Montag, 22. November 2010

Interview mit Sari Hanafi zur Lage der Palästinenser im Libanon: „Das neue Gesetz ist ein Fiasko!“

von Ray Smith*

Im August verabschiedete das libanesische Parlament Änderungen am Arbeits- und am Sozialversicherungsgesetz. Damit sollte die Lage der PalästinenserInnen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden. Was in vielen Medien als bemerkenswerte Reform gefeiert wurde, relativiert sich bei näherem Blick stark. Von einer „vollen Arbeitserlaubnis“ kann nach wie vor nicht die Rede sein.

Mitte November wurde im Rahmen des UPR-Mechanismus des UNO-Menschenrechtsrates, einem System zur Kontrolle des Menschenrechtsschutzes in den UN-Mitgliedsländern, die Menschenrechtssituation im Libanon unter die Lupe genommen. Der Libanon wurde für die Diskriminierung der 250.000 palästinensischen Flüchtlinge im Land von vielen Mitgliedstaaten, darunter auch von den USA, Frankreich und Großbritannien, gerügt. Der Libanon wurde aufgefordert, konkrete Maßnahmen zu ergreifen um die Diskriminierung der palästinensischen Flüchtlinge insbesondere auf dem Arbeitsmarkt abzubauen und ihre Bewegungsfreiheit zu garantieren.**

Sari Hanafi ist außerordentlicher Professor für Soziologie an der American University of Beirut. Als Wissenschaftler und Aktivist hat er dazu beigetragen, dass der Lage der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Autor hat ihn in Beirut zu einem Gespräch getroffen.


Ray Smith: Welche Auswirkungen hat die jüngste Änderung des libanesischen Arbeitsgesetzes auf die Arbeitslage der PalästinenserInnen im Libanon?

Sari Hanafi: Das am 17. August verabschiedete Gesetz benennt und legalisiert die Diskriminierung. PalästinenserInnen können noch immer nicht in den freien Berufen arbeiten, also beispielsweise als Ärzte, Ingenieure, Krankenpfleger oder Buchhalter. Dieses Gesetz wurde so formuliert, dass es keinen Effekt hat. Im Dezember gehe ich zum Arbeitsministerium und prüfe, ob die Anzahl Arbeitsbewilligungen für PalästinenserInnen zugenommen hat oder nicht.
Das Gesetz gibt PalästinenserInnen das Recht, Arbeitsbewilligungen zu beantragen. Das Problem liegt jedoch in der vom Ministerium festgelegten Prozedur. Es ist beinahe unmöglich, einen Arbeitgeber davon zu überzeugen, PalästinenserInnen legal anzustellen und in die Sozialwerke einzuzahlen. Alle Beteiligten wissen, dass PalästinenserInnen von diesen Zahlungen nie profitieren werden. Palästinensische ArbeiterInnen erhalten bloß eine Pension, aber keine Kompensationen für Mutterschaft, Krankheit oder Unfälle.

Wer ist schuld daran, dass die Reform gescheitert ist?

Das Gesetz spiegelt den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den politischen Parteien wider. Jene, die auf einen Konsens drängten, also die Future-Bewegung von Saad Hariri, sind verantwortlich. Wenn man einen Konsens sucht, tendiert das Ergebnis dazu, bloß symbolischer Art zu sein und keine Wirkung zu haben. Ich mache aber auch der Hizbollah einen Vorwurf. Von einer Widerstandspartei, welche die Notwendigkeit der Befreiung Palästinas und Jerusalems stets betont, erwarte ich, dass sie die PalästinenserInnen hier nicht verhungern lässt.
Bereits der Entscheid vom damaligen Arbeitsminister Trad Hamadeh 2005 blieb wirkungslos. Seit fünf Jahren stagniert die Anzahl der Arbeitsbewilligungen für PalästinenserInnen bei rund 200 pro Jahr. Im Vergleich zu den 250.000 palästinensischen Flüchtlingen im Land ist das nichts.
Das neue Gesetz geht auch nicht auf das Recht auf Eigentum ein. Weil die Flüchtlingslager derart überbevölkert sind, ist es ein wichtiges Recht. Der Umfang der Camps hat sich kaum erweitert, aber die Einwohnerschaft hat sich verfünffacht. Diese Lager sind wie Slums. Es gibt keine andere Lösung, als den PalästinenserInnen außerhalb des Camps Eigentumsrechte zu gewähren. Leider gibt es darüber nicht einmal eine Debatte. Das neue Gesetz ist ein totales Fiasko. Es packt die entscheidenden Themen nicht an.

Trotzdem: Ist die Gesetzesänderung wenigstens ein positiver Schritt in einem längeren Prozess?

Der Fakt, dass es eine Debatte darüber gibt, ist wichtig. Die PLO und die UNRWA sind sehr aktiv. Es gibt eine Mobilisierung, um den Arbeitsminister, Boutros Harb, zu einer Überarbeitung der Prozedur zu bewegen. Anstatt dass der Arbeitgeber für seine palästinensischen Angestellten eine Bewilligung beantragen muss, sollte man den PalästinenserInnen selbst eine dreijährige Bewilligung geben, damit sie selbständig einen Job suchen können. Das würde die Dinge um einiges vereinfachen.
Es braucht konstanten Druck. Die palästinensische Gemeinschaft und auch die ausländischen Diplomaten hier haben die Dummheit des neuen Gesetzes erkannt. Es braucht gleichzeitig Druck von Außen sowie von lokalen Basisbewegungen.

Wie beurteilen sie die parlamentarische Debatte?

Die Gesetzesdebatte veranschaulichte die Spaltung der libanesischen Gesellschaft. Ich sehe zwei Frontlinien: Zum einen geht es um einen Klassenkonflikt. Der Anführer der christlichen Phalangisten, Amine Gemayel, sagte zum Beispiel, man wisse sehr wohl, dass PalästinenserInnen im Vergleich zu libanesischen Arbeitern zu einem viel kleineren Lohn arbeiteten. Aber wenigstens arbeiteten sie! Nun, Gemayel rechtfertigte damit die Ausbeutung.
Die andere Frontlinie dreht sich um Moral und Identität. Die grundlegenden Menschenrechte von mehr als 250.000 Personen werden verletzt. PalästinenserInnen sind AraberInnen, aber manche LibanesInnen behandeln sie wie Wegwerf-ArbeiterInnen. Es geht den konservativen, rechtsgerichteten LibanesInnen um Identität.

Beschleunigte der Krieg in Nahr al-Bared die Debatte um Bürgerrechte?

Ich bin mir nicht sicher. Nahr al-Bared war eher ein Rückschritt für die Beziehungen zwischen PalästinenserInnen und LibanesInnen. Die Autonomie des militärischen Apparates gegenüber der gewählten Regierung hat seither zugenommen. Der Militärapparat bestehend aus den Internal Security Forces (ISF), der Armee und dem Armeegeheimdienst handelt selbständig und ohne Rücksicht auf das politische System. Die Meinungsäußerungsfreiheit der PalästinenserInnen wird klar verletzt und sie werden eingeschüchtert. PalästinenserInnen fühlen sich als lebten sie wieder unter dem Deuxième Bureau, der Herrschaft des Armeegeheimdienstes der 50er- und 60er-Jahre.

Die libanesische Regierung hat wiederholt klargemacht, dass sie Nahr al-Bared als Experiment betrachtet und die de-facto Souveränität über das Camp behalten will.

Ich habe kein Problem damit, wenn sie ihre Souveränität über das ganze libanesische Territorium expandieren will. Aber darum geht es nicht. Wenn man über Souveränität spricht, muss man deren Objekte definieren. Sie müssen die Frage beantworten, ob sie PalästinenserInnen als Flüchtlinge oder AusländerInnen betrachten wollen. Gelten sie als AusländerInnen, muss man den PalästinenserInnen alle Privilegien geben, welche die anderen AusländerInnen auch genießen, wie beispielsweise die Möglichkeit zu arbeiten und den Berufsverbänden beizutreten. Betrachtet man sie aber als Flüchtlinge, muss man ihnen die Flüchtlingsrechte gewähren. Dazu gehören das Recht auf Arbeit und Eigentum gemäß der Flüchtlingskonvention von 1951, welcher der Libanon bislang nicht beigetreten ist, und des Casablanca-Protokolls der Arabischen Liga, welches der Libanon mit Vorbehalten unterzeichnet hat.
In Syrien und Jordanien haben PalästinenserInnen einen klaren Status und sie leben unter staatlicher Kontrolle. Sobald die palästinensischen Flüchtlinge hier im Libanon einen klaren Status und Rechte haben, sind Polizeiposten in den Camps willkommen, sofern sie PalästinenserInnen und LibanesInnen gleichermaßen dienen. Die Diskussion um Souveränität hat eher symbolischen Charakter. Der Armeegeheimdienst und die ISF können schon lange gesuchte Leute in den Camps aufspüren.

Die gegenwärtige Situation ist einseitig: Inklusion in Sicherheitsbelangen, Exklusion wenn es um Rechte geht...

Genau! Wenn man den Status dieser Leute nicht definiert, aber ihnen die Polizei schickt, ist es ein Problem. Deshalb betrachte ich die ISF in Nahr al-Bared als Widerstandsbekämpfungspolizei, nicht als 'community police'. Es gibt nämlich kein Abkommen mit dem lokalen Volkskomitee. Im Gegenteil: Gleich zu Beginn hat die Polizei die palästinensischen Unternehmen, Institutionen und NGOs illegalisiert. Nach libanesischem Recht können PalästinenserInnen keine Geschäfte besitzen. Alles was sie tun, ist illegal. PalästinenserInnen haben Grund genug, die ISF zu fürchten. Und sie haben Recht wenn sie verlangen: 'Bevor ihr die Polizei bringt, klärt unseren Status: Können wir Läden besitzen? Können wir Vereine bilden? Was ist die Rolle des Volkskomitees?' Der Armeegeheimdienst behandelt das Volkskomitee als InformantInnen und verhaftet hin und wieder einige seiner Mitglieder, wenn diese sich nicht kooperativ zeigen oder keine Verdächtigen ausliefern.

Manche LibanesInnen sagen, der freie Zugang der PalästinenserInnen zum Arbeitsmarkt würde die Wirtschaft in Gefahr bringen...

Falls sie wirklich um ihre Wirtschaft besorgt wären, würden sie PalästinenserInnen den Besitz von Eigentum erlauben. Es ist doch absurd, Investitionen aus dem Golf anzulocken, aber nicht von den PalästinenserInnen, welche ja hier leben. Nicht zu vergessen sind auch die Ausgaben der UNRWA und der PLO im Libanon. Diese sind beträchtlich und betragen rund 200 Millionen Dollar pro Jahr. Der libanesische Markt und die Gesellschaft profitieren von diesem Zufluss. Zudem muss man auch an die Zahlungen von Exil-PalästinenserInnen denken. Dieses Geld kommt hier auf den Markt und die libanesische Gesellschaft profitiert davon. Zu behaupten, PalästinenserInnen würden dem libanesischen Markt schaden, ist absurd.
Ein palästinensischer Fischverkäufer in Nahr al-Bared. Geht es nach der libanesischen Politik, bleibt den PalästinerInnen weiterhin eine Vielzahl anderer Berufe verwehrt.

Rund 30 freie Berufe werden von mächtigen Verbänden kontrolliert. Haben PalästinenserInnen Zugang zu diesen Berufsverbänden?

Die Statuten einiger Verbände lassen bloß libanesische StaatsbürgerInnen zu, wie bspw. der Anwaltsverband oder jener der Verleger. Andere wiederum verlangen Reziprozität. Da es aber keinen offiziell anerkannten palästinensischen Staat gibt, kann dieses Prinzip nicht umgesetzt werden. Buchhalter, Ingenieure und Krankenpfleger beispielsweise leiden unter dieser Regel. Das Parlament könnte Abhilfe schaffen, indem es die Verbandsstatuten illegalisiert, denn eigentlich ist diesen gegenüber das nationale Recht vorrangig.
Rechte PolitikerInnen benutzen die Statuten oft als Ausrede und behaupten, sie hätten keine Einflussmöglichkeit. Das stimmt aber nicht. Gäbe es ein nationales Gesetz, das PalästinenserInnen freien Zugang zu den freien Berufen garantieren würde, müssten die Statuten der Verbände entsprechend angepasst werden.

* Ray Smith ist freier Journalist im Libanon und in der Schweiz. Er ist Aktivist beim anarchistischen Medienkollektiv 'a-films', welches sich seit Jahren eingehend mit der Situation der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon befasst.


** Ein ausführlicher Beitrag Ray Smiths zur Thematik wurde kürzlich vom Inter Press Service (IPS) publiziert. Eine deutsche Übersetzung des Beitrags findet sich hier online.

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