Die Richtung hat wieder einmal gewechselt im Tauziehen über die Definitionsmacht des Türkentums. Hatte die Regierungspartei AKP in den letzten Wochen unter dem Motto der „Öffnung“ die Versöhnung mit Armenien vorangetrieben, als tabuisiertes Kapitel der Republikgeschichte die Niederschlagung des kurdisch-alevitischen Aufstandes von Dersim 1938 thematisiert, eine exemplarische „freiwillige“ Entwaffnung einiger PKK-KämpferInnen organisiert und erste Gesetze zur freieren Verwendung der kurdischen Sprachen angekündigt, scheint besonders letztere Initiative nun überholt zu sein. Am vergangenen Freitag wurde die pro-kurdische Partei DTP durch das Verfassungsgericht verboten und 37 ihrer Mitglieder zu einem fünfjährigen Politikverbot verurteilt.
Während es bereits als typisch für die AKP bezeichnet werden kann, sich durch regelrechte Charmeoffensiven in Problemfeldern (nicht zuletzt derer, die vom Westen als solche definiert werden) zu profilieren, scheint die Rolle der kemalistischen CHP und der rechtsnationalistischen MHP vor allem darin zu bestehen, vor der antilaizistischen hidden agenda der AKP zu warnen, und ebenso verfassungskonform wie innovationsfrei ihren Einfluss in den Staatsinstitutionen zu verteidigen. Durch das Verbot der DTP, die mit 21 Abgeordneten im Parlament vertreten war, kommt es nun wieder einmal zu einer Déjà Vu-Situation: wie ihren Vorgängerparteien werden ihr Verbindungen zur PKK vorgeworfen, von der sie sich nie explizit distanzierte. Und wie bei früheren Parteiverboten steht mit der „Partei des Friedens und der Demokratie“ schon eine „Backup“-Partei bereit, die Ex-DTP-Mitglieder übernehmen könnte. Während eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sich einige Tage nach dem Urteil bereits in Vorbereitung befand, wurde eine Erklärung veröffentlicht, nach der die 19 Abgeordneten aus dem Parlament ausscheiden wollen: „Sind wir Don Quichote? Wie sollen wir gemeinsam mit denen Politik machen, die die Auflösung unserer Partei bejubeln?“, wird die Fraktionsvorsitzende Gülten Kışanak zitiert.
In jedem Fall bedeutet das Urteil, dass die kurdische Sache in Zukunft wieder verstärkt von außerparlamentarischen Akteuren vertreten wird – und zwar eher von Radikalen als Moderaten, die durch die Politikverbote stärker getroffen worden seien, wie die AKP-nahe Zeitung Today's Zaman darlegt. Die Gewaltspirale zwischen PKK und dem türkischen Militär droht sich, nach dem Tod von sieben Soldaten bei einem Anschlag in der vergangenen Woche und Ausschreitungen nach dem Bekanntwerden des Parteiverbots, wieder zu drehen. Auch die Regierungspartei kann in diesem, dem türkischen Staat inhärenten Konflikt, bestenfalls symbolische Politik betreiben – ist sie doch selbst chronisch vom Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit bedroht.
Als einziger Ausweg aus dem chronischen Déjà-Vu wird währenddessen in der Turkish Daily News die Idee einer neuen, „zivilen“, Verfassung beworben: „ […] a new constitution that guarantees cultural rights, addresses the causes of regional disparity, and defines the institutional balances that Turkey desperately needs.” Tatsächlich ist die Maxime der aktuellen Verfassung, entworfen von der Militärregierung nach dem Putsch von 1980: Stabilisierung um jeden Preis. Und: Traue keiner politischen Initiative, der Staat hat immer recht. Wirkt eine Verfassung, die von unzurechnungsfähigen politischen AkteurInnen ausgeht, letztendlich vielleicht als self-fulfilling prophecy? Die Abschaffung der Verfassung von 1982 würde nicht nur die Möglichkeit abschaffen, gewählte Parteien einfach abzusägen. Die Aufhebung der Zehnprozent-Hürde für das Parlament beispielsweise würde Platz schaffen für Parteien, die Alternativen aufzeigen zum großen Tauziehen zwischen CHP/MHP und AKP. So würden sich irgendwann nicht mehr nur die Namen der Parteien erneuern, sondern auch deren Inhalte.
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