Was, wenn die 42 Jahre des Gaddafi-Regimes unser Bild von Libyen verfälscht haben? Das fragt sich Christian Merville im libanesischen L`Orient le Jour. »Der Beweis: Nicht die Islamisten haben am Samstag den Sieg geholt, sondern ein Verband, dessen Anführer deren Autorität und Lehre in Frage stellt.« Mahmud Jibril habe aufgezeigt, dass die islamische Religion zu wichtig sei, um sie für politische Zwecke zu benutzen. »Es galt, etwas zu wagen, und Mahmud Jibril hat das getan. Und zwar mit Erfolg, wie die ersten Resultate beweisen.«
Ausschlaggebend für die Entscheidung der Wähler sei jedoch das »ethnische Element« gewesen. »Dies ist der Grund, warum der Anführer der Allianz der nationalen Kräfte, der zum mächtigen, eine Million Mitglieder starken Stamm der Warfalla gehört, die Mehrzahl der 80 Sitze geholt hat.« Sollte Jibril tatsächlich als Sieger aus dieser friedlichen Konfrontation hervorgehen, »könnte das Land auf den Weg zur Vereinigung einbiegen, die noch nie so nah erschien.«
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Rami G. Khouri, Kolumnist beim libanesischen Daily Star, mahnt zur Besonnenheit: Die ersten Wahlergebnisse der Post-Gaddafi-Ära sollten in einem größeren historischen Kontext gesehen werden – »im Gegensatz zu unserer Überreaktion auf die unmittelbaren Entwicklungen oder unsere Übertreibungen jeder einzelnen Entwicklung und Tendenz.« Damit spielt er auf das relativ schwache Abschneiden der islamischen Parteien an, welches die internationalen Medien häufig thematisierten. Primäre Aufgabe der Libyer sei eben nicht nur, ein legitimes politisches System zu erschaffen, sondern auch, das Konzept eines einzigen libyschen Staates, der von allen Bürgern anerkannt wird, zu bekräftigen – wozu sie bisher nie die Gelegenheit hatten. »Meine Vermutung ist, dass Libyen sich immer noch mit den grundlegendsten Elementen der Staatsbildung befasst, denn nun übertrumpft die Stammeszugehörigkeit die Religion bei der Vereinigung von politischer Macht im öffentlichen Raum.«
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»Wladimir Putin kann nicht länger sagen: Schaut, was die Nato in Libyen angerichtet hat!«
Sati Nur al-Din setzt die libyschen Wahlen in seinem Kommentar für al-Safir aus Beirut in Beziehung zur Lage in Syrien. Besonders geht er auf den Standpunkt der russischen Regierung gegenüber den Entwicklungen in beiden Ländern ein. Die Wahlen in Libyen hätten die Argumentation Russlands zu Fall gebracht. »Wladimir Putin kann nicht länger sagen: Schaut, was die Nato in Libyen angerichtet hat! Selbst der Kreml musste anerkennen, dass die Wahl weitestgehend fair und frei – und noch wichtiger – ruhig und friedlich verlief.« Nach Einschätzung des Kommentatoren sei dies die »wichtigste und größte Überraschung« seit Ausbruch der arabischen Revolten. Die Nato-Intervention sei »schmerzhaft und verdächtig« gewesen, habe aber dem libyschen Volk die einzigartige Möglichkeit gegeben, ihr Land neu aufzubauen. Russland solle nun aus dieser Erfahrung lernen und sich nicht länger gegen eine ausländische Intervention in Syrien stemmen – »damit es den libyschen Fehler nicht wiederholt«.
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Auch Yasser Abu Hilala vergleicht in seinem Kommentar für die jordanische Zeitung al-Ghad die Lage in Libyen mit der in einem anderen arabischen Staat – Ägypten. Obwohl die Armee und Sicherheitskräfte nach dem Zusammenbruch des Gaddafi-Regimes aufgelöst wurden, sei die Sicherheitslage im Umfeld der Wahl besser gewesen als in Ägypten – einem Land, das von der Armee kontrolliert wird. Hilala vergleicht Abdel Hakim Belhadj, den ehemaligen Kommandeur der libyschen Rebellen, und Mohammed Hussein Tantawi, den Chef des ägyptischen Militärrats. »Belhadj schmeckte die Bitterkeit der Gefangenschaft unter Gaddafi, unter Amerikanern und Briten und ist sich der Bedeutung von Freiheit und Menschenrechten bewusst. Er eroberte Tripoli, um einer des Volkes zu sein, nicht um das Volk zu regieren.« Ganz anders der ägyptische Militärchef: »Tantawi hat seine Zukunft hinter sich. Er bewegte sich nicht, als Israel während des Gaza-Krieges die ägyptische Souveränität verletzte. Es ist Aufgabe der Armee, das System vor Feinden aus dem Inneren zu schützen, also vor dem ägyptischen Volk.« In Ägypten blockiere das Militär einen demokratischen Staat, während die libyschen Rebellen freie Wahlen ermöglichten.
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Brudervolk statt Bruderführer
Im dem Leitkommentar der in Katar erscheinenden Zeitschrift al-Raya wird unter dem Titel »Katar steht an der Seite Libyens!« in höchsten Tönen die libysch-katarische Freundschaft beschworen. »Der Staat Katar versichert erneut, dass er, wie schon immer, fest an der Seite Libyens steht. Die ausgezeichneten Beziehungen, die Katar mit dem libyschen Brudervolk verbunden haben, zeigten sich in der finanziellen und politischen Unterstützung während der gesegneten Revolution, die im Sieg über Unterdrückung und Diktatur und in der Verleihung der Freiheit mündete.« Das libysche Volk habe während der Wahlen »große Verantwortung« gezeigt und der Kommentar hegt die Hoffnung auf »konstruktive Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern und beiden Brudervölkern« in der Zukunft.
Eine der größten Herausforderungen sind nach Meinung des Kommentars die Verbesserung der Sicherheitslage, für die insbesondere eine Integration der bewaffneten Milizen in die reguläre Armee sorgen sollte. Zudem müsse der Prozess nationaler Versöhnung vorangetrieben werden. Das libysche Volk hat die Prüfung der ersten Parlamentswahlen nach der Revolution erfolgreich bestanden. Es zeigte Reife, Verantwortung und großen Eifer bei der Errichtung eines modernen Libyens, das durch die Wahlurne, den Volkswillen und Pluralismus regiert wird – und Aussicht auf Wachstum und Entwicklung und den Aufbau eines modernen Staates für jeden seiner Staatsbürger hat.« Leider verschweigt der Kommentar, dass die Einwohner Katars auf die meisten genannten staatsbürgerlichen Rechte noch warten müssen.
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In der saudi-arabischen Zeitung al-Riyadh schreibt Jusuf Al-Kawalit über »Libyen und den annähernden Übergang zur Demokratie«. Unabhängig der politischen Ausrichtung der Parteien, ob liberal oder islamistisch, hätte diese ein »Bild der nationalen Einheit« abgezeichnet. Die Parteien werden zwar ihre thematischen Differenzen nicht beenden. Aber dennoch konnten die Barrieren von Tribalismus und Separatismus überwunden werden, was zu einem neuen Bewusstsein führte. Dennoch steht eine jegliche neue Regierung vor gewaltigen Aufgaben, wozu besonders die zahlreichen anstehenden institutionellen Reformen zählen.
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»Hat irgendwer etwas von Demokratie gesagt?«
»Es ist etwas Positives geschehen, am Samstag in Libyen«, schreibt Boaz Bismuth im israelischen Massenblatt Israel Hajom. »Libysche Bürger haben das erste Mal seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis frei gewählt. Für ein Land, das keinerlei institutionelle Infrastruktur hat, verliefen die Wahlen ziemlich friedlich.« Gleichzeitig warnt der ehemalige Botschafter Israels in Mauretanien davor, zu große Hoffnungen in den Transformationsprozess zu setzen, denn um kein Land des »Arabischen Frühlings oder Winters« sei es schlimmer gestellt, als um Libyen, wozu neben den ethnischen und tribalen Spannungen auch Salafisten und al-Qaida-Mitglieder beitrügen. »Aber es gibt eine Sache, die die Islamisten in Libyen nicht machen können: die Scharia im Land einführen. Aber auch das nur, weil die von Mustafa Abdel Jalil geführte Übergangsregierung das Scharia-Recht bereits implementiert hat«, schreibt er mit Blick auf die Muslimbruderschaft weiter und schließt seinen Kommentar mit den Worten: »Hat irgendwer etwas von Demokratie gesagt?«
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Ähnlich sieht das Avi Issacharoff, der sich für die israelische Tageszeitung Haaretz über das Beifallklatschen westlicher Medien über den Sieg »der Liberalen« wundert – wobei »liberal« mit dem Nicht-Islamisten-Lager und damit mit Mahmud Jibril gleichgesetzt würde. Daneben warnt er vor dem radikalen Jihadisten Abdel Hakim Belhadj und gibt den Journalistenkollegen einen Rat mit auf den Weg: »Wir müssen ruhig abwarten, weil es eine Weile dauern wird, bis wir verstehen werden können, in welche Richtung Libyen geht.«
www.haaretz.co.il
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