VII. Musa as-Sadrs Erben und Nachfolger
Eine einschneidende Zäsur stellte für die schiitische Gemeinschaft das bis heute ungeklärte Verschwinden ihrer Führungs- und Integrationsfigur Musa as-Sadr im August 1978 dar. Zudem beschleunigte die israelische „Operation Litani“ eine neue Phase der Mobilisierung und die Islamische Revolution im Iran warf Fragen zu Organisation, Charakter und Loyalität der libanesischen Schia und der von Sadr gegründeten Organisationen auf.
Für Amal erwiesen sich die Folgen von Sadrs Verschwinden als durchaus ambivalent. Erlebte die Organisation bis 1978 einen langsamen Niedergang, so verzeichnete sie nun geradezu einen Mitgliederboom. Dabei profitierte Amal nicht unwesentlich von den religiösen Implikationen von Sadrs Abwesenheit. Die Reminiszenz an die Entrückung des 12. Imams war offensichtlich und wurde von der Amal-Führung auch bewusst gefördert. Einmal mehr zeigte sich das Mobilisierungspotenzial schiitischer Geschichte und ihrer Symbole, zu deren Teil nun auch Sadr wurde.
Langfristig allerdings musste sich die schiitische Gemeinschaft sowohl ideologisch wie auch auf institutioneller Ebene mit der weiteren politischen Entwicklung in Abwesenheit Sadrs auseinandersetzen.
Schon die Nachfolgefrage in Amal und OSR offenbarte die divergierenden Strömungen und das ambivalente Erbe Sadrs. Seine integrative Funktion hielt die beiden organisatorischen Stützen der schiitischen Gemeinschaft noch einigermaßen zusammen, nun jedoch zeichnete sich eine Arbeits- und Loyalitätsteilung ab, die auch von persönlichen Animositäten geprägt war. Grundlegend lässt sich sagen, dass die Sadr nahe stehenden Ulama sich vorrangig auf den OSR konzentrierten und religiöse Autorität beanspruchten, während Amal sich zusehends zu einer säkular verfassten und geführten Partei wandelte, die wiederum die politische Autorität der schiitischen Gemeinschaft einforderte. Symbolischen Ausdruck fand das auch 1980, als mit Amal-Chef Husain Husaini erstmals ein Nicht-Zaim das höchste den Schiiten vorbehaltene Amt des Parlamentspräsidenten übernahm.
Die Islamische Revolution im Iran stellte Amal vor allem ideologisch vor einige Probleme. Die von Khumaini eingeforderte Autorität verbinden mit dem Konzept des Revolutionsexports lehnte sie ab mit dem Verweis auf die spezifische Situation des Libanon. Obwohl Amal als Partei und Miliz oft genug im Konflikt mit der (offiziellen) libanesischen Obrigkeit stand, bekräftigte allen voran ihr neuer Vorsitzender Nabih Birri die grundsätzliche Loyalität zum libanesischen Staatswesen.
Amal zeigte sich nach außen also zumindest systemkonform und bekannte sich in seiner Charta zu säkularem Staats- und religiösem Personenstandsrecht, wenn auch die Forderung nach Abschaffung des Konfessionalismus als eher rhetorisches Druckmittel durchaus beibehalten wurde. Gänzlich entgegen gesetzt waren die Forderungen der Islamischen Bewegung, die sich ab 1982 zum Teil aus disparaten Amal-Elementen hervorzugehen begann und das libanesische Staatswesen als solches ablehnte.
Trotz dieser Spaltung und Radikalisierung, die durch die israelische Invasion 1982 deutlich verschärft wurde, gelang es Amal einen breiten Rückhalt innerhalb der schiitischen Gemeinschaft zu konsolidieren. Vor allem im ständig umkämpften Süden übernahm Amal dort die Aufgaben öffentlicher Sicherheit, wo ihr der Staat durch seine Abwesenheit das Feld überließ. Zudem hatte die Organisation Zugang zu staatlichen Ressourcen und konnte ihre Klientel dementsprechend versorgen. Amal übernahm also wesentliche Aufgaben der früheren Zuama und legitimierte somit seine Legitimät als politischer Vertreter und Anführer der libanesischen Schiiten.
Die religiöse Autorität des OSR stand auf wackeligerem Fundament. Zwar tendierten die schiitischen Remigranten eher dazu, den OSR als Amal zu unterstützen, aber insgesamt konnte das Gremium kaum Breitenwirkung erzielen. Zum Einen leistete Amal in Zeiten des Krieges lebensnotwendigere Dienste, zum Anderen war das Verhältnis der Ulama untereinander eher von Rivalität als von Geschlossenheit geprägt. Während jüngere Kleriker sich zunehmend in der Islamischen Bewegung engagierten, konkurrierte zudem auch der von offiziellen Institutionen unabhängige Muhammad Hussain Fadlallah um die religiöse Loyalität der Schiiten und erlangte vor allem in den Beiruter Vororten bei seinen Predigten in der Imam-ar-Rida-Moschee große Popularität.
Letztendlich diversifizierte sich also der schiitische Klerus, wobei Autorität und Legitimität vorrangig an die Ausstrahlung und Überzeugung ihrer exponierten Akteure gebunden blieben. Jedoch konnte kein Alim das Maß an populärer Unterstützung und Zustimmung auf sich vereinen, dass Sadr in den Augen seiner Anhänger das Recht auf politische und religiöse Autorität verliehen hatte.
VIII. Fazit
Die libanesischen Schiiten erlebten in den 50er bis 70er Jahren eine konfessionsspezifische Transformation ihrer Gesellschaftsstruktur.
Hatten die semi-feudalen Zuama-Familien noch erfolgreich den Übergang von der osmanischen zur Mandantsherrschaft und zur Unabhängigkeit des Libanon für die Etablierung ihrer eigenen Führungsrolle nutzen können, so waren sie in der Folge kaum in der Lage, auf die massiven Veränderungen der 50er und 60er Jahre zu reagieren und als effektive Vermittlungsinstanz zu agieren. In breiten Schichten der Gemeinschaft entstand nicht nur das Bewusstsein einer konfessionellen und regionalen Diskriminierung der libanesischen Schia. Vielmehr wurde auch der klientelistischen Machtstruktur der Zuama die Perpetuierung dieser Diskriminierung angelastet. Verschiedene linke Gruppierungen nahmen die Belange der Schia auf und lösten zunächst für eine vorher ungekannte Mobilisierung schiitischer Bevölkerungsschichten aus, ohne sie jedoch dauerhaft integrieren zu können, und ohne auf die spezifische Identitätsfindung der Schiiten einzugehen.
Eben jene Verknüpfung materieller Forderungen und psychologischer Bedürfnisse bildete die Grundlage für den Erfolg von Musa as-Sadr. Durch seinen breiteren Erfahrungshorizont hatte er ein Bewusstsein für die starke Symbolsprache des schiitischen Islams, der in transitorischen Phasen sowohl integrative Strukturen, als auch eine identitätsstiftende Ideologie hervor bringen könne.
Auf die libanesischen Verhältnisse angepasst hieß das auch, dass sich die Mobiliesierung konfessioneller Interessen am zugkräftigsten erwies. Ein wesentlicher Teil dieses konfessionellen Interesses ist das konfessionelle Bewusstsein, welches Sadr entscheidend uminterpretierte und den politischen Kampf der Schiiten in einen religiösen Bezug setzte. Dabei forderte Sadr weder ein „islamisches System“ noch die Hegemonie der Schiiten über die anderen Konfessionen. Vielmehr formulierte er die religiöse Pflicht, die soziale Deprivation der Schiiten zu beenden und ihre legitime Partizipation im Rahmen der libanesischen Gesellschaft zu erreichen. Sadrs religiös geprägter Diskurs strebte also keine Rückkehr in eine glorreiche Vergangenheit an, sondern fungierte vielmehr als Inspiration für die Errichtung einer gerechteren Zukunft.
Von wichtiger Bedeutung ist dabei auch seine Herkunft und Funktion als Kleriker. Sadr selbst definierte die gesellschaftliche Verantwortung der Ulama für die Verwirklichung der oben genannten Ziele. War der schiitische Klerus zuvor lange als Teil der alten Machstruktur angesehen worden und damit kaum ein Ansprechpartner für weite Teile der mobilisierten Schiiten, so stellte Sadr in den Augen seiner Anhänger gewissermaßen den Prototypen des gesellschaftlich engagierten Alim dar, den er selber propagierte. Seine Autorität gründete sich dabei nicht auf die traditionellen Kriterien schiitischer Gelehrsamkeit. Sadr war kein Theologe in dem Sinn, dass sein literarischer Auswurf ihm die Anerkennung durch Kollegen und Gemeinde einbrachte. Da er von außerhalb kam, war es ihm auch viel eher möglich außerhalb bestehender Machtstrukturen Verbündete zu gewinnen, wobei er seinen Diskurs auf eine spezifische Hörerschaft anpassen konnte. Derart erlangte er im interreligiösen Dialog die Anerkennung als verlässlicher, moderater Partner und legitimer Vertreter der schiitischen Konfessionsgruppe, während sein religiöser Diskurs für sein schiitischem Publikum die Bedürfnisse nach Integration und Identität erfüllte und ihn somit sowohl als religiösen als auch politischen Führer legitimierte.
Sadrs doppelte Autorität war jedoch wesentlich an seine eigene Person gebunden. Seine (politischen) Nachfolger bei Amal profitierten dennoch davon, da sie Sadr und die von ihm gegründete Bewegung sakralisierten und sich weithin mit der politischen Gefolgschaft der Schiiten begnügten, während sich religiöse Autorität auf verschiedene Gremiem und Personen verteilte.
Obwohl also das Phänomen Musa as-Sadr in gewisser Weise einmalig war, hatte es doch Vorbildcharakter und zeigte wie zugkräftig die Verbindung eines religiösen, identitätsstiftenen Diskurses mit den politischen und sozialen Integrations- und Partizipationsinteressen transitorischer und mobilisierter Gesellschaftsschichten sein können Vor allem zeigte es auch, wie eine neue Generation von Ulama, dessen exponiertester Vertreter Musa as-Sadr war, als auch die schiitische Gemeinschaft selber die Grundlagen klerikaler Autorität und Legitimität umzuformen vermochten.
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