säkular definiert: Ziel sei »ein demokratischer Wandel, der soziale Gerechtigkeit garantiert«. Ägypten solle endlich »in das Zeitalter der Wissensproduktion eintreten und dadurch Wohlstand und Frieden erreichen«. Dabei sollen »spirituelle und menschliche Werte und das kulturelle Erbe«, sowie »islamische Prinzipien« gewahrt werden. Diese und andere Formulierungen bekräftigen die religiöse und kulturelle Bindung politischer Grundwerte, ohne jedoch Menschen- und Bürgerrechte wie in früheren Verlautbarungen der Azhar, etwa dem Verfassungsentwurf von 1978, direkt durch einen Hinweis auf »die islamische Scharia« einzuschränken.
Die Erklärung befürwortet die »Gründung eines modernen demokratischen Verfassungsstaates«, in dem alle Staatsbürger die gleichen Rechte und Pflichte haben sollen. Die Gesetzgebung obliegt ausschließlich den Vertretern des Volkes, aber die »globalen Prinzipien der islamischen Scharia« sollen nach wie vor die »Hauptquelle der Gesetzgebung« sein – wie es auch bisher Artikel 2 der ägyptischen Verfassung vorsieht.
An verschiedenen Stellen bekennt sich die Azhar-Erklärung zu einer umfassenden Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Wichtigste Einschränkung bleibt dabei der Bezug auf die drei Offenbarungsreligionen Islam, Christentum und Judentum, die offenbar allein auf staatliche Anerkennung zählen können, wobei offen bleibt, ob den Anhängern aller anderen Religionen zumindest eine individuelle Religions- und Gewissensfreiheit zugestanden werden kann.
Seitenhieb auf die Salafisten
Interessant ist die weitere Spezifizierung des Grundprinzips der Religionsfreiheit im Bezug auf die religiöse Vielfalt innerhalb der Hauptreligionen Islam und Christentum. So wird betont, dass alle religiösen Bräuche frei und ungehindert ausgeübt werden dürfen und alle verschiedenen Formen des Gottesanbetung zu respektieren sind, und dies im expliziten Bezug auf die »Kultur des Volkes und seine authentischen Traditionen« – ohne Zweifel ein Seitenhieb gegen den intoleranten Purismus bestimmter islamistischer Tendenzen, wie etwa der Salafisten.
Bemerkenswert sind auch die Ausführungen zu Dialog, Pluralismus und Toleranz, welche nach einer »Kultur des Verschiedener-Meinung-Seins« und einer »Ethik des Dialogs« verlangen. Konkret wird abgelehnt, dass Andersdenkende als Ungläubige oder Verräter diffamiert werden und »die Religion zum Zwecke des Sähens von Hass und Zwietracht« missbraucht wird. Aufhetzung zu religiöser Diskriminierung, ebenso wie konfessionell motivierte und rassistische Tendenzen sollen geächtet werden, damit der Umgang miteinander in Form eines »Dialogs auf gleicher Augenhöhe in gegenseitigem Respekt« stattfinden kann.
Was die Rolle der Azhar und Ägyptens in der Welt angeht, fällt auf, dass dem islamischen Band keinerlei privilegierte Rolle zugesprochen wird. Die Erklärung betont lediglich, dass die »zivilisatorischen Errungenschaften in den menschlichen Beziehungen«, darunter alle internationalen Verträge und Abkommen, an denen Ägypten beteiligt ist, »im Einklang mit den Traditionen der arabisch-islamischen Kultur und der ägyptischen Nation« stehen sollen. Im Zeichen von Kooperation und gemeinsamen Interessen soll Ägypten zu allen Staaten der Welt freundschaftliche Beziehungen unterhalten, um in Wiederaufnahme seiner historischen Führungsrolle »einen Beitrag zum menschlichen Fortschritt zu leiten«. Israel wird nicht explizit erwähnt, sondern lediglich vage festgehalten, dass ägyptische Außenpolitik »das Recht der Palästinenser« verteidigen soll.
Weg vom staatlichen Gängelband
Ein letzter wichtiger Punkt ist die Forderung nach der Unabhängigkeit der Azhar-Institution, die zuvorderst darin zum Ausdruck kommen soll, dass der Großscheich von einem Gremium angesehener Islamgelehrter ausgewählt und nicht, wie unter dem alten Regime, vom Staatspräsidenten ernannt werden soll. Zudem soll die Azhar nach Meinung der Verfasser durch eine Verbesserung der Lehre ihre ursprüngliche intellektuelle Rolle wiedergewinnen.
Zweifellos spiegelt die Azhar-Erklärung die Eigeninteressen beider Parteien, der Intellektuellen und der Islamgelehrten, wieder. Für das liberale und säkulare Spektrum ist der Dialog mit der Azhar eine Chance, dem von religiöser Seite gerne vorgebrachten Vorwurf der Islamferne entgegenzuwirken. Ob das gelingt, könnte ein entscheidender Faktor bei den kommende Wahlen sein. Die Azhar ihrerseits sieht sich einer wachsenden Vielzahl religiöser Stimmen und Bewegungen gegenüber und ist bemüht, nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Zudem möchte sie im Windschatten der Revolution endlich das Joch der staatlichen Gängelung loswerden, unter dem sie seit dem Azhar-Gesetz von 1961 leidet. Dafür wirbt sie schon jetzt erfolgreich um Unterstützung in allen Lagern.
Diese Umstände schmälern aber nicht den inhaltlichen Wert des Dokuments. Dem Islamismus und seiner zentralen Vorstellung, dass alle gesellschaftlichen und politischen Probleme der Moderne durch eine Rückkehr zum wahren Islam zu bewältigen sind – oft unter dem handlichen Slogan »Der Islam ist die Lösung« komprimiert – wird eine deutliche Absage erteilt. Die Zukunft Ägyptens, so sind sich alle Beteiligten einig, liegt in der Umsetzung der Forderungen der Revolution: Demokratie, Freiheit, Pluralismus und religiöse Toleranz. Auch die Idee der Bewahrung des religiösen und kulturellen Erbes ist nicht wirklich kontrovers, wird aber natürlich zwischen Liberalen und Konservativen, Säkularen und Islamisten ganz unterschiedlich verstanden – und auch in der Azhar-Erklärung eher vage formuliert.
Genug Bewährungsproben für den neuen Azhar-Kodex
Die Reaktionen in der ägyptischen Öffentlichkeit waren überwältigend positiv, was den Anspruch der Azhar-Erklärung, einen gesellschaftlichen Konsens auszuformulieren, untermauert. Die staatlichen Medien sprachen von einem »historischen Dokument«. Die breite Zustimmung war sicher nicht überraschend: Eine große Mehrheit der Ägypter wünscht sich ein fortschrittliches politisches System und mehr Freiheiten, hält aber gleichzeitig an religiös-konservativen Familienwerten fest und möchte keineswegs die Religion aus dem öffentlichen Raum verbannen. Einige Kritiker aus dem liberalen, säkularen und linken Spektrum bemängelten lediglich die fehlende Klarheit des Dokuments und die Verwässerung säkularer politischer Prinzipien durch religiöse Bezüge und Klauseln.
Weitaus negativer war die Reaktion im religiös-konservativen und islamistischen Spektrum. Hier wurde es sicher als Zurücksetzung, wenn nicht offener Affront empfunden, dass die Azhar-Leitung einen exklusiven Dialog mit »Säkularisten« geführt und dessen Ergebnisse auch noch als ihren eigenen Standpunkt veröffentlicht hatte. Die Muslimbruderschaft stellte sich nicht gegen das Dokument, versuchte jedoch, seine Bedeutung mit der Behauptung herunterzuspielen, die Azhar-Erklärung habe zum Standpunkt der Bruderschaft und den gängigen Ansichten des sunnitischen Islams nichts hinzuzufügen. Radikalere Stimmen lehnten hingegen das Dokument rundweg ab, da es keine konkreten Bezüge auf Koran und Sunna enthalte – ebenso wenig wie die islamistische Forderung nach einer umfassenden Implementierung der Scharia.
Auch unter Azhar-Gelehrten und –Absolventen gibt es sicherlich nicht wenige Anhänger einer solchen Sichtweise. Vor diesem Hintergrund muss sich noch zeigen, ob die Azhar-Leitung in der Lage und willens ist, den eingeschlagenen Kurs durchzuhalten und konkret umzusetzen, etwa im Kontext von religiösen Spannungen zwischen Christen und Muslimen oder in Debatten um die Grenzen künstlerischer Freiheit. Erst wenn der Großscheich im Umgang mit den zu erwartenden Konflikten in diesen und anderen Bereichen dem Bekenntnis zu Meinungs- und Gewissensfreiheit und zu einer Kultur der Toleranz treu bleibt – und dabei auch internen Kritikern die Stirn bietet – wird man wohl mit Recht von einem historischen Schritt sprechen können.
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