Mittwoch, 6. Februar 2008

Grundlegende Probleme des Bildungssystems im Libanon

I. Einleitung

Betrachtet man die Bildungslandschaft des Libanon nach quantitativen Gesichtspunkten, so sticht der Zedernstaat zunächst positiv heraus: Bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 4 Millionen finden sich im staatlichen und privaten Schulsystem knapp eine Million Libanesen. Hinzu kommt eine mittlerweile riesige Auswahl an Institionen höherer Bildung, die im regionalen Vergleich einmalig ist[1]. Gleiches gilt für Investitionen in den Bildungssektor: So wendet der Libanon 9,3% seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung auf, wobei allein 5,6% aus Privatquellen stammen – ein fünffaches des OECD-Schnittes[2].

Dennoch krankt das libanesische Erziehungswesen in wesentlichen Punkten, schließlich ist es Teil der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen und kann sich ihnen kaum entziehen. Vielmehr noch, ist gerade im Libanon der Bildungssektor Projektionsfläche, Schauplatz und Indikator grundlegener struktureller und ideologischer Gegensätze, mithin formt er diese sogar mit oder wird zumindest dahingehend instrumentalisiert[3].

Dementsprechend weisen auch die oberflächlich positiven Zahlen auf ein grundsätzliches Problem hin, nämlich welche Formen und Funktionen das Bildungswesen erfüllen sollte und vor allem, wer darüber entscheiden sollte.

Die Auseinandersetzung ist nicht neu, ebensowenig die grundlegenen Argumente, die im wesentlichen zwei gegensätzliche, historisch beladene Entwicklungen zu versöhnen sucht: Zum Einen steht dort die über 200-jährige Geschichte des meist von den Religiongemeinschaften getragenen Privatschulwesens, mit all seinen erworbenen Privilegien, Richtlinien und vor allem Selbstverständnis. Auf der anderen Seite steht die Staatswerdung des Libanon und der Versuch den Bildungssektor in diesen Prozess miteinzubeziehen.

Identität und Loyalität sind dabei die ideologischen Komponenten, Bildungszugang und -qualität die strukturellen, die wiederum auch untereinander zusammenhängen.

Die vorliegende Arbeit nun soll zunächst die historische Tiefe dieser Auseinandersetzung dokumentiereren, bevor im zweiten Teil die gegenwärtige Problemlage diskutiert wird.

Der erste Teil beleuchtet die jeweils charakteristischen Merkmale der Bildungspolitik in vier Zeitabschnitten: 1. Die osmanische Herrschaft (bis 1918), 2. die Mandatszeit (1918-1943), 3. Der unabhängige Libanon bis zum Bürgerkrieg (1943-1968[4]) sowie 4. Die Zeit des Bürgerkrieges.

Besonders der letzte Zeitraum ist von fundamentaler Bedeutung um die heutige Auseinandersetzung richtig zu verstehen. Die Erfahrungen und Lehren des Bürgerkriegs sind dabei zugleich Anstoß zur Bildungsreform, als auch das am schwierigsten zu bewältigende Streitobjekt der libanesischen Nachkriegsgesellschaft.

Strukturelle und ideologische Gesichtspunkte sind also eng miteinander verwoben und bilden das Spannungsfeld der heutigen libanesischen Bildungpolitik. Die Reform der Curricula, sowohl formal als auch inhaltlich, sowie die Sprachenpolitik stehen mitten in diesem Spannungsfeld und sollen näher beleuchtet werden. Besonderes Augenmerk verdient dabei der Geschichtsunterricht, der das am heftigsten umkämpfte Gebiet darstellt und zugleich sinnbildlich die Schwierigkeiten des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit Geschichte und Identität(en) zu Tage fördert.

Insgesamt möchte ich deutlich machen, welche Diskussionen in der libanesischen Bildungspolitik wie und von wem geführt werden, und vor allem, woran der Großteil der Reformversuche bisher gescheitert ist, scheitert und in Zukunft scheitern wird, bevor ich im Schlussteil eigene Vorschläge und Anregungen vorbringen werde.

II. a) Das Bildungswesen in Osmanischer Zeit

Bereits im 18. Jahrhundert wurde die Entwicklung eines Privatschulwesens auf dem Gebiet des heutigen Libanon planmäßig vorangetrieben. Federführend dabei wirkten die Jesuiten, deren Aktivitäten insbesondere auf die maronitische Gemeinschaft im Libanongebirge zielten. Neben diesen ersten ausländischen, zunächst rein theologisch orientierten Schulen, etablierten die Maroniten bald eigene Dorfschulen. Die Initiative ging hier vom maronitischen Klerus aus, ebenso von den Mönchsorden, die zu diesem Zweck viele Klöster in Schulen umwandelten. Ausländische, meist französische, Jesuiten und die lokale Geistlichkeit etablierten und teilten sich also das Monopol auf das Bildungswesen der maronitischen Gemeinschaft[5].

Diese noch recht überschaubare Bildungslandschaft erlebte in den 1830/40er Jahren einen regelrechten Boom, ausgelöst durch zwei Entwicklungen. Zum Einen gewährten die Bestimmungen der TanãimÁt den christlichen Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich das Recht auf eigene Bildungseinrichtungen, zum Anderen erwiesen sich die politischen Umstände unter der ägyptischen Besatzung durch IbrÁhÍm Pascha (1831-40) als äußerst günstig, um jenes Recht relativ unabhängig von der osmanischen Zentralgewalt umzusetzen.[6]

Vor allem aber bekamen die Jesuiten nun beträchtliche Konkurrenz aus Europa und erstmalig auch aus Amerika. Im Gegensatz zu den Katholiken hatten die protestantischen Missionare zunächst keine besondere Beziehung zu einer bestimmten Gemeinschaft, vielmehr zielten ihre Aktivitäten auf alle im Gebiet des heutigen Libanon ansässigen christlichen Gemeinschaften und drangen auch in die katholische Einflusssphäre vor. Die forcierte Gründung neuer katholischer Schulen besonders nach 1860 kann hierbei einerseits als Reaktion Frankreichs auf die Ausweitung des britischem Imperialismus auf den Nahen Osten und die beginnende Rivalität beider Mächte gesehen werden. Andererseits verbuchte die protestantische Mission, sowohl in infrastruktureller wie religiöser Hinsicht, in kurzer Zeit beträchtliche Erfolge, die die katholische Mission zwang, Schritt zu halten[7].

Zwischen diese beiden Pole geriet alsbald die griechisch-ortodoxe Gemeinschaft. Bereits im 18. Jahrhundert hatte der christliche Orient eine durch Rom forcierte Reihe von Schismen erlebt, aus denen u.a. die Griechisch-Katholische, die Armenisch-Katholische und die Syrisch-Katholische Gemeinschaft hervorgegangen waren. Nun warben auch noch die Protestanten immer mehr Mitglieder der orthodoxen Gemeinschaften ab. Um das eigene Überleben zu sichern, adaptierten die Orthodoxen die Methoden der Missionare, indem sie die Kontrolle und Entwicklung von Bildung als das Schlüsselelement erkannten. Dadurch wurde man dem Bedürfnis der eigenen Gemeinschaft nach Bildung gerecht und konnte gleichzeitig die orthodoxe Identität bewahren[8].

Während also die rasche Entwicklung des Privatschulwesens vorrangig durch die Konkurrenz lokaler und westlicher Akteure genährt wurde, fallen die ersten staatlichen Bemühungen um ein öffentliches Schulsystem etwas aus dem Rahmen. Die 1870 in Beirut gegründete 1. Osmanische Staatsschule auf libanesischem Territorium fällt eher in die allgemeinen Bemühungen Istanbuls innerhalb des ganzen Osmanischen Reiches Bildungseinrichtungen zu etablieren und zentralisieren. Zudem zielten sie ausschließlich auf eine moderne Ausbildung lokaler Verwaltunsbeamter in den urbanen Zentren des Reiches, standen also nicht in direkter Konkurrenz zum bestehendem Privatschulwesen[9].

Dennoch lösten die (wenigen) Osmanischen Staatsschulen eine Reaktion aus, und zwar in eben jenem von sunnitischen Notabeln geprägten Millieu der Küstenstädte. Diese Notablen sahen in der Gründung der MaqÁsid-Gesellschaft 1878 eine Alternative zur zentralisierten Osmanischen Staatsschule und zu den christlichen Privatschulen[10] – mithin als (ersten) Ausdruck einer distinkten sunnitischen Gemeinschaft innerhalb des lokalen religiösen Pantheons mit dem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Bildungssystem.[11] Korrespondierend mit dem ja schon in der Verwaltung eingeführten religiösen Proporzsystem, hielt der institutionalisierte Konfessionalismus nun auch im Bildungssektor Einzug.

Somit war bereits in Osmanischer Zeit bei (fast) allen auf dem Gebiet des heutigen Libanon ansässigen Religiongemeinschaften ein Diskurs etabliert, der das Recht auf Bildung an sich, sowie deren freie Ausgestaltung, unabhängig von der Zentralgewalt, postulierte.

So präsentierte sich der Libanon Ende des 19. Jahrhunderts als fortgeschrittenster Teil des Osmanischen Reiches im Bereich der allgemeinen Bildung[12]. Ergebnis dieser verhältnissmäßig großen Toleranz auf dem Bildungssektor war nicht etwa Loyalität zum Osmanischen Reich, dass diese Toleranz ja gewährte, sondern vielmehr die Internalisierung des Rechts auf Bildungsautonomie – ein Muster, dass auch in den folgenden Epochen immer wieder auftauchen sollte.

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[1] Die renommiertesten sind sicherlich die American University of Beirut sowie die Université Saint-Joseph, die allerdings besonders in den letzten 10 Jahren immer mehr Konkurrenz bekommen hat.

[2] Zahlen finden sich in: Frayha, Nemer: “Education and Social Cohesion in Lebanon“, in: Prospects 33,1 (2003), S. 87.

[3] Bashshur, Munir. "The Role of Education: A Mirror of a Fractured National Image." ,in: Barakat, Halim (Ed.): Toward a Viable Lebanon, Washington DC, 1988, S. 42.

[4] Der „offizielle“ Beginn des Bürgerkrieges wird meist auf den 13.4.1975 festgelegt. Da der Krieg aber selbst eher eine Aneinenderreihung und Überlagerung von Konflikten, denn ein klar abgrenzbarer Krieg war, erscheint es mir sinnvoll die nicht minder gewaltfreien Jahre ab 1968 in die Kriegszeit miteinzubeziehen.

[5] 1736 beschloss die Synode von Luwayza (Al-þUwayza) die planmäßige Gründung von Schulen durch Umwandlung von Klöstern. Vgl.: Frayha, Nemer: The Lebanese Educational System: Its Peculiarity and Survival, Vortrag am 25.4.2002 am Centre for Educational Policy Studies in Ljubljana, Slowenien, S. 3.

[6] Abouchedid, Kamal / Nasser, Ramzi / Van Blommestein, Jeremy: “The Limitations of Inter-Group Learning in Confessional School Systems: The Case of Lebanon“, in: Arab Studies Quarterly Herbst 2002, S. 1.

[7] Labaki, Boutros: Éducation et Mobilité Sociale dans la Societé Multicommunautaire du Liban.
Approche Socio-historique
(Materialien zu Gesellschaft und Bildung in Multikulturellen Gesellschaften 2), Frankfurt/Main, 1988, S. 55.

[8] 1880 betrieb die Gemeinschaft 24 Schulen im Kleinen Libanon. Diese sogenannten „Moskau-Schulen“ wurden maßgeblich durch das russische Zarenreich finanziert. Vgl.: Labaki: S. 28.

[9] Frayha (2003): S. 79; S. Labaki: S. 21.

[10] Terc, Mandy: “A Modern, Integral, and Open Understanding: Sunni Islam and Lebanese Identity in the Makassed Association“, in: Comparative Education Review 50,3 (2006), S. 435.

[11] Havemann, Axel: Geschichte und Geschichtsschreibung im Libanon des 19. und 20. Jahrhunderts. Formen und Funktionen des Historischen Selbstverständnisses, Würzburg, 2002; S. 88.

[12] Dazu kamen eine Handvoll nicht-konfessioneller Privatschulen, die allerdings nie nennenswerte Zahlen erreichten. 1920 gab es gerade 12 dieser Schulen auf dem gesamten Gebiet des heutigen Libanon. Vgl.: Labaki: S. 52; Havemann: S. 93.

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