Lieber Leser,
in der öffentlichen Diskussion über Demokratisierung des Nahen Osten wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder auf die wachsende Rolle der Zivilgesellschaft verwiesen. Als wichtiges Indiz für eine positive Entwicklung der Zivilgesellschaft wurde die Expansion von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gesehen. Andrea Liverani hat sich jahrelang mit der Entwicklung von NGOs in Algerien beschäftigt und kommt zu interessanten Schlussfolgerungen die den meisten bisherigen Annahmen widersprechen.
Im folgenden erscheint eine Rezension des Buchs “Civil Society in Algeria - The political function of associational life” in dem Liverani seine Ergebnisse zusammenfasst. Die Rezension stammt aus der kommenden Ausgabe der DAVO-Nachrichten. Die DAVO ist die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient und ist Mitausrichter des diesjährigen Deutschen Orientalistentag (DOT) in Marburg .
Eine verbreitete und zutiefst euphorische Ansicht vieler westlicher Akteure über demokratische Entwicklungen in Entwicklungsländern lautet nach Liverani wie folgt: NGOs bilden die Stützen der Zivilgesellschaft und eine Entwicklung der Zivilgesellschaft ist das Wundermittel gegen jegliche Formen autoritärer Herrschaft und schlechter Regierungsführung. Daraus folgt: Je mehr NGOs es in einem Land gibt, desto mehr zivilgesellschaftliches Leben ist vorhanden und entsprechend weit ist die demokratische Entwicklung vorangeschritten.
Diese vereinfachten Annahmen laufen nach Liverani aber an den Realitäten im Nahen Osten vorbei. Anhand des Beispiels Algerien zeichnet Liverani detailliert ein widersprechendes Bild, denn seit Anfang der 90er Jahre hat dort eine massive Expansion des NGO-Sektors (associational life) nur oberflächliche Fortschritte für die Demokratisierung bedeutet. Die Vervielfältigung von NGOs habe sich im Gegenteil vielmehr als herrschaftsstabilisierend für ein autoritäres Regime erwies.
Unter dem verwendeten Begriff „associational life“ fasst Liverani dabei ein breites Spektrum von Debatierclubs, islamische Hilfsvereinigungen, Entwicklungsorganisationen, Verbrauchervertretungen, Clubs, Stiftungen sowie Menschenrechts- und Frauengruppen.
Den Rahmen für seine Untersuchung bilden die politischen und sozialen Entwicklungen in Algerien zwischen 1987 und 2005. So durchlebte Algerien ab den 80er Jahren eine langwierige ökonomische Krise, die dazu führte dass der Rentierstaat den Umfang seiner sozialen Leistungen nicht mehr aufrechterhalten konnte. Auf diese Krise folgte eine politische Liberalisierung, die islamistische FIS drohte durch Wahlen an die Macht zu gelangen.
Das demokratische Zwischenspiel wurde jedoch abrupt durch einen Militärputsch am 11. Januar 1992 beendet, der die Rückkehr zum Autoritarismus bedeutete. Der darauf folgende zehnjährige bewaffnete Konflikt zwischen Islamisten und der Armee forderte ca. 150.000 Todesopfer. Zusätzlich wurde der Zentralstaat durch einzelne regionale Aufstände, wie im Jahre 2001 durch die Berber der Kabylei, herausgefordert.
Parallel zu diesen Konflikten expandierte wie erwähnt die Anzahl der NGOs in Algerien. So vervielfachte sich die Anzahl registrierter Vereine von 1990 bis 2006 von 11.000 bis 73.000. Liverani zeigt anhand einer Fülle von Beispielen, dass diese Expansion keineswegs eine Antwort unterdrückter sozialer Gruppen auf die autoritäre Herrschaft war, sondern vielmehr auf unterschiedliche Weise dem Regime nützte.
So zog sich die Regierung aufgrund fallender Einnahmen im Verlauf der Wirtschaftskrise seit Ende der 80er Jahren aus zahlreichen Bereichen staatlicher Dienstleistungen zurück. Diese Lücke wurde in der Folge durch private Initiativen gefüllt, sodass im Ergebnis diverse NGOs weite Bereiche der Fürsorgen und Wohlfahrt dominierten (S.31). Für das Regime hatte dies gleich zwei positive Effekte: Zum einen konnten die Ausgaben reduziert werden, zum anderen wurde die Expansion der NGOs der Internationalen Gemeinschaft und den auswärtigen Geldgebern als erfolgreiche Demokratisierungsmaßnahme verkauft. Zusätzlich nahm der Staat den privaten Sektor öffentlich in die Pflicht. So zeigt Liverani auf, wie bei einer verheerenden Flutkatastrophe im November 2001 von Regierungsseite, erfolgreich vom eigenen Planungsversagen abgelenkt wurde und die Hauptschuld auf den angeblich zuständigen NGO-Sektor geschoben wurde. (S.36).
Während von einer westlichen Perspektive große Hoffnungen in das NGO-Leben gesteckt werden, herrscht innerhalb Algeriens hingegen seit längerem Misstrauen vor. So mangelt es den meisten NGOs an Mitgliedern, selbst wenn sie über ein Büro verfügen sind die Organisationen häufig inaktiv. NGOs mit vollmundigen Namen aber nur zwei bis drei Mitgliedern sind so keine Seltenheit. (S.55) Die beschriebene Vermehrung der Anzahl von NGOs, die als Demokratisierungsfortschritt bewertet wurde, hat bei genauerem Hinsehen manchmal auch ganz simple Ursachen. So spalten sich viele Vereine schon nach kurzer Zeit aufgrund von Machtkämpfen und Streit zwischen den Mitgliedern, was dann zu einer Reihe von Neugründungen führt. Ein positiver statistischer Effekt kann hier also vielmehr auf Organisationsprobleme zurückgeführt werden, was das positive Gesamtbild eines expandierenden NGO-Sektors infrage stellt (S.56ff.).
Liverani beschreibt zahlreiche sogenannte Wohltätigkeitsorganisationen, die in Vorgehen und Struktur vielmehr Wirtschaftsunternehmen ähneln als vermeintlich altruistische Vereinigung. Signifikante Ressourcen werden in diesen Fällen in Werbung und Marketing investiert und ganze Abteilungen arbeiten am öffentlichen Image der Organisation, um immer mehr öffentliche Gelder einzutreiben. (S.61)
Auch die innere Struktur der funktionierenden NGO lässt dabei aus einem demokratietheoretischen Standpunkt zu wünschen übrig. Denn viele NGOs werden über Jahre von ein und demselben Präsidenten dominiert. Dieser umgibt sich als Machtbasis meist mit Familienangehörigen, die entweder formale Mitglieder der NGO sind oder gleich zum Stamm der Angestellten gehören. (S.62ff)
Liverani zeigt darüber hinaus, dass NGOs manchmal als reine Verteilungskanäle für die Ministerien im Sinne eines politischen Klientelismus fungieren. So stieg der Anteil des Budgets diverser Ministerien, das direkt an NGOs verteilt wird, seit den 90er Jahren systematisch an. Erklärtes Ziel ist dabei, an möglichst viele Organisationen Geld zu verteilen. Als Nebeneffekt ergibt sich durch dieses Gießkannenprinzip, dass ein Anreizsystem etabliert wurde, immer neue NGOs zu gründen, um an die begehrten Staatsgelder zu gelangen (S.85).
Auch die Tätigkeit von westlichen NGOs in Algerien sieht Liverani in einem pessimistischen Licht und bilanziert, dass deren Aktivitäten weniger die Souveränität des algerischen Regimes untergraben hätten, als vielmehr indirekt entscheidend zu seiner internationalen Legitimität beigetragen haben.
Liveranis Buch ist insgesamt ein wertvoller Beitrag in der stattfindenden Neubewertung der Rolle von lokalen NGOs in der politischen Entwicklungsarbeit. Es bietet einen fundierten Analyserahmen, um viele Entwicklungen, insbesondere in den 90er Jahren, kritisch zu reflektieren.
Liverani, Andrea (2008): Civil Society in Algeria, The political function of associational life, 224 S., Routledge, New York, ISBN 978-0-415-77583-0
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