Sonntag, 15. Mai 2011

»Nein sagen zur Unterdrückung« - Christen in der ägyptischen Revolution


Interview: Sebastian Elsässer

Der  koptische Aktivist Rami Kamel, 24, Jurastudent an der Kairo-Universität, schildert, wie er zum Revolutionär der ersten Stunde wurde und wie er und seine Mitstreiter den Kampf um koptische Anliegen im neuen Ägypten fortsetzen wollen.

Nach den blutigen Auseinandersetzungen im Kairoer Viertel Imbaba mit zwölf Toten und hunderten Verletzten, bei denen auch drei Kirchen zum Teil schwer beschädigt wurden, steht das kriselnde Verhältnis zwischen Muslimen und Christen erneut im Fokus der Öffentlichkeit. Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art seit der Revolution. Anfang März wurde im Dorf Sol, 50 Kilometer südlich von Kairo, eine Kirche angegriffen und in Brand gesetzt. In Kairo lieferten sich kurz darauf Muslime und Christen aus den Armenvierteln am Muqattam-Berg blutige Straßenschlachten. Gleichzeitig schürt Ängste das aggressive Auftreten der Salafisten-Bewegung vor einer zunehmenden Islamisierung im nachrevolutionären Ägypten. Sind die ägyptische Christen also die eigentlichen Verlierer der Revolution? Sind sie nach dem Sturz von Mubaraks Sicherheitsstaat den Angriffen extremistischer Muslime mehr denn je schutzlos ausgeliefert? Die Berichterstattung über die Lage in Ägypten übersieht oft, dass im Windschatten der Revolution auch der koptische Widerstand gegen Diskriminierung und religiös motivierte Gewalt neue Dimensionen der Mobilisierung erreicht hat.

Alsharq: Man sagt, dass viele Kopten bis jetzt politisch passiv geblieben sind, weil sie keine Möglichkeiten sahen, sich zu engagieren. Wie kamen Sie selbst zur Politik?

Rami Kamel: Zunächst engagierte ich mich im kulturellen Bereich, und kam dadurch in Kontakt mit Leuten, die im Bereich der Menschenrechte und in den  Oppositionsparteien aktiv sind. In den letzten Jahren haben die Kopten immer mehr ihre traditionelle Haltung abgelegt, Missstände und Ungerechtigkeit schweigend zu ertragen. Ich war aber der Meinung, dass die Kopten ihren Protest noch stärker auf die Straße tragen müssten. Zusammen mit dem koptisch-orthodoxen Priester Vater Mityas Nasr und dem Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Hani al-Gaziri rief ich zu einem Generalstreik der koptischen Bevölkerung am 11. September 2009 auf. Unser Aufruf stieß auf ein sehr großes Echo in den Medien, und fand viele Fürsprecher, aber auch viele Gegner. Damit hatten wir zum ersten Mal die Mauer des Schweigens durchbrochen.
Aus dieser Mobilisierung entstand die Bewegung »Kopten für Ägypten« (»Aqbat min agl Masr«), die über tausend Mitglieder erreichte. Ich und andere junge Aktivisten waren aber unzufrieden, weil die Bewegung von den älteren Mitgliedern diktatorisch geführt wurde. Deswegen gründeten wir Ende 2010 die »Front der Koptischen Jugend« (»Gabhat ash-Shabab al-Qibti«), die auch an den Ereignissen von Umraniyya im November 2010 teilnahm, als es  bei einem Streit um einen Kirchenbau zu massiven koptischen Demonstrationen kam. Damals  hatten wir 3 Tote und viele Verletzte zu beklagen, 150 Demonstranten wurden festgenommen.

Die Kopten waren also durch diese Ereignisse, und natürlich durch den Terroranschlag in Alexandria am 1. Januar 2011, schon gegen das Regime aufgebracht. Führte das dazu, dass sie sich auch gleich aktiv an den Protesten des 25. Januar beteiligten? 

Wir als »Front der Koptischen Jugend« verkündeten am 24. Januar unsere Teilnahme am »Tag des Zorns«. Doch andere koptische Aktivisten waren gegen eine Teilnahme und sagten: »Diese Revolution wird doch von den Muslimbrüdern dominiert.« [Anm.: Die Muslimbrüder nahmen allerdings erst ab dem 28. Januar an den Protesten teil.] Zusammen mit der negativen Einstellung der Kirche gegenüber den Protesten machte das unsere Lage schwierig. Nicht mehr als 1500-2000 junge Kopten folgten unserem Aufruf. In Anbetracht der Tatsache, dass täglich Hunderttausende auf dem Tahrir-Platz demonstrierten, war unsere Anzahl also vergleichsweise sehr gering.  

»Es war wichtig, dass die Christen als Gruppe auftreten«

Gab es denn unter den anderen Gruppierungen keine Christen?

Doch, natürlich! Aber die Frage ist doch: Treten die Christen als einzelne Individuen auf oder als Gruppe? Eine individuelle Teilname bleibt doch immer schwach und symbolisch, und deswegen war es uns wichtig, als Gruppe aufzutreten und zu sagen: »Wir Christen unterstützen die Revolution!«, »Die Kirchenleitung vertritt nicht unsere politische Meinung!« Unsere Teilnahme an der Revolution sollte zum Ausdruck bringen, dass wir uns an einem nationalen Konsens beteiligen. Selbst wenn die Revolution nicht erfolgreich gewesen wäre, wäre uns dennoch der Stolz und die Ehre geblieben, gezeigt zu haben, dass es unter den Kopten Leute gibt, die dem Regime die Stirn bieten, und die »Nein« sagen zur Unterdrückung. 

Wie haben Sie den 28. Januar erlebt, den Tag an dem aus den Protesten ein richtiger Volksaufstand wurde?

Unser Treffpunkt war die Khazindar-Moschee in Shubra, wo wir uns nach dem Mittagsgebet den muslimischen Demonstranten anschließen wollten, um mit ihnen Hand in Hand zum Tahrir-Platz zu marschieren. Die Sicherheitskräfte hatten schon Aufstellung genommen, und sobald das Gebet zu Ende war, regneten auch schon Tränengasgranaten auf uns nieder. Auf Umwegen gelangten wir dennoch in die Nähe des Stadtzentrums. Unsere Zahl stieg auf dem Weg stetig von ungefähr 7000 auf 15.000 Personen.
In der Nähe des Tahrir-Platzes trafen wir auf eine Gruppe von Muslimen, die gerade das Nachmittagsgebet verrichteten. Wir stellten uns vor sie, um sie während des Gebets vor den Sicherheitskräften zu schützen. Kurz darauf begannen die Sicherheitskräfte, uns mit Gummigeschossen zu beschießen. Zusammen mit einigen Freunden beschloss ich, nach Shubra zurückzukehren, denn wir gingen davon aus, dass sich dort weitere Demonstranten versammelt hatten.
Mit diesen Leuten gelang es uns, über die Shubra-Straße direkt in Richtung Tahrir-Platz bis zur Ramses-Straße vorzudringen. Die Sicherheitskräfte waren überall und beschossen uns unaufhörlich mit Tränengas. Dennoch standen die Demonstranten nur noch ungefähr 500 Meter vom Tahrir-Platz entfernt. War waren alle euphorisch, schon so nahe an unserem Ziel zu sein und rannten los, doch die Sicherheitskräfte hatten nur ihre Kräfte gesammelt und setzten zum Gegenangriff an. Ich wurde von dem Tränengas ohnmächtig und entkam nur knapp.
Ich kehrte ein weiteres Mal nach Shubra zurück, wo sich in der Zwischenzeit eine große Menge Demonstranten versammelt hatten, ungefähr fünfmal mehr als noch am frühen Nachmittag. Sie hatten ein großes Plakat aufgespannt auf dem stand: »Muslime, Christen – Wir sind alle Ägypter«. Die Stimmung war sehr ermutigend. Ich hatte genug von der Polizeigewalt und versuchte, die anderen zu überzeugen, nicht zum Tahrir-Platz zu marschieren. Doch da kamen Leute aus dem Stadtzentrum und berichteten uns, dass die Sicherheitskräfte dort kapituliert hätten. 

»War’s das? Haben wir gewonnen? Wir konnten es nicht glauben«

Wie haben die Bereitschaftspolizisten reagiert?

Der Kommandant der Bereitschaftspolizei (al-Amn al-Markazi) in Shubra weigerte sich jedoch, aufzugeben und abzuziehen. Und das, obwohl seine Soldaten schon von den Demonstranten umzingelt waren, und einige von ihnen weinten, weil sie mit der Situation überfordert waren. [Die Bereitschaftspolizei besteht aus Wehrpflichtigen, d.R.] Wir sagten zu ihnen: »Ihr seid unsere Brüder, wir wissen dass ihr nur Befehle befolgt.« Doch als sie uns erneut mit Tränengas beschossen, stürmten einige Demonstranten zornig auf sie zu und sie flüchteten sich in ein KFC-Schnellrestaurant. Ich und andere politische Aktivisten versuchten, eine Menschenkette zu bilden, um Sachbeschädigung zu vermeiden und die Soldaten vor der wütenden Menge zu schützen. Einige flüchteten jedoch weiter in eine nebenan liegende Bank, die daraufhin von der Menge mit Steinen beworfen wurde. Wir gingen hinein, nahmen ihnen ihre Waffen und Uniformen ab und ließen sie ziehen. Der Kommandant war vollkommen entgeistert und weigerte sich bis zum Schluss, mit uns zu verhandeln.
Wir waren nun ein großer Demonstrationszug mit 50.000 bis 60.000 Menschen. Überall auf dem Weg zum Tahrir-Platz fanden wir ausgebrannte Fahrzeuge und Soldaten der Bereitschaftspolizei, die ihre Uniformen ausgezogen hatten und mit den Leuten marschierten. Die Stimmung kam mir vor wie im Film: Wir liefen ungehindert mitten auf der Ramses-Straße entlang, alle Straßenlaternen waren erloschen und in der Ferne sah man Feuer und Qualm am Tahrir-Platz. War’s das? Haben wir gewonnen? Wir konnten es nicht glauben. Über das Radio hörten wir, dass die Armee auf die Straße geschickt worden war, und wir waren sehr froh darüber.
Während wir marschierten, schauten sich einige um und fragten: »Wo ist die koptische Jugend?« Da rief die ganze Menge: »Muslime, Christen, wir sind alle Ägypter!« Einige hielten religiöse Bilder in die Höhe, an die sie die ägyptische Fahne angeheftet hatten. Diese Ereignisse waren die bewegendste Erfahrung meines Lebens. Bis zum 11. Februar, dem Tag des Rücktritts Mubaraks, war ich jeden Tag auf dem Tahrir-Platz. Ich glaube, dass diejenigen, die das miterlebt haben, die Eliten sein werden, die diesen Geist in der kommenden Zeit weitertragen.

Welche Rolle spielte die »Front der Koptischen Jugend« auf dem Tahrir-Platz?

Die negative Einstellung der Kirche und der »Kopten für Ägypten« gegenüber der Revolution war für uns Kopten auf dem Tahrir-Platz eine schwere Hypothek. Zwar empfingen uns alle mit offenen Armen und wir leisteten unseren Beitrag in den Revolutionskomitees. Als sich aber die »Koalition der Revolutionären Jugend« (I’tilaf Shabab al-Thaura) offiziell formierte, weigerten sie sich, uns als Teilgruppe aufzunehmen, mit der Begründung dass wir eine an die Religionszugehörigkeit gebundene Gruppierung seien. Dabei sind wir keine religiöse Bewegung, sondern führen einen säkularen Diskurs und kämpfen für einen säkularen Staat! Gleichzeitig nahmen sie aber die jungen Aktivisten der Muslimbrüder auf, weil die sich besser artikulieren konnten und besser organisiert waren als wir. Am 2. Februar beispielsweise, dem »Blutigen Mittwoch« oder »Tag der Kamelschlacht« waren wir in den Revolutionskomitees nur mit 10 bis 15 Leuten vertreten, während die Muslimbrüder 560 Mitglieder stellten.

Wie kam es zu dem koptischen Sit-In vor dem Radio- und Fernsehgebäude vom 7. bis zum 15. März? 

Als sich die Ereignisse um die Kirche von Sol abspielten, bin ich selbst dorthin gefahren. Was dort zunächst vorgefallen war – ein Verhältnis zwischen einem jungen Christen und einer jungen Muslimin – ist doch ein alltägliches Problem. Wir erwarteten, dass nach dem gängigen Brauch die Familie des jungen Christen gezwungen werden würde, das Dorf zu verlassen. Als aber die Kirche angegriffen und zerstört wurde, bekam die Geschichte natürlich eine andere Dimension. Zusammen mit Vater Mityas Nasr und einigen Leuten aus Sol organisierten wir daraufhin eine Demonstration vor dem Radio- und Fernsehgebäude in Kairo am Samstag, den 5. März. Als die Armee nicht auf unsere Forderungen reagierte, begannen wir einen Sit-In.
In der ersten Nacht war unsere Anzahl sehr gering, nur 70-80 Leute, doch in den folgenden Tag stieg unsere Anzahl stetig. Am dritten Tag kam eine Gruppe von Priestern, die uns davon überzeugen sollten zu gehen. Doch Vater Mityas Nasr stand inmitten der Demonstranten und sagte zu ihnen: »Egal wer kommt, um euch zum Gehen zu überreden, geht nicht! Ihr seid hier, um euer Recht einzuklagen!« Seine Haltung hat uns sehr beeindruckt und ermutigt. 

»Die Kirchenleitung sollte sich nicht in politische Dinge einmischen«

Am 9. März löste die Armee zusammen mit Schlägern den Sit-In am Tahrir-Platz auf, der seit dem 28. Januar ununterbrochen bestanden hatte. Hatten Sie keine Angst, dass Ihnen Ähnliches widerfahren würde? 

Der psychische Druck auf uns Organisatoren war immens. Täglich versuchten bezahlte Schläger, sich unter uns zu mischen und Probleme innerhalb der Demonstration zu machen, um dem Militär einen Vorwand zum Eingreifen zu geben. Jeden Tag erhielten wir von den Kommitees, die den Zugang kontrollierten, eine Tasche voll beschlagnahmter Waffen und Drogen.
Am sechsten Tag schickte der Militärrat schließlich einen General als Unterhändler. Wir verhandelten mehr als fünf Stunden lang mit ihm. Der General sagte: »Eure Forderungen  sorgen für religiöse Spannungen, Ägypten ist in Gefahr, was ihr hier macht, ist inakzeptabel.« Wir entgegneten: »Wenn Ägypten in Gefahr ist, dann nur deswegen, weil das, was den Kopten passiert, zu religiösen Spannungen und zu einem Bürgerkrieg führen wird. Deswegen müssen die Probleme der Kopten gelöst werden. Das Militär kann nicht den gleichen Diskurs gegenüber den Kopten führen wie Mubarak, auch das muss sich nach der Revolution ändern.«
Am Samstag erklärte das Militär schließlich, dass es die Kirche von Sol am gleichen Ort wieder aufbauen würde. Danach beschlossen wir das Sit-In zu beenden, obwohl Vater Mityas Nasr damit nicht einverstanden war und noch auf die Erfüllung weiterer Forderungen warten wollte. Aber wir Aktivisten waren müde und konnten nicht mehr.

Wie geht es jetzt weiter im Kampf um koptische Anliegen? Was sind die Folgen der Revolution für den politischen Aktivismus unter Kopten?

Aus der Erfahrung der Revolution folgen für mich verschiedene Dinge. Erstens, es kann nicht mehr angehen, dass sich die Kirchenleitung in politische Dinge einmischt. Zweitens, wir als koptische Jugend müssen ein Teil des nationalen Konsens sein, und ich und meine Mitstreiter müssen diesen Gedanken unter den Kopten verbreiten. Drittens, wir müssen die Errungenschaften der Revolution verteidigen, damit sie eine säkulare Revolution bleibt und nicht zu einer religiösen Revolution wird.
Ausgehend von diesen Punkten versuchen wir, der koptischen Jugendbewegung eine klar formulierte politische Philosophie zu geben. Wir streben jedoch keine Parteigründung an, sondern möchten, dass unsere Mitglieder sich in jeglichen säkularen Parteien engagieren.
Was unsere politischen Ziele angeht, so sprechen wir von drei Hauptpunkten. Der wichtigste Punkt wird sein, den säkularen Staat gegen diejenigen zu verteidigen, die einen religiösen Staat befürworten, wie zum Beispiel die Muslimbrüder und Salafisten. Der zweite Punkt ist die Sicherung der Bürgerrechte. Wir wollen nicht nur gleiche Rechte auf dem Papier, sondern ein umfassendes System, in dem alle Ägypter als gleichwertige Bürger leben können. Der dritte Punkt ist, dass in der Politik die Probleme der Kopten offen und aufrichtig zur Sprache kommen und gelöst werden. Es gibt Probleme im Kirchenbau, im Bildungsbereich, mit den Medien und so weiter. Alle diese Probleme müssen in Angriff genommen werden. Unser Projekt soll also ein patriotisches Projekt innerhalb des nationalen Konsens sein, das aber gleichzeitig die koptischen Anliegen für wichtig erachtet und ihre Lösung anstrebt.


Rami Kamel, 24,

ist Jura-Student an der Kairo-Universität. Ende 2010 gründete er die »Front der Koptischen Jugend« (»Gabhat ash-Shabab al-Qibti«), mit der er sich an den Protesten, die zum Sturz Mubaraks führten, beteiligte. Seitdem kämpft er mit der im März neuformierten »Vereinigung der Maspero-Jugend« für eine stärkere Berücksichtigung koptischer Anliegen.

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