Die Schiitenpartei hat auf einer Freifläche, auf der bis zu den israelischen Bombenangriffen im Juli mehrere Häuserblocks standen, eine provisorische Halle errichtet, in der allabendlich Rezitationen und Reden vorgetragen werden. Die Halle ist mit roten Teppichen ausgelegt, fasst etwa 10000 Besucher und ist durch einen Sichtschutz in zwei gleich große Bereiche geteilt, einen für Frauen und einen für Männer. Obwohl sämtliche Veranstaltungen hier von der Hizbollah veranstaltet werden, ist ihr charakteristisches Parteilogo nirgends zu sehen. Stattdessen schmücken Darstellungen der Schlacht von Kerbala die Wände der Halle, die von der Bildsprache her an Werbung für Computerspiele erinnern. Daneben sind Slogans zu lesen wie: "Ashura - Der Sieg des Blutes über das Schwert"
Als wir gegen 20 Uhr die Sicherheitsschleusen passiert haben - Handys und Fotoapparate sind aus Angst vor Anschlägen verboten - lauschen die Zuhörer der mäßig spannenden Rede eines rangniederen Hisbollahfunktionärs. Langsam füllt sich die Halle, doch noch immer ist für die zahlreichen Kinder genug Platz zum Herumtollen. Im Frauenbereich ist der Andrang schon jetzt deutlich größer. Doch ganz langsam wird die Menge von einer eigenartigen Spannung erfasst, Gerüchte machen die Runde, Hizbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah werde in Kürze erscheinen und eine Ansprache halten.
Um 20 Uhr 15 dann erhebt sich die Stimme des Redners auf dem Podium schlagartig, die Menschen um uns herum springen aufgeregt in die Höhe und in der Tat steht plötzlich Hassan Nasrallah in seinem charakteristischen braunen Mantel auf dem Podium und wirkt zwischen seinen beiden Bodyguards fast etwas verloren. "Gott schütze Hassan Nasrallah" schallt es aus zehntausend Kehlen, dazu strecken die Gläubigen die rechte Faust rhythmisch in die Luft - ein Spektakel, dem man sich auch als unbeteiligter Zuhörer nur schwer entziehen kann.
Nach kurzer Zeit beruhigt sich die Menge und Nasrallah beginnt seine Rede, die live im Hizbollah-Sender "al-Manar" ausgestrahlt wird, mit theologischen Ausführungen über das Erlaubte und Verbotene im Islam. Nasrallah spricht sehr ruhig ohne die Stimme erkennbar zu heben. Seine Zuhörer folgen den Ausführungen sehr diszipliniert, nur ein paar Kinder sind mäßig interessiert und halten die Sicherheitskräfte auf Trab.
Nasrallah betont in seiner Rede die persönliche Entscheidungsfreiheit eines jeden Einzelnen, auch wenn diese Entscheidung im Widerspruch zum Willen der eigenen Familie oder Freunde steht. Nasrallah greift auch den Vorwurf von sunnitischer Seite auf, seine Bewegung versuche mit Geld Sunniten zur Konversion zum schiitischen Glauben zu bewegen und erntet viele Lacher als er erklärt: "Es ist doch viel einfacher und günstiger unsere Geburtenrate zu erhöhen."
Ansonsten spielt die Politik in dieser Rede am Vorabend des Gedenktags Ashura nur eine Nebenrolle. Rhetorische Angriffe gegen Israel oder die USA erwartet man ebenso vergebens wie Seitenhiebe gegen die libanesische Regierung.
Ebenso plötzlich wie Nasrallah die Bühne betrat, verlässt er sie nach etwa 70 Minuten wieder und lässt eine begeisterte Menge zurück die skandiert: "Wir opfern uns für dich, Nasrallah". Blickt man in die Gesichter der Umstehenden, ist man geneigt ihnen Glauben zu schenken.
Unser Freund Musa erklärt uns anschließend, was Ashura für ihn als jungen Schiiten bedeutet.: "Ich liebe das von Gott gegebene Leben, aber wenn es das das Wohl der islamischen Gemeinde zu verteidigen gilt, dann sind wir bereit unser Leben dafür zu opfern. Wir Schiiten haben keine Angst davor zu sterben." Damit folgt er der modernen Interpretation des Kerbala-Mythos, die in den 1970ern vom libanesischen Imam Musa as-Sadr geprägt wurde.
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Immer wieder skandiert die Menge Losungen wie "Oh Hussein, wir opfern uns für dich." Auch altbekannte Sprechchöre wie "Tod für Amerika!" und "Tod für Israel!" werden immer wieder gerufen. Obwohl wir die einzigen erkennbaren Ausländer in der Menge sind und die Massen durch die Sprechchöre und den Anlass der Demo sichtbar emotionalisiert sind, sind die Leute sehr diszipliniert und freundlich uns gegenüber.
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Nach etwa 30 Minuten löst sich der Demonstrationszug sehr schnell und diszipliniert auf und schon nach wenigen Minuten erinnert wenig daran, dass hier 1,5 Millionen Menschen demonstrierten.
Auf dem Rückweg sehen wir dann erstmals eine Gruppe junger Männer, die aussehen als kämen sie aus dem Schlachthaus. Ihre blutigen Wunden auf der Stirn weisen jedoch daraufhin, dass sie sich mit Messern selbst Wunden zugefügt haben um so an Husseins Martyrium zu erinnern. Im Libanon wurde dieses Ritual weitgehend aus den Ashurafeiern verdrängt, nach dem Ayatollah Fadlallah das Flagellieren in einer Fatwa fuer unislamisch erklärte. Stattdessen sind die Hizbollah-Anhänger nun dazu aufgerufen ihr Blut nicht unnötig zu vergießen, sondern in Krankenhäusern zu spenden.
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