VI. Musa as-Sadr und sein Wirken im Libanon
Das fast 20-jährige Wirken Musa as-Sadrs im Libanon sollte die spezifische Mobilisierung und Politisierung der Schiiten entscheidendend aufgreifen und prägen. Sadr forcierte zum Einen die Ausweitung der institutionellen Vertretung der Schiiten, zum Anderern formulierte er einen massenwirksamen, religiös inspirierten Diskurs, der ihn im Wechselspiel mit seinen Anhängern zur integrativen Führungsfigur aufsteigen ließ.
Dabei lässt sich Sadrs Engagement hinsichtlich seiner gewählten Strategie und Wirkung in zwei Abschnitte teilen. Wenn der hier postulierte Übergang auch fließend und keineswegs einheitlich war, so stellt die allgemeine Aufheizung des politischen (und militärischen) Klimas im Vorfeld des Bürgerkrieges Ende der 60er Jahre hier doch eine wesentliche Zäsur nicht nur der libanesischen, sondern insbesondere auch der schiitischen Entwicklung dar.
Sadr knüpfte zu Beginn an die Aktivitäten seines Vorgängers Sharaf ad-Din an und versuchte im Rahmen dieser Institution sich zunächst in Sur als Ansprechpartner zu etablieren. Die verschiedenen Schichten der libanesischen Schia sowie die religiösen Vertreter der anderen Konfessionen als die wesentlichen Publika rückten dabei für ihn ins Blickfeld.
Vor allem in der ersten Dekade seines Wirkens maß Sadr dem interkonfessionellen Dialog große Bedeutung zu. Sowohl sein bloßes Erscheinen in Kirchen und (sunnitischen) Moscheen, als auch seine Redestrategie brachten das Anliegen zum Ausdruck, das durch den mentalen Konfessionalismus belastete Bild der Schia zu verbessern. Argumentativ nutzte Sadr hierbei die Denkfiguren des islamischen Modernismus, der eine grundsätzliche Vereinbarkeit islamischer Wertordnung in und mit der Moderne postulierte. Das System des politischen Konfessionalismus stellte er per se nicht in Frage, betonte jedoch Notwendigkeit und Nutzen der Einbindung der schiitischen Gemeinschaft – und bot sich, wenn er es auch nicht offen formulierte – dafür als Partner an.
Eben solch einen von traditionellen libanesischen Anhängigkeiten weitgehend unabhängigen und engagierten Partner suchten zwei Gruppen. Auf nationaler Ebene sahen die reformorientierten Kräfte um Präsident Fuad Shihab in Sadr einen möglichen Verbündeten und Gegengewicht zu den Zuama. Auf gemeinschaftlicher Ebene konnte Sadr wiederum zahlreiche Remigranten und soziale Aufsteiger für sich gewinnen. Im Gegensatz zu den teils offen kapitalfeindlichen Positionen der linken Gruppierungen wirkte Sadr auf sie moderat, da er ihnen ihr Privateigentum nicht neidete und versuchte sie konstruktiv einzubinden.
Diese doppelte politische wie finanzielle Unterstützung ermöglichte es Sadr seinen Aktionsradius auszuweiten und sich als gesellschaftlicher und politischer Akteur zu profilieren.
So griff er ab Mitte der 60er Jahre das Ziel einer institutionellen Vertretung der schiitischen Gemeinschaft auf und machte sich zu dessen führendem Advokaten.
Der Beschluss zur Gründung des Obersten Schiitischen Rates (OSR) 1966 krönte diese Bemühungen. Sadrs Wahl an die Spitze des Gremiums verschaffte ihm nicht nur institutionell ein Vehikel politischer Einflussnahme auf nationaler Ebene, sondern bestätigte den gerade erst sieben Jahre im Lande ansässigen Alim als legitimen Vertreter der schiitischen Gemeinschaft.
Wenn Sadr auch die Unterstützung und den Respekt einflussreicher Gruppen genoss, so stieß er, vor allem innerhalb der schiitischen Gemeinschaft, auf nicht unerheblichen Widerstand. So kritisierten einige schiitische Ulama beispielsweise die institutionalisierte Hierarchisierung, die der OSR kreieren würde, zumal sie Sadrs Legitimation für die Führungsposition offen hinterfragten. Ebenso argumentierten sie, dass ein rein schiitisches Gremium das Verhältnis zu den Sunniten nachhaltig stören würde. Für die Zuama wiederum bedeutete der OSR zunächst eine Untergrabung ihres bisherigen Vertretungsmonopols.Öffentlich widersetzen konnten sie sich vielleich Sadr als Vorsitzendem, dem Vorhaben an sich jedoch nicht. Zudem gelang es Sadr auch in diesen beiden Gruppen Verbündete zu gewinnen und seine Wahl sicherzustellen.
Allerdings konnte er seine Widersacher auch nicht vollständig ausschließen, die den OSR nach seiner Gründung ebenfalls zur politischen Einflussnahme nutzen wollten und entsprechenden Anteil einforderten. Symbolisch war die Gründung des OSR also vielleicht ein Fortschritt, praktisch rekrutierte sich das Gremium aber nicht unwesentlich aus den alten Eliten, die den reformorientierten Kräften um Sadr entgegenstanden. Unter diesen Umständen erwies sich der OSR als kaum handlungsfähig, auch und vor allem nicht bei der Einforderung schiitischer Interessen gegenüber der Regierung.
Das wurde in frappierender Weise in dem Maße deutlich, in dem sich die Lage der schiitischen Bevölkerung Südlibanons ab 1969 rapide verschlechterte und sich Regierung wie OSR als handlungsunwillig und handlungsunfähig zeigte. Ab diesem Zeitpunkt schlug Sadr gegenüber der Obrigkeit deutlich aggressivere Töne an. Zudem wandte er sich so intensiv wie nie zuvor jenen Schichten seiner Gemeinschaft zu, die am stärksten von der Vernachlässigung durch den Staat betroffen waren und numerisch das Gros der schiitischen Bevölkerung stellten.
Neben dem schiitischen Subproletariat der Beiruter Vororte begann sich nämlich auch in den beiden anderen großen schiitischen Siedlungsgebieten, dem Süden und der Biqaa, Protest gegen die soziale Misere und den politischen status quo, der diese perpetuierte, zu formieren. Ab 1970 erlebten beide Regionen eine Reihe von Streiks, mittels derer die schiitischen Landarbeiter die Abschaffung des Tabakmonopols sowie soziale Absicherung forderten. Sadr unterstützte diese Belange öffentlichkeitswirksam und machte sich in der Folge zu ihrem prominentesten Fürsprecher. Die von ihm ausgrufenen und angeführten Kundgebungen stießen auf große Resonanz und mobilisierten die schiitische Landbevölkerung in vorher unbekanntem Maße.
Hierzu bediente sich Sadr einer Sprache, die die sozialen Belange der Schia aufgriff und sie in einen explizit religiösen Rahmen einbettete. Er zeichnete das Bild einer politisch wie sozial entrechteten Konfessionsklasse, deren Diskriminierung seit der Zeit der Imame kontinuierlich aufrecht erhalten werde. Als entscheidendes Argument führte Sadr die religiöse Pflicht diesen Zustand zu ändern ins Feld. Die im religiösen Leben der Schiiten verankerten Persönlichkeiten, Symbole und Rituale fungierten hier als Anknüpfungspunkt. Sadr verband eine aktivistische Interpretation von Husain und Karbala mit der gegenwärtigen Situation. Folglich sollten die Schiiten, als Erben Husains, dessen „Revolution“ weiterführen und ihre legitimen Rechte einfordern.
Ebenso wie Ali Shariati wies auch Sadr hierbei den Ulama ein verpflichtendes Maß an Verantwortung zu. Wenn er auch klare Aussagen über politische Autorität Hierarchie des Klerus scheute, so formulierte er wiederholt die Pflicht zum gesellschaftlichen und politischen Engagement seiner Standesgenossen zum Wohle der schiitischen Gemeinschaft.
Ohne es offen für sich zu reklamieren erlangte Sadr in den Augen seiner Anhänger somit eine religiös-moralische Autorität, die auf seiner Ausstrahlung und der Anziehungskraft seiner religiös fundierten sozialen Botschaft fußte.
Sinnfälligen Ausdruck fand diese Autorität 1974, als Sadr hunderttausende Schiiten unterschiedlicher Couleur in Baalbak versammelte. Nicht zufällig wählte Sadr den 10. des Monats Muharram als Zeitpunkt. Die Symbolik von Ashura und der von hunderttausenden geleistete Eid konstituierte, auch bewusst nach außen sichtbar, ein spezifisch schiitisches Gruppenbewusstsein, welches die Grundlage für die von Sadr an diesem Tag ausgerufene „Bewegung der Entrechteten“ ( Harakat al-Mahrumin) bilden sollte. Sadrs Anhänger bezeugten Sadr durch den Eid, wie auch die Anrede Imam, ihre Loyalität und bestätigten seine Legitimität sie anzuführen und politisch zu repräsentieren.
Die auf seine Massenwirkung basierende Harakat al-Mahrumin spiegelte zudem auch Sadrs Enttäuschung und Abkehr vom OSR wieder. Die neue Bewegung erzeugte ein spezifisch schiitisches Solidaritätsgefühl, schaffte aber keinen grundlegenen Konsens. Sadr war stets darum bemüht gewesen, seine eigene sowie die Loyalität der schiitischen Gemeinschaft zum Staat Libanon zu bezeugen. So betonte er zu Beginn des Bürgerkrieges 1975 seinen Anhängern und die übrigen Konfessionen gegenüber den Vorbildcharakter und die historische Mission des Libanon als Beispiel der friedlichen Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften.
Sadrs Rhetorik und deren Wirkung bezüglich des politischen Systems sowie der Rolle der Schia erwiesen sich jedoch als ambivalent. Einerseits brandmarkte er den diskriminierenden und segregierenden Charakter des politischen Konfessionalismus und forderte ein Mehrheitswahlrecht auf säkularer Grundlage. Andererseits operierte er ja selber innerhalb des Systems und förderte innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft eine konfessionalistische Denkweise, indem er ein spezifisch schiitisches Gruppenbewusstsein zu konstituieren half. Zudem sprach er sich explizit für die Beibehaltung des religiösen Personenstandrechts aus – einem Stützpfeiler der konfessionalistisch geordneten Gesellschaft.
Desweiteren erlitt Sadrs Ansehen, insbesondere bei seinen bisherigen Dialogpartnern der anderen Konfessionen, einigen Schaden, als die Existenz der von ihm heimlich gegründeten schiitischen Miliz Amal öffentlich wurde. Sadr hatte zuvor das Auftreten von Milizen als Verrat am Staat kritisiert und mit dem Hinweis auf den überaus großen schiitischen Anteil in der libanesischen Armee die Loyalität seiner Gemeinschaft betont. Dennoch spielte nun auch Sadr nach den Regeln des Bürgerkrieges. Zudem betrachteten seine Anhänger, mit Blick auf andere Konfessionen, das Recht sich in Milizen zu organisieren in gewisser Weise auch als Teil ihrer Emanzipation.
Sadr wiederum beteuerte stets die Loyalität Amals zum libanesischen Staat und zur Obrigkeit. Die Miliz sollte seiner Meinung nach lediglich der Selbstverteidigung dienen und tatsächlich trat Amal während der ersten Etappe des Krieges 1975/76 kaum in Erscheinung. Die zunehmend mentale Konfessionalisierung, die der Krieg beschleunigte, betraf jedoch auch die Schiiten. Solange Sadr mäßigend auf seine Anhänger einwirken konnte, wurden ihre Folgen einigermaßend abgebremst.
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