Donnerstag, 19. Mai 2011

Presseschau zum Nakba-Tag: "Nichts hat sich geändert seit 1947"

Eine Presseschau von Christoph Dinkelaker, Dominik Peters, Christoph Sydow und Björn Zimprich.

Am vergangenen Sonntag haben Palästinenser in aller Welt den Nakba-Tag begangen, der an die Flucht und Vertreibung von Hunderttausenden Arabern aus Palästina in Folge der Staatsgründung Israels vor 63 Jahren erinnert. In diesem Jahr marschierten an dem Gedenktag hunderttausende Palästinenser und Araber im Westjordanland und im Gazastreifen, im Libanon und in Syrien auf die israelische Grenze zu um damit ihr Recht auf Rückkehr in die Heimat ihrer Vorfahren einzufordern. Ähnliche Versuche von Gruppen in Ägypten und Jordanien wurden von den dortigen Sicherheitskräften unterbunden. Ähnlich wie die Protestbewegungen gegen die autoritären Regierungen in den arabischen Staaten wurden die Demonstrationszüge vom vergangenen Woche maßgeblich über Facebook organisiert. Bei den Zusammenstößen an Israels Außengrenzen wurden insgesamt 15 Palästinenser getötet, mehr als hundert weitere Araber und dutzende Israelis wurden verwundet.

Zeitungskommentatoren in Israel zeigen sich einmal mehr erstaunt darüber, wie präsent das Trauma der Flucht auch nach 63 Jahren noch bei den heute lebenden Palästinensern ist. Zugleich fürchtet man, dass die Ereignisse vom 15. Mai die Araber darin bestärken könnten, den Sturm auf Israels Grenzen zu wiederholen. In der arabischen Presse wird der Protest der Palästinenser in den Kontext der Aufstandsbewegungen in der Arabischen Welt gesetzt. Gleichzeitig gibt es Stimmen die davor warnen, die palästinensische Sache für eigene politische Zwecke zu missbrauchen. Unter dem Strich geben sich die arabischen Kommentatoren zuversichtlich, dass das Rückkehrrecht der Palästinenser in Zukunft durchgesetzt werden könne.


„Ich habe Neuigkeiten für euch, meine lieben Vettern: Es wird keine Rückkehr geben“

Der Sturm auf Israels Nordgrenzen und den Erez-Checkpoint im Gaza-Streifen haben das Land vor eine große Frage gestellt, die Jossi Peled, General a.D. und derzeitiges Regierungsmitglied ohne Portfolio, am vergangenen Montag prägnant im israelischen Radio formuliert hat: „Was machen wir, wenn nicht Hunderte, sondern Zehntausende auf unsere Grenzen losstürmen?“ Darauf hat zwischen Mittelmeer und Jordan derzeit niemand eine Antwort. Aber es gibt viele Meinungen.

So schreibt Gadi Taub, ein bekannter israelischer Politologe und Historiker, in einem Gastbeitrag für das Massenblatt Jediot Aharonot: „Es ist erstaunlich, wie sich die Perspektiven geändert haben. Die Jüdische Gemeinschaft agierte während der – politisch umkämpften – Staatsgründung praktisch, aufgeklärt und flexibel. Die palästinensische Seite hingegen, boykottierte diesen Prozess und kehrte den internationalen Institutionen den Rücken zu. Die Palästinenser hätten die Hälfte von Erez Jisrael haben können, durch ihre Unnachgiebigkeit das Recht der anderen Seite anzuerkennen, wählten sie aber den Krieg und verloren jegliche Optionen.“ Nun aber, schreibt Taub, „verhalten wir uns wie einst die Palästinenser. Genau wie sie ergreifen wir nicht die Initiative und die Forderungen der anderen Seite erlangen internationale Legitimität.“

Anders sieht das hingegen der renommierte Journalist Nahum Barnea. Sein Kommentar trägt den Titel „Es wird keine Rückkehr geben“. Er schreibt: „Sie marschieren gerade auf die Grenze zu. In Majd al-Shams, Maroun al-Ras, Erez und Qalqilija. Sie halten palästinensische Flaggen hoch und fordern, dass sie in die Dörfer zurückkehren können, die ihre Großeltern 1948 verloren haben. Die Politiker sagten ihnen, das werde geschehen. Die Geistlichen versprachen ihnen Gottes Hilfe. Ausländische Mäzene sponserten ihnen Flaggen und Busse. Sie waren mit der Gewissheit eingestiegen, dass das ‚zionistische Projekt’ – wie es Ismail Hanija nennt – kurz vor dem Kollaps steht.“ Aber, führt er weiter aus: „Ich habe Neuigkeiten für euch, meine lieben Vettern: Es wird nicht passieren – nicht zu eurer Lebenszeit. Ihr werdet nicht nach Israel zurückkehren, das innerhalb der Grünen Linie existiert. 63 Jahre sind vergangenen seit diesem Krieg; es ist die Zeit gekommen, andere Träume zu träumen.“

Ähnlich sieht das Nadav Sharagi, lange Zeit Haaretz-Reporter aus den besetzen Gebieten. Er schreibt in der auflagenstärksten Zeitung Israel Hajom: „Die Welt pocht nicht auf das Rückkehrrecht der muslimischen Türken, die vor 25 Jahren aus Bulgarien vertrieben wurden, nicht auf das der Hindus, die aus Pakistan vertrieben wurden und auch nicht auf das der griechische Zyprioten.“ Wenn es aber um die Staatsgründung Israels vor 63 Jahren und die damit verbundene Flucht und Vertreibung der Palästinenser gehe, und deren Wunsch auf eine Rückkehr nach „Jaffa, Akko, Nazareth oder Tiberias“, dann ändere sich die Sichtweise der Weltgemeinschaft schlagartig und man betrachte „die Palästinenser beinahe genetisch verbunden“ mit dem Land, das heute Israel heißt, meint Sharagi.

„Die traurige Nachricht des Tages: Nichts hat sich geändert seit 1947“

„Die Welt im Allgemeinen und die Araber im Besonderen”, schreibt er, „sind selbst verantwortlich für die fortwährende Existenz des palästinensischen Flüchtlingsproblem.“ Zudem sei die „Zahl von vier Millionen Flüchtlingen eine Bluff. Viele von denen, die die Vereinten Nationen als Flüchtlinge definiert, leben zufrieden andernorts.“ Bradly Burston von der linksliberalen Haaretz kommentiert hingegen, dass sowohl der Holocaustgedenktag, als auch der „Jom haZikharon“, an dem der gefallenen israelischen Soldaten gedacht wird, den Hinterbliebenen nichts bedeute. Und führt provozierend fort: „Für die Millionen palästinensischer Flüchtlinge und deren Nachkommen im Gaza-Streifen, den Lagern im Westjordanland, im Libanon und Syrien, Chile und San Francisco – für sie ist jeden Tag Nakba-Tag.“ Burston ist der Überzeugung, dass „wir den Palästinensern schulden, was wir von Ihnen verlangen: Die Anerkennung unseres Rechts auf einen unabhängigen Staat und Kompromisse zum Wohle einer gemeinsamen Zukunft. Einen gerechten und einvernehmlichen Frieden.“

Die Jerusalem Post hingegen greift in ihrem Editorial Jossi Peleds’ Frage auf. Bei der konservativen Zeitung ist man sich sicher, dass ein erneuter Marsch auf Israels Grenzen – und der damit verbundenen Gegenwehr der israelischen Armee – katastrophale Folgen hätte: „Der Tod unbewaffneter Aufständischer würde sofort falsch interpretiert werden und dazu führen, dass anti-israelische Narrative gestärkt würden.“ Mit Blick auf die Proteste wird zudem angefügt, dass es nicht nur Proteste und Demonstrationen an international strittigen Grenzen, wie im Westjordanland gegeben habe, sondern unter anderem auch an der international anerkannten israelisch-libanesischen Grenze. Uns so fassen die Verfasser zusammen: „Die traurige Nachricht des Tages: Nichts hat sich geändert seit 1947, als die Palästinenser und die arabischen Staaten den UN Teilungsplan abgelehnt haben.“

„Wie reagiert Israel auf Demonstranten an seinen Grenzen, die das Recht auf Rückkehr fordern?“, fragt Elias Harfoush in seinem Kommentar für die pan-arabische al-Hayat aus London und liefert umgehend seine Antwort: „Auf die gleiche Weise, mit der arabische Unterdrückungsregime auf die Rufe ihrer Bürger nach Würde und Anerkennung ihrer Rechte reagieren. Sie verweigern das Recht irgendwelche Forderungen zu erheben, weil es kein Recht auf Rückkehr gebe. Oder sie sagen, dass die Demonstranten von ausländischen Plänen geleitet werden.“ Israel verweigere den Protestierenden jede Form der Anerkennung und Legitimation und verhalte sich deshalb wie die arabischen Regimes und nicht wie „der erste demokratische Staat in der Region“ als der sich das Land sonst immer so gerne bezeichne. Eine Fortdauer des Palästinakonflikts liege sowohl im Interesse Israel als auch der arabischen Diktaturen, analysiert Harfoush, weil sich so die fortschreitende Militarisierung in der Region rechtfertigen lasse. „Palästina und seine Söhne sind die Opfer und der Treibstoff dieser Schlacht.“

„Eine humane Koexistenz mit Israel hat keinen Platz“

In einem Kommentar vom 16.05.2011 schreibt die in London erscheinende al-Quds al-Arabi: "Das arabische Erwachen beschränkt sich nicht nur auf Revolutionen und Volksaufstände die ihre diktatorischen, unterdrückenden, korrupten, arabischen Regime verändern wollen, sondern führte auch dazu, wieder auf die zentrale Frage nach der arabischen Heimat zu blicken. Die Erinnerung an die große Ungerechtigkeit und die israelische Arroganz gegenüber den arabischen und islamischen Völkern kehrte zurück. Die friedlichen Märsche, die gestern zur Erinnerung an den 63. Jahrestag der Nakba an die palästinensischen Grenzen an den drei Fronten anrückten, dem Norden, dem syrischen Osten und dem Süden sowie aus der palästinensischen Mitte, sind der höchste und reinste Inbegriff diese gesegneten Erwachens. Die Märtyrer die in Maroun al-Ras fielen und auf den Golanhöhen und im Gaza-Streifen sind ein ehrenvolles Vorbild für Opferbereitschaft..."

Im folgenden nennt der Kommentar das Verhalten des israelischen Ministerpräsidenten "paradox", der bei der UN die palästinensischen Proteste beanstandete, während die israelischen Truppen "das Völkerrecht brechen" indem sie auf friedliche und unbewaffnete Demonstranten schossen. Kritisiert wird auch die Haltung der jordanischen und ägyptischen Regierungen, deren Sicherheitskräfte beide hart gegen Teilnehmer der geplanten Demonstrationen vorgingen. Lobend erwähnt der Kommentar die ägyptischen Demonstranten vor der israelischen Botschaft in Kairo. Diese hätten als eine Art Kompensation "eine Demonstration nationaler Ehre" durchgeführt.

"Die klare Botschaft, die die Demonstranten überliefert haben, egal ob in Maroun al-Ras im Südlibanon oder in der Stadt Majd al-Shams im Herzen des besetzten Golans oder vor dem Checkpoint Qalandia im Westjordanland und Erez im Gaza-Streifen, lautet: Israel ist der arrogante und aggressive Besatzer arabischer Erde. Ein Verweigerer des gerechten Friedens. Eine humane Koexistenz hat in der gesamten Region keinen Platz!"

Die Sonne sei zurückgekehrt zwischen dem Golan und Rafah und sie scheine im Lichte der arabischen Revolutionen, schreibt pathetisch der Kommentator Rifat Sayyid Ahmad in der syrischen Staatszeitung al-Thawra. Der 15. Mai habe die arabische Identität der Massen in Syrien, Libanon, Jordanien und Ägypten eindrucksvoll offenbart. Dabei nutzt der Autor die Gelegenheit zu einem Angriff auf die syrische Opposition, die derzeit auf den Straßen gegen das Regime in Damaskus protestiert: „Es waren die wahren revolutionären Massen und nicht die Massen des Agenten Abdul Halim Khaddam (ehem. syrischer Vize-Präsident und heute erbitterter Gegner des Assad-Regimes, d. Red.), der erst vor einigen Tagen im Fernsehen des zionistischen Feindes zugegeben hatte, dass er von Israel dabei unterstützt werde, Unruhe und Söldner nach Syrien zu bringen und Demonstranten vor den syrischen Botschaften in einigen arabischen Hauptstädten - besonders in Ägypten - zu bezahlen.“

Die wahren Rebellen seien nicht diejenigen, die von den Nachrichtensendern al-Jazeera und al-Arabiyya gegen Syrien und Libyen aufgestachelt würden, sondern jene, die am Jahrestag der Besatzung an die Grenze zu Palästina gekommen seien. Sie seien das Gewissen der Nation und der Beweis dafür, dass Palästina das wichtigste Anliegen der arabischen Nation sei. „Schande über jene, die in den Fußstapfen der CIA und Israels wandeln, Schande über jene, die unser Volk daran hindern, an die Nakba zu erinnern. Ruhm sei den Märtyrern Ägyptens, Syriens, Libanons, Palästinas und Jordaniens.“

„Syrien instrumentalisiert die Erinnerung an die Nakba“

Ganz anders interpretiert Uraib al-Rantawi die Ereignisse im Blatt al-Dustur aus Jordanien. Er sieht die Zwischenfälle an Israels Grenzen zu Syrien und dem Libanon in Zusammenhang mit den jüngsten Äußerungen des syrischen Geschäftsmannes Rami Makhlouf. Der Cousin von Präsident Baschar al-Assad hatte in der letzten Woche erklärt, Instabilität in Syrien werde auch für Israel negative Folgen haben. „Die Ereignisse in Majd al-Shams haben vielen Israelis Rami Makhloufs Theorie ins Gedächtnis rufen lassen.“

Dabei gebe es unter Israels strategischen und politischen Denkern gegenwärtig drei Denkschulen: Die erste fordere den Sturz des Assad-Regimes um jeden Preis und werde in vorderster Front von Meir Dagan, dem ehemaligen Mossad-Direktor vertreten. Die zweite Denkschule befürworte Stabilität in Damaskus, da diese Israels Sicherheit besser gewährleiste. Eine dritte Strömung, die auch von Washington und den moderaten arabischen Staaten vertreten werde, ziele auf einen Politikwechsel statt eines Regimewechsels in Syrien ab. Assad solle der Machterhalt ermöglicht werden, dafür müsse Syrien jedoch seine Kontakte zum Iran, sowie zur Hizbullah und der Hamas aufgeben.

In dieser Gemengelage könnten Syrien und die verbündete Hizbullah versucht sein, die Spielregeln gegenüber Israel zu ändern. Unter dem Strich bleibe nach den Ereignissen vom Sonntag folgende Erkenntnis: „Die Erinnerung an die Nakba, die dieses Jahr unter dem Eindruck der arabischen Aufstände und Revolutionen stand, gab Syrien und der Hizbullah die seltene Gelegenheit dem Druck zu entkommen.“

„Ausnutzung und Opferung“ - so überschreibt Khaled Saghieh seinen Leitartikel für die linke libanesische Tageszeitung al-Akhbar. Darin schreibt der Autor: „Es gibt Einige, die das Recht auf Rückkehr ausnutzen, um bestimmte politische Ziele zu verfolgen. Das ist wahr. Aber es ist auch wahr, dass sich Einige, die das Recht auf Rückkehr opfern wollen, andere Ziele verfolgen. Deshalb ist es sinnvoll, die Stimmen differenziert zu betrachten, die sich gegen eine Öffnung der Grenzen aussprachen und eine Gegenposition zu denjenigen einnahmen, die sich danach sehnten, Palästina am Gedenktag der Nakba wahrhaftig zu sehen.“

Saghiyeh geht in seinem Kommentar mit zwei Gruppen hart ins Gericht – den so genannten „Opferern“ und den „Ausnutzern“. Während die erste Gruppe das Rückkehrrecht der Palästinenser opfern wolle, instrumentalisiere die zweite Bewegung den Kampf der Palästinenser für ihre eigenen Zwecke.

Mehr Demokratie in der Arabischen Welt bedeutet größere Feindschaft gegenüber Israel.“

„Aber es gibt auch jene, die sich aufrichtig für das Recht auf Rückkehr einsetzen; die Verfechter dieser Vision sind jedoch dazu bereit, andere Dinge dafür aufzugeben. Ein jeder, der für die Palästinensische Sache etwas übrig hat, darf die Menschen und die Sache nicht gleichsetzen. In diesem politischen Moment gilt zu betonen, dass die Unterstützer der Palästinensischen Sache und der Befreiung arabischer Gebiete von den arabischen Revolutionen nichts zu verlieren haben. Mehr Demokratie in der Arabischen Welt bedeutet größere Feindschaft gegenüber Israel. Jene, die Palästina auf dem Altar des Windes der Veränderung opfern wollen, sollten vorsichtig sein.“

Die Reaktionen auf die blutigen Ereignisse in Maroun al-Ras sind für den Kommentator besorgniserregend. „Israel nicht zu verurteilen und diejenigen, die durch israelische Kugeln getötet wurden beziehungsweise versuchten, mit ihren Zähnen den Stacheldraht durchzubeißen, als dumme junge Männer oder als verdächtige Instrumente darzustellen, zeigt, dass nicht nur Israel das Rückkehrrecht begraben will. Trotz alledem, trotz all der Ausnutzung und Opferung, werden wir eines Tages zurückkehren.“

Keine Kommentare: