III. Die soziale und politische Entwicklung der libanesischen Schiiten bis Mitte des 20. Jahrhunderts
a) Sozialstruktur und Machtverteilung
In diesem Abschnitt soll zunächst die soziale Struktur der Schiiten im Libanon sowie ihre politische Einbindung im Verhältnis zu den jeweiligen Obrigkeiten bis zu den einschneidenden Veränderungen Mitte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet werden. Zudem wird dem Ausmaß gesellschaftlichen Engagements der Ulama in dem betreffenden Zeitraum nachgegangen.
Über Ursprung und Geschichte der schiitischen Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Libanon kann nur wenig mit Sicherheit gesagt werden. Die beiden Hauptsiedlungszentren der Schiiten, Jabal Amil und Beqaa, waren zudem bis zum Ende der osmanischen Oberherrschaft regional unterschiedlich eingebunden und differierten in ihrer Sozialstruktur zum Teil beträchtlich. So waren tribale Klientelverbände in der Beqaa von weit größerer Bedeutung als in Jabal Amil, wo sich viel eindeutiger eine Stratifikation in Zuama, Ulama und Bauernschaft durchsetzte.
Die Machtposition einiger Zuama-Familien wurde durch ihre Einbindung in das osmanische Steuerpachtsystem formalisiert und Großgrundbesitz als Basis und Kriterium ihrer Legitimität etabliert. Analog zum Monopol weltlicher Autorität in den Händen einiger Zuama-Clans, konzentrierte sich auch religiöse Autorität auf eine kleine Anzahl von schiitischen Gelehrtenfamilien. Protektion und Legitimierung charakterisierten die jeweiligen Interessen der beiden Gruppen und bildeten die Grundlage für ihr Bündnis.
Die Machtstellung der Zuama vergrößerte sich in der Folge beträchtlich, da ihnen die seit den Tanzimat-Reformen einsetzende Institutionalisierung politischer Macht den Alleinvertrungsanspruch über ihre schiitische Klientel zubilligte. Da der gesamte Staatsapparat des entstehenden Libanon ab der Mandatszeit ebenfalls nach konfessionalistischen Gesichtspunkten aufgebaut wurde, erhielten die Schiiten zwar erstmals einen offiziell zugesicherten Anteil zur Macht, diese blieb jedoch den Zuama vorbehalten. Damit wurde einerseits die Loyalität der Zuama zum neuen Staatsgebilde gewonnen, andererseits aber legitimierte und festigte man die feudale Machtstellung der Zuama gegenüber der schiitischen Bauernschaft, deren wirtschaftliche und soziale Lage sich rapide verschlechtert hatte. Diese ungleiche Machtverteilung funktionierte zum einen, da die Zuama bestimmte Klientelgruppen über den Weg der staatlichen Bürokratie begünstigen konnte, zum anderen, weil der Großteil der Landbevölkerung keine Möglichkeit hatte, die Bemühungen ihrer Zuama im fernen Beirut zu kontrollieren.
Wenn der politische Konfessionalismus auch den Großteil der schiitischen Bevölkerung weiter an ihre Zuama band und von wirklicher Teilhabe am neuen Staat ausschloss, so legte er zumindest einen wichtigen Grundstein zur religiös-institutionellen Emanzipation der Schia im Verhältnis zu den anderen Konfessionen, insbesondere den Sunniten. Zwar ließ die Osmanen den Schiiten auf dem Land oft freie Hand in ihrem religiösen Alltag, sowohl in juristischer als auch in ritueller Hinsicht. Offiziell jedoch fand die Schia keine Anerkennung und wurde im Gegensatz zu den anderen Konfessionen auch nicht von äußeren Mächten protegiert. Die Einrichtung eines jafaritischen Gerichtshofes 1926 mag als Konzession der Franzosen für die schiitische Loyalität zum neuen Staat gesehen werden. Allerdings symbolisierte sie auch die religiöse Eigenständigkeit der Schia, wie sie sich in ritueller Hinsicht auch in der Zulassung der früher untersagten Ashura-Prozessionen zeigte.
Es wurden also Institutionen und Rituale gestärkt, die die Schia politisch und religiös repräsentieren und integrieren sollten und die sich zunächst die Zuama zu eigen machen konnten. Ebenso waren sie jedoch dazu angelegt, alternativen Konzeptionen von politischer Autorität und religiöser Identität als Vehikel zu dienen, und zwar in dem Moment, in dem sich die soziale Struktur der Gemeinschaft und das politische Klima im Land ändern und den status quo in Frage stellen würden.
b) Stellung und Rolle der Ulama
An ein derart aktives gesellschaftliches Engagement schiitischer Ulama, wie es sich im Iran entfaltete, war im Libanon bis Mitte des 20. Jahrhunderts kaum zu denken. Die libanesischen Ulama hatten auch kaum Grund, eine Änderung der bestehenden Sozial- und Autoritätsstruktur einzufordern, schon gar nicht für sich selbst. Sie deferierten die politische Autorität an die Zuama, und konnten im Gegenzug weitgehend unbehelligt Studium und Lehre nachgehen und somit die Existenz ihres Standes sicherstellen. Daraus sollte man zwar nicht auf ein generelles Desinteresse an den Bedürfnissen der schiitischen Gläubigen und völlige Isolation schließen, jedoch war ein gesellschaftliches Engagement gegen die Interessen der Zuama nicht denkbar.
Die Hebung des ungemein niedrigen sozialen und des Bildungsstandes beispielsweise gehörte nicht zu den Aufgaben der traditionellen Zuama. Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch traten einige erst kürzlich in diesen Stand aufgestiegene Zuama auf den Plan. Die 1908 gegründete Zeitschrift Al-Irfan diente dabei als Sprachrohr, um das Gefühl einer zivilgesellschaftlichen Verantwortlichkeit zur Verbesserung des Lebensstandards der schiitischen Gemeinschaft zu erzeugen. Eine explizit aktive Role wurde in diesem Zusammenhang den Ulama zugewiesen, von denen sich einige auch bei Al-Irfan engagierten.
Auf institutioneller Ebene versuchte der reputierte Alim Abd al-Husain Sharaf ad-Din in den 30er und 40er Jahren diesen Ansprüchen gerecht zu werden, indem er die Gründung von Kultur- und Bildungszentren initiierte. Dennoch blieb dieses Engagement beschränkt. Es konzentrierte sich nur auf städtische Milieus, wohingegen die Mehrheit der Schiiten auf dem Land lebte. Zudem waren solche Bemühungen aufs Engste mit ihren Initiatoren verknüpft und erwiesen sich mithin als relativ kurzlebig, sobald sie nicht breiter verankert werden konnten. Ebenso scheiterten Versuche, die Ulama als gesellschaftlich einflussreiche Gruppe institutionell zu organisieren, an den bestehenden Loyalitätsverhältnissen, die zudem Rivalitäten zwischen den Zuama auch auf die jeweils verbündeten Ulama übertrugen. Von punktuellen Ausnahmen abgesehen, erwiesen sich die Ulama also als ungeeignet, als unabhängige Fürsprecher schiitischer Belange auf sozialem und politischem Gebiet aufzutreten.
Obwohl Sharaf ad-Dins Aktivität begrenzt bleiben musste, stand er über sein familiäres Netzwerk in engem Kontakt zu seinen Kollegen im Irak und Iran und konnte beobachten, welches Potenzial gesellschaftlich engagierte Kleriker in ihren schiitischen Gemeinschaften zu entfalten vermochten.
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