Am 27. Dezember 2008 begann der Gazakrieg mit israelischen Luftangriffen gegen die Hamas im Gazastreifen. Zu diesem Anlass erscheinen heute zwei Beiträge. Dieser Bericht analysiert den Konflikt aus der palästinensischen Perspektive. Dem voraus ging eine ausführliche Analyse, die den Fokus auf Israel richtet.
Vergeltungsschläge waren bei der Hamas-Führung einkalkuliert, als sie in einer Zeit militärischer Auseinandersetzungen den israelischen Soldaten Gilad Schalit 2006 entführte und zwei weitere tötete. Es ist auch in Gaza bekannt, dass ein entführter Soldat die Emotionen in Israel hochkochen lässt und sämtliche Strategien, ungeachtet rechtlicher Bestimmungen, zur Befreiung in Erwägung gezogen werden. Die prompte Reaktion war so spektakulär wie umstritten: Israel verhaftete 29 gewählte Volksvertreter, acht Minister und den Parlamentspräsidenten Aziz Dweik – alles Mitglieder der Hamas. Sie wurden vor Militärgerichten zu mehrjährigen Haftstrafen wegen „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation“ verurteilt, 15 von ihnen sitzen bis heute ein. Diese Verhaftungswelle traf die Funktionsweise des politischen Systems der PA empfindlich, aber zum erhofften Gefangenenaustausch oder zur Schwächung der Hamas-Bewegung kam es nicht.
Daher wurde die Abriegelung des Gazastreifens verstärkt, seit die Hamas nach inner-palästinensischen Kämpfen mit der PLO im Juni 2007 Gaza alleinig kontrolliert. Israel, das zwar mit der PLO, nicht aber mit Hamas ein Friedensabkommen unterzeichnet hat, akzeptierte eine Grenzkontrolle der militanten Hamas nicht und wollte mit der Grenzschließung den Waffenschmuggel an die Islamisten eindämmen. Auch Ägypten, das sich vor einer Ausbreitung des militanten Islamismus im eigenen Land fürchtet, schloss seinen Grenzübergang zum Gazastreifen.
Die Hamas, die seit ihrem überwältigendem Wahlsieg von 2006 vor Kraft nur so strotzt, wollte und konnte diese Abriegelung nicht hinnehmen: Mit ihr ist weder eine wirtschaftliche Entwicklung, noch eine politische Gestaltung möglich. Hamas reagierte deshalb mit regelmäßigem Raketenbeschuss, den Israel freilich nicht unbeantwortet ließ. Im Juni 2008 einigten sich beide Seiten auf einen vorübergehenden Waffenstillstand, bei dem die Hamas unter Beweis stellte, dass mit ihr Vereinbarungen möglich sind. Israel ließ in dieser kurzen Zeit der Entspannung Hilfsgüter passieren und lockerte die Blockade teilweise. Dennoch, Schalit blieb in der Hand der Islamisten und der Waffeneinfuhr ging weiter.
Folgerichtig hatte die Operation „Vergossenes Blei“, die am 27. Dezember 2008 begann, nicht nur zum Ziel, Schalit zu befreien, sondern auch die Hamas als Organisation zu zerschlagen. Dem Bombenhagel folgte ein blutiger Häuserkampf, dem viele Zivilisten zum Opfer fielen. Ein vielbeachteter UN-Untersuchungsbericht, der so genannte Goldstone-Bericht, dokumentierte später von israelischen Soldaten verübte Kriegsverbrechen. Aber die beiden Kriegsziele wurden bekanntlich verfehlt. Die Hamas ließ sich nach Kriegsende sogar als Siegerin feiern, allein weil sie nicht unterging und bis zum Schluss in der Lage war, Raketen nach Israel zu feuern.
Den Preis für diese „Heldentaten“ der Hamas und für die Fehlkalkulationen und Kollektivstrafen Israels zahlte die Zivilbevölkerung des Gazastreifens. Die Zahlen sprechen für sich: 1.400 Palästinenser wurden getötet, 5.000 verletzt, über 6.000 Häuser würden zerstört oder schwer beschädigt. Da die Blockade des Gazastreifens fortbesteht und folglich auch kein Baumaterial ins Land kommt, blieb der dringend nötige Wiederaufbau bislang aus, obwohl die Weltgemeinschaft einst vier Milliarden Dollar für Aufbaumaßnahmen zugesagt hatte. Weitere Folgen der Blockade sind mangelnde Strom- und Wasserversorgung, Massenarbeitslosigkeit und Armut – 80% der Bevölkerung ist auf internationale Hilfe angewiesen. Aus diesem Grund fordern nun 16 Hilfsorganisationen, darunter Amnesty International, in einem gemeinsamen Bericht die sofortige Aufhebung der völkerrechtswidrigen Abriegelung.
Doch sehr aussichtsreich ist der Appell nicht. Im Gegenteil. Vor kurzem sind Pläne bekannt geworden, wonach Ägypten einen 30 Meter in die Erde reichenden Stahlwall in der gesamten Länge seiner Grenze (14 Kilometer) zum Gazastreifen errichten will. Die Stahlmauer würde die Abriegelung des Gazastreifens vollenden, mit wohl verheerenden Folgen für die Bevölkerung. Die Zahl der Tunnel wird auf 800 geschätzt bei eine Länge von bis zu 2 Kilometern. Durch die Tunnel gelangen Lebensmittel, Baumaterial, Treibstoff und Konsumgüter aller Art in den Gazastreifen. Das Tunnelgeschäft ist nicht nur lukrativ für die Tunnelbetreiber, sondern auch für die Hamas, die sich für Strom und Absicherung von den Tunnelbauern bezahlen lässt. Dass auch Waffen für die Hamas durch die Tunnel eingeführt werden, lässt sich auch nicht leugnen. Weil aber sämtliche Grenzübergänge geschlossen sind, sind die Tunnel zu den Lebensadern Gazas geworden.
Ungeachtet aller Proteste aus Gaza, rechtfertigt Ägypten den geplanten Bau mit dem Schutz seiner nationalen Sicherheit. Schon während des Gaza-Kriegs setzte sich Ägypten scharfer Kritik aus, weil es seine Grenze trotz der humanitären Katastrophe im Gazastreifen geschlossen hielt. Hassan Nasrallah, Chef der libanesischen Hisbollah, forderte damals sogar das ägyptische Volk zur Revolution gegen Staatspräsident Mubarak auf. Zum Ende des Krieges halfen deutsche Experten bei der Grenzsicherung. Deutschland hat desweiteren Wirtschaftshilfen für die Beduinen des Sinai angeboten, die bislang auf der ägyptischen Seite vom Tunnelgeschäft leben.
Eine fatale indirekte Folge der Abriegelung ist auch eine zu beobachtende Radikalisierung in Gaza. Radikal-islamistische Gruppierungen fordern immer offener die Hamas in ihrer Hochburg Gaza ideologisch und mitunter auch militärisch heraus. Wegen der inoffiziellen aber praktizierten Waffenruhe durch die Hamas, ihren Verhandlungsbemühungen mit Israel und ihren Wahlteilnahmen halten diese Jihadisten die Hamas nicht für islamisch genug. Zudem wird eine konsequentere Islamisierung aller gesellschaftlichen Bereiche von der Hamas-Regierung eingefordert. Es ist daher schwer zu sagen, ob die Hamas von der Blockade politisch profitiert. Am 22. Jahrestag der Hamas-Gründung feierte die Partei jedenfalls mit Kampfliedern und Durchhalteparolen. Ismail Haniyeh, de facto Ministerpräsident des Gazastreifens, bekräftigte vor Zehntausenden Anhängern die unnachgiebige Haltung der Hamas im israelisch-palästinensischen Konflikt und die Ablehnung, Israel als Staat anzuerkennen.
Die Rolle der PLO in diesem Konflikt ist recht ambivalent. Einerseits versteht sie sich immer noch als legitime Repräsentantin aller Palästinenser, auch derer in Gaza. Andererseits haben Israel und Abbas ein Interesse daran, dem palästinensischen Volk die negativen Folgen einer Hamas-Herrschaft zu verdeutlichen, weshalb Mahmud Abbas sogar bereit war, den Goldstone-Bericht auf Bitten Israels verzögert zu veröffentlichen, was ihm den Vorwurf des Verrats einbrachte. Dass die USA dennoch keinen Stopp des Siedlungsbaus mehr von Israel einfordert, war für Abbas Grund genug, nicht mehr für eine weitere Amtszeit zu kandidieren. Frustriert kündigte er seinen Rücktritt an. Die Verhandlungen zwischen PLO und Hamas um eine Wiederherstellung der Einheitsregierung und die Vorbereitungen für die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind aber gescheitert. Der für Januar 2010 angesetzte Wahltermin wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Den Fall Schalit könnte die Hamas nicht nur für einen Gefangenenaustausch, sondern auch für eine Lockerung der Blockade zu nutzen versuchen. Am 30. September schien ein Durchbruch in greifbaren Händen: Mit Hilfe deutscher Vermittlungsdienste ließ Israel 19 Palästinenserinnen für ein Lebenszeichen von Schalit frei. Sie wurden vom Roten Kreuz in die Westbank gefahren und dort von den Angehörigen freudig empfangen. Für Ismail Haniyeh war der Tag ein „Triumpf des Widerstands“. Dieses Ereignis wurde als ein erster Schritt hin zu einem umfassenden Gefangenenaustausch gewertet. Doch die zahlreichen Meldungen, wonach dieser unmittelbar bevorstehe, sollten sich am Ende nicht bewahrheiten. Ein Grund dafür ist sicher auch, dass die Hamasführung in Gaza andere Interessen verfolgt als die in Damaskus. Während bei ersterer vor allem ein „state building“ im Gazastreifen im Mittelpunkt der Überlegungen steht und die Blockade ein ernsthaftes Hindernis dafür darstellt, geht es der Exilführerschaft um Khaled Mishaal vor allem um gute Beziehungen zu den politischen Partnern in Iran und Syrien. Einem Deal mit Israel müssen letztlich aber beide Führungen zustimmen. Weiter kommt erschwerend hinzu, dass Israel direkte Verhandlungen ablehnt und die Vermittler aus Kairo wiederum auch eigene Interessen verfolgen.
Wie so oft im Nahostkonflikt ist ein Krieg schnell geführt, doch politische Verhandlungen über scheinbar einfache Teilkonflikte, von deren kompromissbasierten Lösungen beide Seiten profitieren würden, gestalten sich überaus hartnäckig. Der Charakter des Nahostkonflikts unterliegt einem laufenden Änderungsprozess wodurch Chancen verpasst und Teilkonflikte verschleppt werden. Somit ist zu befürchten, dass sich auch die Blockade wie auch der Gefangenenaustausch noch weiter hinauszögern und bis zu diesem Zeitpunkt eventuell wieder neue Konfliktfelder eröffnet werden und neue Spieler auf der Verhandlungsbühne erscheinen.
Sonntag, 27. Dezember 2009
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2 Kommentare:
Eure Berichterstattung zum Thema Palästina/Israel wird zwischen den Zeilen ein immer deutlicher werdender pro-israelischer Duktus deutlich. Ich dachte erst, jetzt kommt tatsächlich der Artikel aus palästinensischer Sicht. Stattdessen kommt als Einleitung eine Rechtfertigung vom ganzen Massaker mit der Entführung von Gilad Shalit. Ein Soldat der nichtmal tot ist wird namentlich als Kriegsgrund genannt. Nennt mir doch mal eine Person der über 500 Kinder und Frauen namentlich! Aber nein da steht so ein Satz: "Daher wurde die Abriegelung des Gazastreifens verstärkt". Fehlt nur noch ein "selber Schuld".
Oder dieser Satz, der Wahnsinn, als wäre er direkt der Bild oder der Welt entnommen: "Folgerichtig hatte die Operation „Vergossenes Blei“, die am 27. Dezember 2008 begann, nicht nur zum Ziel, Schalit zu befreien, sondern auch die Hamas als Organisation zu zerschlagen". "Folgerichtig". Folgerichtig ist die Bevölkerung in Gaza dank der israelischen Verwandlung des Gebiets in ein Freiluftgefängnis seit Jahren von allen wichtigen Grundgütern abgeschnitten. Es sind noch so viele andere Stellen im Text in denen diese entsetzlichen Tage im Freiluftgefängniss Gaza versucht werden zu rechtfertigen. Der Artikel ist dieses Blogges nicht würdig. Langsam aber sicher unterscheiden sich die Artikel in Al-Sharq im Duktus und Informationsgehalt nichtmehr von der Mainstreampresse. Schon allein dieser am Ende genannte Schwachsinn von der Atombombe von der es selbst LAUT US-GEHEIMDIENSTEN keinen Beweis gibt! Ich ziehe langsam in Erwägung hier nur noch die halbwegs neutralen Artikel zur Kultur des Nahen Ostens zu lesen.
@M.A
Sie haben es mit ihren Kommentar auf den Punkt gebracht. Zudem kommt noch, das sobald man alternative Medien vorzeigt, diese oder man selbst als Verschwörungs dargestellt wird.
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