Donnerstag, 16. August 2007

Musa as-Sadr und die libanesische Schia

I. Einleitung

Versucht man sich an einer Periodisierung politischer, sozialer und kultureller Ordnungsvorstellungen in der islamischen Welt des 20. Jahrhunderts, so wird man unweigerlich mit den Auseinandersetzungen um Genese und Wesen des modernen Islamismus konfrontiert. Eine der entscheidenden Fragen dabei lautet, welche Faktoren zur Entstehung und Etablierung eines islamischen Diskurses über staatliche Legitimität und Autorität beitrugen, und in welchem Maße sich Ulama als Träger dieses Diskurses in den politischen Prozess einbrachten.

Einen maßgeblichen Anstoß zur Beschäftigung mit dieser Problematik wie auch ein scheinbar ideales Untersuchungsfeld lieferte das epochale Ereignis der Islamischen Revulotion im Iran. Da sie sich ausgerechnet in einem mehrheitlich schiitischen Land abgespielt hatte, rückte nun diese bisher eher kursorisch abgefasste Richtung des Islam ins Blickfeld der Forschung wie auch der Öffentlichkeit.

Einen besonderen Fall stellt hierbei die Schia im Libanon dar, weil die politische Debatte der Gemeinschaft wesentlich durch die demographische Situation des Landes definiert wird. Da sich die Diskussion um die libanesische Schia gegenwärtig auf die Akteure Hizb Allah, Iran, Israel und Syrien zu verengen scheint, lohnt es sich um so mehr die Entwicklung bestimmter islamisch geprägter Diskurse der libanesischen Schia nachzuzeichnen und ihr damit eine gewisse historische Tiefe zu verleihen.

Unter anderem soll das Leben und Wirken des libanesisch-iranischen Klerikers Musa as-Sadr als einem der prägenden Köpfe dieses Diskurses in den 60er und 70er Jahren hierbei exemplarisch untersucht werden. Sadr entfaltete ein Repertoire von Aktivitäten, die kein schiitischer Alim zuvor im Libanon ausprobiert hatte. Auf organisatorischer Ebene war er maßgeblich an der Gründung und Erneuerung schiitischer Institutionen beteiligt. Ebenso gelang es ihm politische und soziale Forderungen in einen neuartigen schiitisch wie auch nationalistisch-libanesischen Diskurs einzubinden und eine vorher ungekannte Massenwirkung zu erzielen. Sadr war zugleich Former wie auch Produkt dieses Prozesses, der sich im Zusammenspiel mit Akteuren verschiedener Schichten der schiitischen Gemeinschaft im Libanon einerseits, wie auch den Vertretern der anderen Konfessionen sowie außerlibanesischen Einflüssen entfaltete.

Sadrs Wirkung basierte wesentlich auf bestimmten sozialen und politischen Entwicklungen, die die konfessionsspezifische Transformation der libanesischen Schia in den 50er bis 70er Jahren kennzeichneten und die in ihrem libanesischen Kontext untersucht werden sollen. Zur besseren Einordnung soll ein vorangestellter Abschnitt die soziale und politische Struktur der Gemeinschaft bis Mitte des 20.Jahrhunderts skizzieren.

Im letzten Teil schließlich erfolgt eine Betrachtung des Zeitraums, der dem Verschwinden Sadrs folgte. Hierbei soll einerseits untersucht werden, in welche Richtung sich die von ihm geformten Institutionen und Diskurse entwickelten, und andererseits inwiefern die Person Sadr selber von verschiedenen Gruppen interpretiert und vereinnahmt wurde.

Zwei Fragestellungen sollen die ganze Arbeit begleiten und am Ende hinreichend beantwortet werden können: Zum einen wird gefragt, in welchem Maße sich im Verlaufe von knapp drei Jahrzehnten ein spezifisch libanesisch-schiitisches Gruppenbewusstsein konstituierte, auf welchen Grundlagen es fußte und wie beständig es war. Zum anderen, soll geklärt werden, welchen Anteil Musa as-Sadr daran hatte, und inwiefern er als exemplarischer Vertreter eines Alims in führender politischer und religiöser Rolle in Zeiten politischen und sozialen Wandels angesehen werden kann.

II. Grundlagen schiitischer Positionen zu Legitimität und Autorität

An den Anfang der Untersuchung stelle ich zunächst einen Exkurs, der die theoretische Ausarbeitung schiitischer Positionen zu Legitimität von Autorität im Wechselspiel mit den realen Machtverhältnissen thematisiert. Daneben beleuchte ich Konstituierung und Etablierung wesentlicher schiitischer Symbole und Rituale als Ausdruck einer schiitischen religiösen Identität.

Der Begriff des Imamats und seine Ausgestaltung sind zentral für schiitische Konzeptionen von legitimer Autorität. Obwohl schon vom 6. Imam Jaafar as-Sadiq die Kriterien von nass und ilm, überliefert sind, kann man vor dem 10. Jahrhundert kaum von einer schiitischen Herrschaftstheorie sprechen. Erst nach der Entrückung des 12. Imams vollzog sich eine definitive Abgrenzung gegenüber anderen schiitischen Strömungen, indem man die genealogische Linie bis zum 12. Imam als kanonisch und deren Imame als einzig legitime Autorität betrachtete. Das Fehlen realer politischer Macht wurde durch die Konnotation esoterischen Wissens, welches ausschließlich den Imamen vergönnt war, nachträglich aufgewogen. Die Entrückung des 12. Imams erfüllte im Prinzip die selbe Funktion und war unter den gegebenen Umständen durchaus vorteilhaft, und zwar sowohl für die sich konstituierende schiitische Gemeinschaft, wie auch die sunnitische Obrigkeit. Die Schiiten konnten einem entrückten Imam Legitimität zusprechen, ohne für ihn reale politische Macht einfordern zu müssen.

Nichtsdestotrotz waren schiitische Gelehrte in der Folge gezwungen, die Imamatslehre und ihre Implikationen von legitimer Macht weiter zu entwickeln, und das aus zwei Gründen: Zum einen beanspruchten von Zeit zu Zeit immer wieder Dynastien von sich „schiitisch“ zu sein und protegierten schiitische Lehre und ihre Träger. Zum anderen standen die Ulama ja auch in dynamischem Kontakt mit der schiitischen Gemeinde und nahmen auch Aufgaben wahr, die theoretisch den Imamen vorbehalten waren. Auch in Abgrenzung zur sunnitischen Rechtsfindungslehre wurde das Primat des Ijtihad als vorrangiger Methode elaboriert. Es entwickelte sich in dem Maße, in dem aus einigen Ulama Mujtahids wurden, also sich ein Klerus etablierte, der, zunächst auf juristischem Gebiet, Autorität beanspruchte. Ebenso jedoch approprierten schiitische Ulama auch das Vorrecht der Definition gerechter und ungerechter Machtausübung während der jeweiligen Herrschaftssituation.

Vor allem im Iran setzte sich die informelle Anerkennung durch größere Personengruppen als entscheidendes Kriterium für die Legitimät eines sich weiter diversifizierenden Klerus durch.

Die Autorität eines Alim beruhte dabei auf seiner literarischen Aktivität auf theologischem und juristischem Gebiet, mithin also der Anhäufung von ilm.

Das stand zwar im Gegensatz zum Designationsprinzip der Imamatslehre, wurde jedoch dadurch aufgewogen, dass man einerseits die Stellvertreterschaft der Ulama für den 12. Imam postulierte, und andererseits das Imamat eher als programmatische Idee, denn als Institution fasste.

Dennoch folgte der Hierarchisierung auch eine, wenn auch informelle, Institutionalisierung, deren Legitimät sich auf der gleichzeitigen Anerkennung in der Gemeinschaft und innerhalb des Klerus gründete und sich in der Stellung des Marja at-Taqlid ab Mitte des 19. Jahrhunderts manifestierte. Die Ulama traten somit auch in Konkurrenz mit den sich zu modernisieren versuchenden Staaten, die ihrem Selbstverständnis nach Autorität auch in den Bereichen beanspruchten, die sonst dem Klerus vorbehalten waren. Dem gesellschaftlichen Prestige folgte ein gesellschaftliches Engagement, auch auf politischer Ebene, wodurch neue Konzeptionen klerikaler Aufgabenbereiche angeregt wurden.

Sowohl für die eben beleuchtete Gruppe der Ulama, wie auch für die schiitischen Gläubigen sind die Symbole und Rituale der Schia von fundamentaler Bedeutung. Entsprechend der konkreten Herrschaftssituation etwa rekurrierte der klerikale Diskurs über Legitimität auf verschiedene Themen schiitischer Überlieferung. Das Spektrum umfasst dabei sowohl quietistische wie auch aktivistische Motive.

So werden die Imame beispielsweise für ihr ruhiges Aushalten im Angesicht ungerechter Herrschaft gelobt, aber auch Husain für seine Auflehnung gegen diese ausdrücklich gelobt. Die Imame Hasan und Husain bilden mithin die Prototypen dieser beiden Strömungen, verkörpert in den Konzepten von taqiya und tabiya.

Das wohl prägendste Symbol der Schia ist jedoch wohl Karbala. Gerade die literarische Ausarbeitung und flächendeckende Umsetzung des Stoffes war maßgeblich für die Konstituierung einer spezifisch schiitischen religiösen Identität verantwortlich, der dadurch eine starke emotionale Komponente verliehen wurde. Dennoch ist auch die Karbala-Thematik, sowohl das Symbol als auch das rituelle Gedenken während der Ashura-Zeremonien, durch das selbe der Schia inhärente ambivalente Deutungsspektrum gekennzeichnet. So kann einerseits der Verrat an Husain beweint und sein Martyrium betont, andererseits auch sein (sozial)revolutionärer Charakter und sein anzutretendes Erbe herausgestellt werden. Der hierdurch etablierte Diskurs beschränkt sich somit nicht auf die Ulama, sondern vermag genauso die subalterne schiitische Bevölkerung zu ergreifen und, wie zu zeigen sein wird, zu mobilisieren.

Teil 2 folgt morgen


Keine Kommentare: