Dienstag, 23. November 2010

Nomadisches Denken. Edward Saids Werk und seine Relevanz für die Gegenwart

von Florian Grosser

Mit Erscheinen seines Hauptwerkes Orientalism vor gut dreißig Jahren avancierte der palästinensisch-amerikanische Literaturtheoretiker Edward Said zu einem der globalen Stars des postmodernen linksliberalen Diskurses. In den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern wie auch in den Medien, die diesen Diskurs tragen, wurde er seitdem nicht nur als besonders anerkennungswürdige Stimme eines aufgeklärten Palästina wahrgenommen und gehört.

Vielmehr galt und gilt er neben Homi Bhabha auch als einer derjenigen Intellektuellen, die einem machtbesessenen, eigene Wert- und Rationalitätsmaßstäbe verabsolutierenden Westen den Spiegel vorhalten und das nicht-westliche „Andere“ vor Augen führen, welches sich mit dessen politischen, moralischen und wissenschaftlichen Kategorien nie vollständig fassen lässt. Welche Anziehungskraft Saids Überlegungen und insbesondere die zentrale These, das im Okzident verbreitete Bild des Orients beruhe auf exotistischen Projektionen und stehe bis in die Gegenwart im Dienst einer imperialen Interessenpolitik, auch sieben Jahre nach dessen Krebstod noch ausüben, hat eine internationale Tagung gezeigt, die zu Monatsmitte in Krakau stattfand.


 Unter dem Titel Saidism in the XXI. Century kamen an der dortigen Jagiellonian Universität Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen, um der Frage nachzugehen, wie anwendbar und relevant Saids Gedanken zum Orientalismus in ihren jeweiligen Forschungsfeldern im Hinblick auf aktuelle Debatten und Problemlagen tatsächlich noch sind.

Begrenzte Wirkungsmacht

Den Verdacht, dass es sich bei Bezugnahmen wissenschaftlicher Studien auf Said bzw. den Orientalismus häufig um rein ritualisierte, jedoch wenig gehaltvolle Verweise auf einen zeitgenössischen Klassiker handeln könnte, sprach gleich zu Beginn der Konferenz der dänische Politologe Morten Valbjørn aus. Wie berechtigt seine Vermutung, Said sei vielfach zu einem Museumsstück verkommen, mit dem sich jede post-colonial, subaltern oder diaspora study ohne großen Aufwand ausstaffieren lasse, ist, wies Valbjørn anhand umfangreicher Daten nach.

Obwohl Valbjørns Erhebungen auf europäische und amerikanische Universitäten beschränkt bleiben, die wissenschaftliche Rezeption von dessen Werk in Nah- und Mittelost jedoch nicht erfassen, ergibt sich ein klares Bild von den Grenzen der faktischen Wirkungsmacht Saids: So mussten in einer Befragung ausgerechnet jene Forscher, die sich professionell mit dem Orient befassen, einräumen, dass dessen Ansatz für ihre Arbeiten von marginaler Bedeutung ist. Nach Ansicht der Befragten sei Saids Denken in den Middle Eastern Studies allenfalls als Objekt der Kritik von Nutzen, als Gegenfolie also, auf der sich die eigenen Argumente konturierter zur Abhebung bringen ließen. Im Unterschied dazu könne, so Valbjørn, der Einfluss von Motiven und Methoden Saids an den Literatur-Departments diesseits und jenseits des Atlantiks nur schwer überschätzt werden.

Fruchtbare Anwendung

Als gelte es, dies umgehend zu bestätigen, veranschaulichten die Vorträge von drei Literaturwissenschaftlern, wie lebendig und fruchtbar die Auseinandersetzung mit Said in ihrem Feld ist. Während Karolina Rak die Werke des sudanesischen Schriftsteller Tayeb Salih im Anschluss an Said als Gegenstück zu Joseph Conrads Heart of Darkness, als selbstständige und selbstbewusste Antwort der Kolonie an das Imperium deutete, zeigte Karolina Lesniewska anhand einer anonymen französischen Novelle aus dem 12. Jahrhundert auf, wie sich das Konzept des Orientalismus sinnvoll auch auf präkoloniale Kontexte beziehen lässt: Im Subtext lege die in Partonopeu de Blois gegebene Beschreibung des mittelalterlichen Konstantinopel als luxuriös und sinnlich, dabei jedoch instabil, dekadent und schwach nahe, dass der Osten eine Intervention der mannhaft-starken Kreuzritter geradezu sehnsüchtig erwarte. Folglich handle es sich, so Lesniewska, um ein literarisches Komplement zu den politischen Expansionsinteressen des christlichen Europa.

Schließlich vertrat Zbigniew Bialas die These, dass Momente gezielter „Orientalisierung“ durchaus auch innerhalb Europas festzustellen seien. Am Beispiel der Figur des Mazeppa in Lord Byrons gleichnamigem Erzählgedicht versuchte Bialas zu illustrieren, wie das westliche Europa seine östlichen Nachbarn, in diesem Fall Polen und die Ukraine, literarisch repräsentiert: Den Text des Briten Byron einem „Saidian reading“ unterziehend, zeigte er, auf welche Weise ein Vertreter des Empire sich und seiner Leserschaft ein fiktives Osteuropa konstruiert; ein Osteuropa, das – als ein fremdes Die – primär durch seine Unzugehörigkeit zum zivilisiert-aufgeklärten westeuropäischen Wir charakterisiert ist. Für Bialas muss Mazeppa, der im Fortgang der Erzählung orientierungslos und nackt durch die Endlosigkeit der „Steppe“, auch dies eine Projektion, galoppiert, somit als Chiffre für die vom Westen unterstellte defizitäre Andersheit des Ostens verstanden werden.

Notwendige Ergänzung

Auf Basis von Foucaults „archäologischem“ Denken überprüfte Karim Barakat von der American University Beirut Saids Orientalismus-These aus philosophischer Perspektive auf ihre argumentative Stimmigkeit und Überzeugungskraft. Dabei arbeitete er solche Elemente von Saids Ansatz heraus, die, wenngleich auch untergründig, einen problematischen Essentialismus reflektieren. Gewisse Gedanken und Formulierungen Saids ließen Barakat zufolge darauf schließen, dieser setze unausgesprochen einen substantiell „wahren“, vom Westen jedoch notorisch verkannten Orient an und verfalle dabei selbst in Denkmuster, die er bei Vertretern der okzidentalen Orientforschung scharf kritisiere.

Einen Ausweg aus dem Dilemma dieser wahr-/falsch-Dichotomie, den Said freilich übersehen habe, stelle Foucaults Konzept der episteme, d.h. einer kontingenten, historisch spezifischen Wissensformation, dar: Mit dessen Hilfe könne das Orientbild der kolonialen Ära als Dokument einer zwar beschränkt erkenntnisträchtigen, deshalb jedoch nicht schlichtweg verfehlten Konfiguration des damals Gewussten und Wissbaren begriffen werden; einer spezifischen Vorstellungs- und Denkweise also, die zumindest als ein Mosaikstein im Gesamtpanorama des Wissens vom Orient anerkannt werden müsse. Die von Barakat vorgeschlagene Ergänzung Saids um Foucault beugt damit der Gefahr vor, schlechthin alles, was von abendländischen Forschern, Literaten oder Politikern über den Orient gesagt wurde und wird, unter den Generalverdacht des Orientalismus zu stellen.

Kritischer Nomadismus

Dass derart konstruktive und wohlbegründete Kritik ganz im Sinne Edward Saids gewesen wäre, unterstrich neben der Pariser Professorin Marie-Christine Navarro vor allem auch Adel Iskandar (Georgetown), selbst ein Schüler Saids, nachdrücklich. Denn nichts habe dieser weniger sein wollen als ein Meister, dem eine Jüngerschar blindlings nachfolge. Kritik statt Solidarität – dies könne geradezu als das Leitmotto Saids gelten, dem statische Loyalitäten – und damit zweifellos auch jede Form eines doktrinären „Saidismus“ – zeitlebens suspekt gewesen seien.

Für Iskandar, Mitherausgeber einer neu erschienen umfangreichen Aufsatzsammlung zum Erbe Saids, ist es die Figur des Nomaden, die diese Haltung hartnäckiger Infragestellung des Gültigen und Gängigen paradigmatisch abbildet. Es sei ein Kernanliegen Saids, des lebenslangen Exilanten und Pendlers zwischen den Welten, gewesen, das jenseits eindeutiger Hin- und Zugehörigkeiten liegende Zwischen als ethisch, politisch und epistemisch respektable Position zu etablieren. Den stets prekär bleibenden, in seinen Grenzen nie klar abzusteckenden Nicht-Ort des Out of Place einzunehmen, habe diesem geradezu als Voraussetzung für jedes tiefere Verstehen des Fremden und Anderen gegolten. Als anti-fundamentalistischem „Philosophen des Nomadismus“ sei es Said maßgeblich darum gegangen, starre, eindimensionale Begriffe von Heimat herauszufordern und – samt der damit einhergehenden unbeweglichen Überzeugungshaushalte und master narratives von Ankunft, Rückkehr, Geburtsrecht und Heiligem Land – aufzuweichen.

Dass Said in seinen Reflexionen zum Nomadismus als Denkhaltung und Existenzmodus nicht allein darauf aus ist, unterschiedliche kulturelle Traditionen – von Conrad bis Salih, von Wagner bis Oum Kalthoum – als kompatibel auszuweisen, steht damit außer Frage. Vielmehr gewinnt seine nomadische Denkhaltung ihre volle Bedeutung erst aus der politischen Sprengkraft, die ihr innewohnt: Denn gerade mit Blick auf die Region, aus der Said, 1935 in Jerusalem geboren, stammt, ist sein Ansatz als Gegengift gegen eine spalterische Identitätspolitik der Konfliktparteien zu begreifen, die absurde Blüten bis hin zu einer „politischen Archäologie“ treibt.

An die Bewohner Palästinas und Israels ist Saids endlos wiederholte Erinnerung daran, dass das Eigene immer und notwendig unentwirrbar mit dem Anderen verwoben, dass also – wie er im Vortrag Freud and the Non-European betont – Moses Ägypter ist, in besonderer Weise adressiert. Dass von diesem Standpunkt des Zwischen aus besehen eine die Trennung von Hier und Dort zementierende Zwei-Staaten-Lösung nur als Ausdruck einer historisch blinden, zukunftslosen und zutiefst gefährlichen Politik aufgefasst werden kann, liegt damit auf der Hand.

Überflüssiger Saidismus

Wie weit also einzelne Begriffe und Gedankenfiguren, die Said aus seiner Position perpetuierter Beweglichkeit und Ruhelosigkeit gewinnt, ein zeitgemäßes kritisches Denken sowohl innerhalb als auch außerhalb akademischer Diskurse nach wie vor zu tragen vermögen, ist auf der Krakauer Konferenz in einiger Deutlichkeit zutage getreten. Entgegen der Hoffnungen der Veranstalter und mancher Vortragender, einen homogenen Saidismus forcieren zu können, hat sich jedoch nicht weniger deutlich gezeigt, wie überflüssig, unangemessenen und letzthin unmöglich es ist, die verstreuten Interventionen des Denknomaden Said systematisch integrieren und, indem man ihn zum Begründer einer Denkschule ausruft, institutionalisieren zu wollen.

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