Lange hat es gedauert und wirklich zufrieden ist keiner der Beteiligten, aber immerhin hat der Irak acht Monate nach den Wahlen eine neue Regierung. Doch die gegenseitige Blockade nach libanesischem Vorbild wird das Land auch in Zukunft prägen – auf Kosten dringend benötigter Sachpolitik
Am 2. Oktober war es endlich soweit. Der Irak, die Wiege der menschlichen Zivilisation, hatte wieder die Weltspitze erreicht – leider in einer wenig ruhmreichen Kategorie: Noch nie hatte die Regierungsbildung in einem Land länger gedauert. 1977 brauchten die Parteien in den Niederlanden 208 Tage, um sich auf eine Koalition zu einigen, diesen Rekord übertrafen ihre irakischen Kollegen 33 Jahre später um Längen. Am 7. März dieses Jahres hatten die Iraker gewählt, am 11. November einigten sich die Kontrahenten schließlich auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung, in der vieles so bleibt wie vor der Wahl.
Zugegeben: Die Wähler hatten es ihren Politikern auch nicht gerade einfach gemacht. Nach Auszählung aller Stimmen gab es keine klaren Mehrheiten. Die säkular orientierte »Iraqiyya«-Liste des ehemaligen Premiers Iyad Allawi lag überraschend knapp vor der »Rechtsstaatskoalition« des amtierenden Regierungschefs Nuri al-Maliki. Auf dem dritten Rang landete die »Nationale Irakische Allianz« des schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr. Jedes dieser Bündnisse reklamierte den Posten des Regierungschefs für sich und jedes Bündnis hegte Animositäten gegenüber den rivalisierenden Lagern. Doch angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament war klar, dass sich mindestens zwei der drei Wahllisten zu einer gemeinsamen Allianz würden zusammenschließen müssen, um eine Regierung mit eigener Mehrheit zu bilden.
Nutznießer der Uneinigkeit waren die Nachbarstaaten, die ihre eigenen Interessen verfolgten und die Position ihrer irakischen Günstlinge zu stärken versuchten. Allen voran die erbitterten Widersacher al-Maliki und Allawi gaben sich in Riad und Teheran die Klinke in die Hand, um Unterstützung für die eigene Position zu gewinnen. Schließlich konnte sich der amtierende Premier mit iranischer Hilfe die Zustimmung der Sadr-Bewegung sichern. Bis dahin waren seit den Wahlen sieben Monate vergangen und noch immer fehlten al-Maliki vier Stimmen zur Parlamentsmehrheit. Nun kam die »Vereinigte Kurdische Allianz« ins Spiel, die jedoch gleich ein ganzes Bündel an Forderungen mitbrachte, von deren Erfüllung sie ihre Unterstützung abhängig machte.
Bagdads Politiker orientieren sich an Beirut
Unter Vermittlung von Masud Barzani, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, kam schließlich eine Vereinbarung zustande, die wichtige Persönlichkeiten auf den Posten belässt, die sie schon vor der Parlamentswahl vom März innehatten. So bleibt nicht nur Nuri al-Maliki Regierungschef, der Kurde Jalal Talabani sitzt weiter auf dem Präsidentenstuhl. Wichtige Sachfragen, die entscheidend für die Zukunft des Landes sind, wurden hingegen auch nach achtmonatigen Verhandlungen einfach weiter vertagt: Dazu gehört neben der umstrittenen Verteilung der Einnahmen aus der Ölförderung auch die Frage nach dem Umgang mit Mitgliedern der unter Saddam Hussein regierenden Baath-Partei.
Kaum hatte sich die politische Elite auf einen Kompromiss zur Machtteilung geeinigt, entzündete sich an der von al-Maliki mit großem Eifer vorangetriebenen Ent-Baathifizierung neuer Ärger. Etwa 50 Abgeordnete der »Iraqiyya«-Koalition verließen das Parlament, nachdem sich der Parlamentspräsident geweigert hatte, eine Abstimmung darüber zuzulassen, drei »Iraqiyya«-Mitglieder von der Liste Baath-belasteter Politiker zu streichen. Pikant: Der frisch gewählte Parlamentspräsident Usama al-Nujaifi ist selbst »Iraqiyya«-Mitglied und sitzt somit zwischen allen Stühlen. Hilflos verließ Nujaifi schließlich selbst den Plenarsaal und protestierte damit gegen seine eigene Entscheidung.
An der Ent-Baathifizierung lässt sich exemplarisch die Willkür der Politik in wichtigen Fragen ablesen. Eine einheitliche Regelung zum Umgang mit ehemaligen Parteimitgliedern gibt es nicht, stattdessen werden Politiker willkürlich geschasst und wieder begnadigt. So durfte Salih al-Mutlaq, bis zur Wahl Chef der stärksten sunnitischen Fraktion im Parlament, bei der diesjährigen Parlamentswahl wegen seiner Baath-Mitgliedschaft nicht antreten – im Oktober verhandelte al-Maliki mit ihm über die Bildung einer gemeinsamen Regierung.
Die gesamte irakische Politik hat in den letzten Monaten ein jämmerliches Bild abgegeben. Die Versorgungslage im Land ist weiterhin schlecht, Strom gibt es nach wie vor nur wenige Stunden am Tag. Für die Politiker rückte die Lösung dieser Sachfragen jedoch gegenüber ihren Ränkespielen um die Machtverteilung deutlich in den Hintergrund. Und schon heute ist absehbar, dass dem Irak weitere schwierige Jahre bevorstehen. Der Auszug der »Iraqiyya«-Abgeordneten aus dem Parlament gab nur einen Vorgeschmack darauf, wie sich die drei großen Parlamentsfraktionen auch in Zukunft immer wieder gegenseitig blockieren werden. Was den politischen Umgang miteinander angeht, so orientieren sich die Politiker in Baghdad weniger an ihren Kollegen in Washington oder Berlin, sondern an Beirut. Wie im Libanon wollen alle Ethnien und Konfessionen ihren Anteil an der Macht sichern – eine sachorientierte Politik bleibt dabei auf der Strecke.
Die USA hatten kaum Einfluss auf die Regierungsbildung
Zu allem Überfluss haben Iraks Politiker mit ihrem Kompromiss ein zukünftiges Regieren weiter erschwert. Sie vereinbarten nämlich die Bildung eines »Nationalen Sicherheitsrats« unter Vorsitz des eigentlichen Wahlsiegers Iyad Allawi, der mit diesem Posten zufriedengestellt werden sollte. Nur: Die irakische Verfassung sieht ein solches Gremium überhaupt nicht vor, seine Kompetenzen sind vollkommen unklar. Doch allein die Tatsache, dass die erst 2005 vom irakischen Volk gebilligte Verfassung geändert werden muss, um die Machtansprüche der rivalisierenden Parteien zu befriedigen, spricht Bände.
Am Ende waren selbst den USA die Hände gebunden. Zwar galt es als offenes Geheimnis, dass Barack Obama am liebsten Iyad Allawi an der Regierungsspitze gesehen hätte, spätestens nachdem sich al-Maliki und Muqtada al-Sadr mit iranischer Vermittlung aber auf ein Bündnis geeinigt hatten, war diese Hoffnung gestorben. Mancher Beobachter wirft den Amerikanern gar vor, mit ihrem Beharren auf Allawi einen Kompromiss eher erschwert zu haben. Das Verhältnis zwischen dem Weißen Haus und Nuri al-Maliki, einem Ziehsohn der Bush-Regierung, hat sich jedenfalls merklich abgekühlt.
Und doch lassen sich nach dem achtmonatigen Machtkampf auch positive Entwicklungen konstatieren. Anschläge sind zwar weiterhin an der Tagesordnung, doch auch ohne Regierung ist das Land nicht in die anarchischen Zustände der Jahre 2005 und 2006 zurückgefallen. Auch Ängste vor einem Putsch der Armee bewahrheiteten sich nicht, das Militär spielt sieben Jahre nach Saddams Sturz keine politische Rolle mehr. Und auch wenn es letztlich anders kam: Die Parlamentswahl und die monatelangen Ränkespiele haben gezeigt, dass Wahlen einen Wechsel der Machtverhältnisse herbeiführen können. In der Arabischen Welt steht der Irak damit ziemlich allein da.
Donnerstag, 18. November 2010
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