Gestern Abend sind wir erneut mit unserem schitischen Freund Musa verabredet. Wir begleiten ihn zu einer Veranstaltung der Hizbollah, wie sie an den ersten zehn Tagen des Trauermonats Muharram an jedem Abend stattfinden. In diesem Monat gedenken die schiitischen Muslime dem Tode ihres dritten Imams Hussein, der im Kampf gegen die Umayyaden mit seinen Gefährten in der Schlacht von Kerbala 680 n.Chr. den Tod fand. Dieser Mythos bildet seither die Wurzel fuer den Topos der schiitischen Opferbereitschaft.
Die Schiitenpartei hat auf einer Freifläche, auf der bis zu den israelischen Bombenangriffen im Juli mehrere Häuserblocks standen, eine provisorische Halle errichtet, in der allabendlich Rezitationen und Reden vorgetragen werden. Die Halle ist mit roten Teppichen ausgelegt, fasst etwa 10000 Besucher und ist durch einen Sichtschutz in zwei gleich große Bereiche geteilt, einen für Frauen und einen für Männer. Obwohl sämtliche Veranstaltungen hier von der Hizbollah veranstaltet werden, ist ihr charakteristisches Parteilogo nirgends zu sehen. Stattdessen schmücken Darstellungen der Schlacht von Kerbala die Wände der Halle, die von der Bildsprache her an Werbung für Computerspiele erinnern. Daneben sind Slogans zu lesen wie: "Ashura - Der Sieg des Blutes über das Schwert"
Als wir gegen 20 Uhr die Sicherheitsschleusen passiert haben - Handys und Fotoapparate sind aus Angst vor Anschlägen verboten - lauschen die Zuhörer der mäßig spannenden Rede eines rangniederen Hisbollahfunktionärs. Langsam füllt sich die Halle, doch noch immer ist für die zahlreichen Kinder genug Platz zum Herumtollen. Im Frauenbereich ist der Andrang schon jetzt deutlich größer. Doch ganz langsam wird die Menge von einer eigenartigen Spannung erfasst, Gerüchte machen die Runde, Hizbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah werde in Kürze erscheinen und eine Ansprache halten.
Um 20 Uhr 15 dann erhebt sich die Stimme des Redners auf dem Podium schlagartig, die Menschen um uns herum springen aufgeregt in die Höhe und in der Tat steht plötzlich Hassan Nasrallah in seinem charakteristischen braunen Mantel auf dem Podium und wirkt zwischen seinen beiden Bodyguards fast etwas verloren. "Gott schütze Hassan Nasrallah" schallt es aus zehntausend Kehlen, dazu strecken die Gläubigen die rechte Faust rhythmisch in die Luft - ein Spektakel, dem man sich auch als unbeteiligter Zuhörer nur schwer entziehen kann.
Nach kurzer Zeit beruhigt sich die Menge und Nasrallah beginnt seine Rede, die live im Hizbollah-Sender "al-Manar" ausgestrahlt wird, mit theologischen Ausführungen über das Erlaubte und Verbotene im Islam. Nasrallah spricht sehr ruhig ohne die Stimme erkennbar zu heben. Seine Zuhörer folgen den Ausführungen sehr diszipliniert, nur ein paar Kinder sind mäßig interessiert und halten die Sicherheitskräfte auf Trab.
Nasrallah betont in seiner Rede die persönliche Entscheidungsfreiheit eines jeden Einzelnen, auch wenn diese Entscheidung im Widerspruch zum Willen der eigenen Familie oder Freunde steht. Nasrallah greift auch den Vorwurf von sunnitischer Seite auf, seine Bewegung versuche mit Geld Sunniten zur Konversion zum schiitischen Glauben zu bewegen und erntet viele Lacher als er erklärt: "Es ist doch viel einfacher und günstiger unsere Geburtenrate zu erhöhen."
Ansonsten spielt die Politik in dieser Rede am Vorabend des Gedenktags Ashura nur eine Nebenrolle. Rhetorische Angriffe gegen Israel oder die USA erwartet man ebenso vergebens wie Seitenhiebe gegen die libanesische Regierung.
Ebenso plötzlich wie Nasrallah die Bühne betrat, verlässt er sie nach etwa 70 Minuten wieder und lässt eine begeisterte Menge zurück die skandiert: "Wir opfern uns für dich, Nasrallah". Blickt man in die Gesichter der Umstehenden, ist man geneigt ihnen Glauben zu schenken.
Unser Freund Musa erklärt uns anschließend, was Ashura für ihn als jungen Schiiten bedeutet.: "Ich liebe das von Gott gegebene Leben, aber wenn es das das Wohl der islamischen Gemeinde zu verteidigen gilt, dann sind wir bereit unser Leben dafür zu opfern. Wir Schiiten haben keine Angst davor zu sterben." Damit folgt er der modernen Interpretation des Kerbala-Mythos, die in den 1970ern vom libanesischen Imam Musa as-Sadr geprägt wurde.
Heute Morgen machen wir uns schon um 8 Uhr morgens auf den Weg in Beiruts südliche Stadtteile Dahiye in denen das gesellschaftliche Leben weitgehend von der Hizbollah und der mit ihr alliierten Amal-Bewegung bestimmt wird. Eine von den verschiedenen schiitischen Gruppierungen organisierte Massendemonstration, bildet den Höhepunkt der Ashura-Feierlichkeiten. An verschiedenen Punkten sammeln sich die Bewohner der umliegenden Bezirke um zunächst einem Rezitator zuzuhören, der die Leidensgeschichte Husseins nachzeichnet. Um uns herum brechen viele Menschen, vom Kind bis zum gestandenen Mann, in Tränen aus.
Um kurz nach Neun setzt sich der Demonstrationszug dann schlagartig in Bewegung. Wir passieren mehrere Punkte, an denen die verheerenden Schäden, die die israelischen Angriffe im Süden Beiruts hinterlassen haben, noch deutlich sichtbar sind. Unter anderem läuft die Menge an einer Brache von der Größe eines Fußballfeldes entlang, auf der bis zum Juli 2006 noch vier 11-geschössige Wohnhäuser standen.
Immer wieder skandiert die Menge Losungen wie "Oh Hussein, wir opfern uns für dich." Auch altbekannte Sprechchöre wie "Tod für Amerika!" und "Tod für Israel!" werden immer wieder gerufen. Obwohl wir die einzigen erkennbaren Ausländer in der Menge sind und die Massen durch die Sprechchöre und den Anlass der Demo sichtbar emotionalisiert sind, sind die Leute sehr diszipliniert und freundlich uns gegenüber.
Immer wieder schlagen sich die schiitischen Gläubigen mit der Faust auf die Brust um ihre Trauer über das Schicksal ihres Imams Hussein zu beklagen. Eine Sonder-Einheit der Hizbollah tut dies mit einer einstudierten Choreographie und erntet die Bewunderung der umstehenden Demonstranten.
Nach knapp 2 Stunden kommen 1,5 Millionen Menschen plötzlich zum Stehen und noch während wir die Rednertribüne suchen, brandet Riesenjubel auf und Hassan Nasrallah erscheint auf einem Hausbalkon 20 Meter von uns entfernt. Wiederum erklingen die altbekannten Hochrufe und schallen durch die Häuserzeilen Suedbeiruts. Nasrallah spricht von der Notwendigkeit des Widerstands gegen die israelische Besatzung der Shebaafarmen. Nasrallahs Rede ist deutlich emotionaler als gestern und reisst die Menge immer wieder mit, so dass der Redner selbst einmal beruhigend einwirken muss.
Nach etwa 30 Minuten löst sich der Demonstrationszug sehr schnell und diszipliniert auf und schon nach wenigen Minuten erinnert wenig daran, dass hier 1,5 Millionen Menschen demonstrierten.
Auf dem Rückweg sehen wir dann erstmals eine Gruppe junger Männer, die aussehen als kämen sie aus dem Schlachthaus. Ihre blutigen Wunden auf der Stirn weisen jedoch daraufhin, dass sie sich mit Messern selbst Wunden zugefügt haben um so an Husseins Martyrium zu erinnern. Im Libanon wurde dieses Ritual weitgehend aus den Ashurafeiern verdrängt, nach dem Ayatollah Fadlallah das Flagellieren in einer Fatwa fuer unislamisch erklärte. Stattdessen sind die Hizbollah-Anhänger nun dazu aufgerufen ihr Blut nicht unnötig zu vergießen, sondern in Krankenhäusern zu spenden.
Dienstag, 30. Januar 2007
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