Donnerstag, 12. August 2010

Von der Mandatszeit bis in die Gegenwart - Interview mit Jakob Hisch

Liebe Leserinnen und Leser,

während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Jerusalem lernte ich vor etwa vier Jahren Jakob Hirsch kennen. Der 86-jährige Israeli mit deutschen Wurzeln, dessen Eltern mit ihm 1935 in das damalige Mandatsgebiet Palästina emigrierten, sprach mit Alsharq über seine Erinnerungen an die Etappen auf dem Weg zur Gründung des jungen israelischen Staates am 14. Mai 1948. Im Fokus stand dabei außerdem das Verhältnis zwischen Juden und Arabern. Des Weiteren disktutierten wir aktuelle politische Entwicklungen und richteten unseren Blick in die Zukunft. Wir bedanken uns bei Jakob sehr herzlich für dieses aufschlussreiche und ausführliche Interview.

Jakob Hirsch wurde 1924 in Halberstadt geboren. Im Alter von vier Jahren zog er mit seinen Eltern nach Berlin-Westend. Jakobs Eltern waren überzeugte Zionisten, sein Vater war Delegierter auf verschiedenen Zionisten-Kongressen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Jakob zusammen mit seinen Eltern und seiner Großmutter nach Palästina.


An Bord der „Theodor Herzl“ kam die Familie am 14. November 1935 in Haifa an. Die Familie ließ sich in Jerusalem nieder. Der Vater schloss sich dem Friedensbund “Ichud” an, der sich für die jüdisch-arabische Verständigung sowie einen binationalen jüdisch-palästinensischen Staat einsetzte. „Ichud“ war die Nachfolgeorganisation von „Brit Shalom“, die von Martin Buber und anderen gegründet wurde. Die Gruppe wurde als „Araber-Freunde“ beschimpft, eines Tages legte man Familie Hirsch eine „kleene Bombe“ vor die Haustür. 1939/40 wurde Jakob in die „Gadna“ eingeführt, die Jugendorganisation der jüdischen Untergrundorganisation „Haganah“. 1943 wurde er einen Monat vor seinem Abitur in die britische Armee eingezogen und diente bis 1946 in Palästina, Italien und Ägypten in einer Munitionseinheit. Nur wenig später kämpfte Jakob im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Anschließend studierte Jakob Jura und fand Anstellung beim Amt des Staatskontrolleurs, dem israelischen Gegenstück zum Bundesrechnungshof. Seit seiner Pensionierung ist Jakob für verschiedene Organisationen tätig, unter anderem für die Jerusalem Foundation und Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Er lebt in Jerusalem.

Jakob, Du bist mit dem Schiff mit deiner Familie von Triest nach Palästina gereist. Was wusstest du damals über Palästina? Was waren deine Erwartungen?

Ich komme aus einem zionistischen Elternhaus. Mein Vater war Jurist, meine Mutter Medizinerin. Sie waren schon vor dem Ersten Weltkrieg in zionistischen Jugendbewegungen - „Blau-Weiß“ hieß das damals, das war sowas wie die zionistische Version der Wandervögel - und haben sich frühzeitig mit Palästina beschäftigt. Schon vor dem Ersten Weltkrieg haben sie angefangen, hebräisch zu lernen.

Ich bin 1924 geboren. Im selben Jahr war mein Vater zum ersten Mal in Palästina, mit meiner Mutter war er, glaube ich, zum ersten Mal 1928 dort. Mein Vater war sehr aktiv in einer zionistischen Studentenvereinigung, dem Kartell Jüdischer Verbände (KJV). Während seiner ganzen beruflichen Karriere war er dann im Zionistischen Verein für Deutschland (ZVfD) engagiert.

Seitdem ich meine Augen das erste Mal aufgeschlagen hatte, gab es immer Hebräisch-Lehrer bei mir zuhause, die meinen Eltern Unterricht gegeben haben. Das waren meistens Studenten aus Osteuropa. Ich ging von Anfang an auf eine zionistische Schule hier in Berlin, lernte ab der 1. Klasse hebräisch und sang hebräische Lieder. Ich hatte also eine Vorstellung von Palästina. Dass dieses Bild nicht so ganz so aussah wie die Realität ist auch klar. Aber im Gegensatz zu vielen anderen habe ich als Elfjähriger nicht gesagt: Ich muss jetzt meine Heimat verlassen und gehe in ein fremdes Land, es war ein Abenteuer, aber es war kein unbekanntes Land, von dem ich überhaupt gar keine Ahnung hatte.

Wusstest du, dass dort Araber lebten, die die jüdische Einwanderung ablehnten? War dir das bewusst?

Das sind zwei verschiedene Fragen. War mir bewusst, dass dort Araber lebten? Ja natürlich. Wusste ich, dass sie die jüdische Einwanderung ablehnten und dass es dort politische Probleme gibt? Nein, das habe ich erst im Land mitbekommen. Dass es dort Araber gab, war ja immer auch von den Bildern bekannt, die es in Zeitungen oder Büchern gab. Araber die die Felder pflügen, die hinterm Esel oder dem Kamel herlaufen. Ich glaube, von politischen Problemen hatte ich damals keine Ahnung. Das hat mich auch nicht wirklich interessiert.

Wie war das Verhältnis zwischen Juden und Palästinensern damals, als du nach Palästina gekommen bist?

Für mich persönlich war der Umgang ganz selbstverständlich. Da gab es Juden, da gab es Araber, da gab es Engländer. Da gab es arabische Dörfer, da gab es jüdische Kibbutzim. Da gab es die englische Regierung, da gab es Polizei. Da waren englische Polizisten, da waren jüdische und arabische Polizisten. Wir lernten arabisch in der Schule. Ich bin am 14. November 1935 eingereist. Bis die "Unruhen", wie wir das damals nannten, 1936 anfingen, wusste ich nicht, so wie ich mich heute erinnere, dass es da große Probleme gibt. Das hat erst angefangen mit den Unruhen.

Wie haben diese Unruhen dein alltägliches Leben beeinflusst?

Da fingen die Araber an, - wir redeten damals nicht von den Arabern, sondern von den "Banden", die zum Teil auch von außerhalb Palästinas kamen, etwa aus dem Libanon - jüdische Autobusse und Kibbutzim anzugreifen. Wenn wir in die Schule gefahren sind, sind wir immer durch ein arabisches Viertel gefahren. Auf einmal haben die Araber dort angefangen, Steine auf den Bus zu werfen, dann wurden vor den Fenstern Metallgitter angebracht.

Wir hörten immer öfter von Operationen der Haganah. Dann kamen die Night Squads von Orde Wingate, die aus englischen und jüdischen Männern bestanden. Sie zogen nachts los, denn die Araber haben ungern in der Nacht gekämpft und man konnte nachts die Araber in ihren Dörfern überfallen. Dann kamen die Weißbücher heraus, die die jüdische Einwanderung und den Verkauf von arabischen Böden an die Juden begrenzten. Auf der einen Seite arbeitete das britische Militär zusammen mit der Haganah und auf der anderen Seite stand die Mandatsregierung gegen den jüdischen "Yishuv". Das war alles kompliziert.

Mein Vater war von Anfang an aktiv in einer der Nachfolgeorganisationen der von Buber gegründeten Bnei Brith, war auch Herausgeber ihrer Zeitung. Er ist dann später auch vor dem Anglo-American Committee of Inquiry aufgetreten, das war dann schon in den 1940er Jahren. Er war auch kein Anhänger des Biltmore Program, da er für einen gemischten jüdisch-palästinensischen Staat eintrat.

Auch war er Mitglied im Zionistischen Aktionskomitee. Um das kurz zu erklären: Es gab ja seit Herzl damals alle vier Jahre die zionistischen Weltkongresse, wenn nicht gerade Krieg war. Und in den Jahren, in denen nicht getagt wurde, da war das Aktionskomitee sozusagen die jüdische-zionistische Regierung, die parallel zur Mandatsregierung existierte. Mein Vater war dort von Anfang an Mitglied. Da gab es auch immer große Debatten mit Ben Gurion, aber die persönlichen Beziehungen waren nicht schlecht. Mein Vater war anerkannt, das habe ich später aus Briefen herausgelesen. Also die ganzen Jahre von 1946 bis 47 habe ich miterlebt. 1943 bin ich zum britischen Militär gegangen, 1942 bin ich in die Jugendeinheiten der Haganah gekommen. Das lief parallel, das eine hat das andere nicht gestört.

Du hast gerade erzählt, dass sich dein Vater für einen binationalen Staat eingesetzt hat. Später hat er dann die Gründung Israels als jüdischen Staat begrüßt und du hast selbst im Unabhängigkeitskrieg gekämpft.

Gekämpft ist stark übertrieben. Ich habe mitgemacht.

Was hat diesen Sinneswandel ausgelöst? Welche Fehler wurden damals gemacht?

Der Wandel in der Familie war kein wirklicher Wandel. Bis zur UN-Entscheidung am 29.November 1947 war mein Vater der Meinung, die Lösung sollte ein bi-nationaler Staat werden. Aber mein Vater war auch Realist. Mit der UN-Entscheidung war das Thema vom Tisch. Dann hat er sich am neuen Staat orientiert und war dort aktiv als jemand, der für die Verständigung von Israelis und Arabern eintrat, aber eben in einem anderen Umfeld. Er konnte ja nicht sagen: Jetzt spiele ich nicht mehr mit und gehe zurück ins schöne Berlin. Jetzt ist die Situation so und jetzt müssen wir sehen, was wir daraus machen können.

Ich war ja schon vorher 1943 zum britischen Militär gegangen. Je nach Betrachtungsweise freiwillig oder angeordnet. Einer der jüdischen Führer hat damals gesagt: Wir bekämpfen die Deutschen als ob es kein Weißbuch gebe, wir bekämpfen die Engländer als ob es keinen Weltkrieg gebe. Parallel. Dadurch dass ich dann ins britische Militär geschickt wurde, gab es für mich in den Jahren 43 bis 46 kein Arabisches Problem mehr. Das Problem war der Weltkrieg. Die Engländer fingen dann an, Palästinenser in die Armee einzuziehen. Sie hatten zuerst beschlossen, dass es genauso viele jüdische wie palästinensische Einheiten geben müsse. Das haben sie sehr schnell aufgegeben, weil nur sehr wenige Araber bereit waren ins britische Militär zu gehen. Es gab lediglich – parallel zu uns – auch arabische Rekruten. Das waren sehr primitive Bauern, mit denen wir nichts gemeinsam hatten. Wir mussten damals Munitionszüge begleiten - das war übrigens für mich bisher die einzige Gelegenheit mal in den Libanon zu fahren, weil wir damals ein paar Kilometer durch den Tunnel bei Ras al-Naqoura in den Libanon gefahren sind. Und in jedem Waggon waren ein arabischer und ein jüdischer Soldat. Und manchmal saßen wir dort 24 Stunden zusammen drin. Es war unmöglich mit ihnen zu reden. Ich hatte in der Schule nur das Schrift-Arabisch gelernt, die Araber konnten kein Wort Englisch oder Hebräisch, von Deutsch gar nicht zu reden. Es gab überhaupt keine Kontakte.

Als ich dann wieder zurückkam, gab mir mein Vater das Buch „The Arab Awakening“, geschrieben von einem christlichen Araber...

...George Antonius...

…das hat mich fasziniert. Nachdem ich das gelesen hatte, gab es für mich wieder Araber.

Die Szene, die du gerade beschrieben hast: Ein Jude und ein Araber tun gemeinsam Dienst und haben die Möglichkeit sich kennenzulernen, leben aber nebeneinander her. War das schon eine Art Vorahnung für die Zukunft – dieses Nebeneinander statt Miteinander?

In den Jahren bis 1947 war die Einstellung eigentlich so: Es geht doch ganz gut. Geschäftlich gab es viele Kontakte. Und für die Entwicklung der Araber bedeutete die Einwanderung einen Wirtschaftsboom. Die Fellachim, die die Ländereien bearbeiteten, die den Effendis gehörten, die zum Großteil gar nicht in Palästina lebten und für viel Geld Land verkauften, haben aber sehr darunter gelitten. Die Fellachim mussten dann ihre Felder verlassen. In vielen Städten – etwa in Haifa oder Jerusalem – hatte die traditionelle jüdische Bevölkerung, die zum Beispiel in der Altstadt lebte, viel bessere Beziehungen zu den Arabern in der Altstadt als zu solchen Jeckes, also deutschen Juden, wie uns. Die waren sich viel näher und haben über hundert Jahre dort gemeinsam gelebt. Was hatten sie dagegen mit westlichen Akademikern wie meinen Eltern zu tun? Das tägliche Leben ging parallel eigentlich ganz gut. Die Leute, die in britischen Regierungsbüros arbeiteten, arbeiteten mit Palästinensern zusammen. Ab und zu hat man sich in Jerusalem oder Bethlehem getroffen. Mal lief es besser, mal schlechter. Das war sehr individuell.

Was waren denn die entscheidenden Faktoren, die dann 1947/48 zu dieser Eskalation geführt haben? Welche Fehler wurden gemacht?

Ich glaube, die Engländer haben die ganzen Jahre wie in Indien die Politik verfolgt, alle Seiten gegeneinander auszuspielen. Ich glaube, der erste sehr große Fehler in 1947 der Araber war es, die UN-Entscheidung nicht zu akzeptieren. Es hätte alles ganz anders ausgesehen, wenn sie das akzeptiert hätten. Auch auf jüdischer Seite war die Mehrheit gegen den UN-Beschluss, weil das Land viel kleiner war als man wollte und als man vorher glaubte zu bekommen. Aber Ben Gurion, der etwas klüger war als die Araber, hat durchgesetzt, dass das akzeptiert wurde. Nach weniger als 24 Stunden war die Frage auf jüdischer Seite vom Tisch, denn nach weniger als 24 Stunden begann der Angriff der Araber. Da war es eine Frage von Leben und Tod. Ich persönlich bin auch heute kein Mensch, der sich mit Fragen wie „Was wäre gewesen, wenn?“ beschäftigt. Ich bin nicht wie diese Fußball-Kommentatoren, die hinterher immer wissen, was der Trainer hätte machen müssen.

Aber habt ihr damals überlegt, was passiert wenn ihr, je nachdem, den Krieg gewinnt oder verliert? Wie waren damals die Diskussionen über die Zukunft des Landes?

Wenn Du damals in Jerusalem gewohnt hättest, als Jerusalem belagert wurde...

Wenn ich abends in meiner Einheit zum Abendbrot kam, bekam ich eine dünne Suppe mit einer Scheibe Brot und einem Stück Papier, auf dem stand: „Der Kommandeur bedankt sich, dass du eine Scheibe Brot für deine Kameraden gespendet hast, die nachts Dienst tun müssen.“ Dann hat man sich nur mit der Frage beschäftigt: Was tun wir, um uns da durchzukämpfen, bis die Vereinten Nationen uns helfen - damals glaubte man noch daran - oder bis es uns gelingt, die Araber zu überzeugen, dass wir nicht im Mittelmeer ertrinken wollen. Da fing auch etwas an, was ein Leitmotiv geworden ist und eine Mehrheit der Israelis prägt: Man verlässt sich auf niemanden außer sich selbst. Meine persönliche Meinung ist anders, aber das hat angefangen damals im Befreiungskrieg. Die Tschechen haben uns geholfen, aber im Großen und Ganzen hat uns die Welt im Befreiungskrieg gegen die arabischen Staaten alleine gelassen. Als dann am 15. Mai die arabischen Truppen aus vier Nachbarländern - die Arabische Legion aus Jordanien unter dem Kommando des Engländers Glubb Pasha und mit englischen Offizieren - einmarschierten, eigentliche ohne Grund, und die Welt – nur einige Jahre nach der Shoa dabeistand und zusah - das hat damals einen tiefen Einfluss gehabt, der bis heute nachwirkt.

Aus deiner damaligen Sicht, war das ein Kampf des israelischen David gegen einen arabischen Goliath?

Also bis zum 15. Mai 1948, so glaube ich, war dieses Gefühl nicht da. Da ging es nur darum voranzukommen. Es war sehr widersprüchlich: Da gab es einen exponierten Kibbutz oder Moshav, der ums Überleben kämpfte und in Tel Aviv ging das Leben fast normal weiter. Ab dem 15. Mai kann man schon vom Kampf David gegen Goliath reden. Das jüdische Israel damals umfasste 600.000 Juden, heute sind es sechs Millionen. 600.000 Juden gegen die Armeen von Ägypten, Irak, Jordanien, Syrien, Libanon.

Hast du damals etwas von Flucht und Vertreibung der Araber mitbekommen? Wurde darüber diskutiert?

Ja sicher. Gleich am Anfang gab es doch das Etzel-Massaker in Deir Yassin. Das sorgte für einen großen Schock in weiten Kreisen. Der Tenor war: „Das war furchtbar, so etwas darf nicht wieder vorkommen.“ Ich möchte nicht sagen, dass es so etwas später gar nicht mehr gab, aber jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Aber das Resultat von Deir Yassin war, das viele Araber große Angst bekamen. Oder nehmen wir die Gegend, in der ich heute wohne, Katamon. Da geht die Diskussion bis heute weiter, ob die Haganah die Araber dort vertrieben hat, ob sie geflohen sind, oder auf Anordnung der arabischen Führung ihre Häuser verließen, im Glauben es sei nur für ein paar Tage. Welche der drei Versionen richtig ist – keine Ahnung. Ich glaube, dass es Orte gab, wo das israelische Militär Männer, Frauen, Kinder umgebracht hat, aber das waren Ausnahmen und auch nicht in großem Umfang.

Ein paar Fragen zur Gegenwart: In den Jahren vor der Staatsgründung und den ersten Jahrzehnten des Staates Israel wurde der politische Diskurs vom politischen Zionismus geprägt. In den letzten zwei Jahrzehnten scheint der religiöse Zionismus mehr und mehr Rückhalt in Gesellschaft und Politik zu gewinnen. Teilst du diesen Eindruck?

Was ist heute Zionismus? Das ist eine große Diskussion. Die Siedler sind zu einem hohen Prozentsatz religiös und behaupten, sie seien heute die wahren Zionisten. Nur das, was sie tun sei Zionismus. Jeder hat eine andere Meinung, aber die Mehrzahl hat überhaupt keine Ahnung, was Zionismus eigentlich ist. Du kannst Einen fragen, der sagt dir: Zionismus ist, Israel innerhalb der Grünen Linie aufzubauen. Andere werden dir sagen: Heute gibt es keinen Zionismus mehr. Das ist vorbei. Wieder andere werden sagen: Zionismus bedeutet zuerst einmal, die Araber aus Israel herauszubekommen um ganz Israel als einen jüdischen Staat ohne Araber zu haben. Andere werden wiederum sagen, Zionismus ist, ein Israel inklusive der West Bank zu errichten. Wir haben sechs Millionen Juden in Israel und auf die Antwort wirst du sicher acht Millionen Antworten bekommen. Das ist eine sehr viel diskutierte Frage.

Ist das Ausdruck einer lebendigen Diskussion oder eines fehlenden Grundkonsenses in der Gesellschaft?

Beides. Sicher, hätten wir ein Konzept vom Zionismus, das allgemein akzeptiert wird, würde die Sache anders aussehen. Trotzdem, dass heute 70% der Israelis hinter der jetzigen Regierung stehen, geht von ihr kein klares Konzept vom Zionismus aus. Die Diskussion wird häufig davon geprägt, dass man nicht weiß was man will, aber weiß, was man nicht will.

Würdest du den Eindruck teilen, dass religiös motivierte Politik in den letzten Jahren eine wichtigere Rolle in Israel spielt?

Ich würde es anders formulieren. Ohne Zweifel steigt der religiöse Einfluss wie auch der Prozentsatz der Juden, die auf die eine oder andere Art religiös sind, die ganze Zeit. Heutzutage sind die religiösen Parteien, besonders die Shas, viel stärker geworden.

Würdest du sagen, dass das eine mögliche Lösung des Konflikts mit den Palästinensern schwerer macht?

Ohne Frage. Fundamentalismus auf allen Seiten macht die Sache schwerer.

Deine Familie ist damals vor den Nazis nach Israel geflohen.

Ich weigere mich das Wort „geflohen“ in den Mund zu nehmen. Meine Familie ist damals 1935 nach Israel ausgewandert. Ich komme aus einer zionistischen Familie, das ist mir immer sehr wichtig zu betonen. Meine beiden Eltern waren schon vor dem ersten Weltkrieg in einer Zionistischen Jugendorganisation, der Blau-Weiß. Mein Vater war 1924 das erste mal im Land. Ich ging in Deutschland von Anfang an, also ab 1930, nur in zionistische Schulen - niemals in die allgemeinen Schulen - wo ich von der ersten Klasse an modernes Hebräisch lernte. Ich kann mich nicht als Opfer des Nationalsozialismus ansehen. Jemand, der aus einer Familie kommt, die seit 1913 Zionisten war und dafür geredet und gearbeitet haben und deren Ziel es immer war, nach Palästina zu gehen, kann nicht sagen: Weil wir 1935 gegangen sind, waren wir Opfer des Nationalsozialismus. Vielleicht hat der Nationalsozialismus die Auswanderung beschleunigt. Die Frage ist: Wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte, ob und wann wir nach Palästina gekommen werden. Wären wir auch 1935 gegangen, wären wir ein paar Jahre später gegangen? Das beschäftigt mich, aber ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass ich ein Opfer des Nationalsozialismus sein soll. Ich bin bereit zu akzeptieren, dass unsere Auswanderung durch die Nationalsozialisten beschleunigt wurde.

Dann stellen wir die Frage anders: Viele Familien sind damals vor den Nazis nach Palästina geflohen. Ist aus deiner Sicht die Existenz Israel als Heimstätte der Juden heute noch eine Voraussetzung für den Schutz der Juden vor Verfolgung und Antisemitismus?

Ja. Ich glaube das sieht man jetzt gerade in Frankreich. Als die Franzosen aus Algerien abgezogen sind, hat man die alten Juden nach Israel geschickt und die jungen, die zuversichtlichen, sind in Frankreich geblieben. In den letzten Jahren gab es eine große Einwanderung aus Frankreich von diesen Juden der 1. und 2. Generation. Das gleiche galt lange Zeit für die Juden aus der Sowjetunion und auch aus Amerika gibt es immer noch Einwanderer. Ich glaube, dass da noch immer sehr viel Wahres dran ist.

Es wird oft davon gesprochen, dass sich durch die Einwanderung aus der Sowjetunion der Charakter Israels verändert. Kannst du kurz beschreiben, wie das deiner Meinung nach zutrifft?

Die Einwanderung aus der Sowjetunion hat viel verändert. Politisch, weil sie sehr rechts sind – das was wir im israelischen Sinne rechts nennen. Weil sie wenig Gefühl für Demokratie und Liberalismus haben. Der Prozentsatz der russischen Juden in den Kampftruppen ist besonders groß.

Diese Einwanderung hat auch großen Einfluss auf die Kultur. Früher gab es den Witz, dass jeder russische Einwanderer entweder Dirigent oder der Erste Geiger war. Wenn du heute in eine Musikschule gehst, ist ein hoher Anteil der Lehrer aus Russland. In den 1930er Jahren war die Sprache des Publikums bei Konzertveranstaltungen deutsch, dann wurde lange Zeit nur russisch gesprochen. Zwischen der jeckischen Aliyah und der russischen Aliyah, hattest du nie eine Einwanderungsgruppe mit einem so großen Anteil an gebildeten Leuten.

Aber, dass eine große Mehrheit der Anhänger des Außenministers Liberman russische Einwanderer sind, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Er hat verhältnismäßig wenig Rückhalt bei anderen Israelis.

Du lebst in Jerusalem, einer Stadt deren Status höchst umstritten ist. Wie sieht deine Vision für Jerusalem aus?

Eine Stadt, die Hauptstadt Palästinas und Hauptstadt Israels ist. Wie das genau umzusetzen ist, wirtschaftlich, steuerrechtlich, und so weiter weiß ich nicht. Eine Stadt, die physisch ungeteilt ist. Ich sehe überhaupt gar keine andere Möglichkeit.

3 Kommentare:

g.c. hat gesagt…

Danke für das tolle Interview. Herr Hirsch sollte ein Buch über sein Leben in Jerusalem seit 1935 schreiben. Darüber, wie sich die Stadt seither verändert hat.

Martin Krebs hat gesagt…

Danke Christoph, auch wenn Jakob mir sagte, er hätte seine Zweifel, wie gut das Interview geworden ist, finde ich es sehr gut! Beeindruckend - wie immer - und interessant.

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank, ein sehr beeindruckendes Interview! Sehr gut

Lg Hendrik