Mittwoch, 24. November 2010

„Selbst wenn sie freigesprochen werden, sind sie bestraft“ - der KCK-Prozess

Die türkische Regierung macht 152 kurdischen Aktivisten, die unter dem Dach einer PKK-Nachfolgeorganisation, der KCK, die Grundlagen einer »demokratischen Autonomie« aufbauen wollen, den Prozess. Der Staat will hart bleiben, gerät aber immer stärker in die Kritik – und untergräbt die Annäherungen in der Kurdenfrage


Es könnte eine beinahe sarkastische Pointe darstellen, dass die Stadt Diyarbakır gerade einen neuen Gerichtssaal erhalten hat. Denn was dort seit Oktober verhandelt wird, ist ein Großprozess gegen 152 kurdische PolitikerInnen, Intellektuelle und AktivistInnen; ein Prozess, der in Diyarbakır und anderswo viel Zorn und Enttäuschung ausgelöst hat. Den Angeklagten wird zur Last gelegt, die Dachorganisation der kurdischen Bewegung KCK unterstützt zu haben. Doch diejenigen Stimmen, die die kulturelle Anerkennung der kurdischen Bevölkerungsgruppen befürworten, sind sich einig: es geht beim KCK-Prozess nur darum, die Opposition auszuschalten. Zumindest bei den 104 in Haft befindlichen Angeklagten funktioniert das: sie sitzen mittlerweile seit 19 Monaten, und nun wurde der Prozess kurz nach Beginn vertagt.

Die ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Tunceli, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins İHD in Diyarbakır, die Anwältin Abdullah Öcalans, der amtierende Bürgermeister von Diyarbakır: die Liste der Angeklagten enthält einige bekannte Namen. Und dieser Prozess ist nur einer, wenn auch der umfangreichste, von zehn KCK-Prozessen, die derzeit in verschiedenen Landkreisen geführt werden. Die Tatbestände: Gefährdung der Einheit des Staates, Mitgliedschaft in beziehungsweise Unterstützung einer verbotenen Vereinigung.

Doch seit dem Prozessauftakt am 18. Oktober ist noch nicht viel passiert. Zum ersten Hindernis wurde die 7500 Seiten umfassende Anklageschrift, deren immerhin noch 900 Seiten lange Zusammenfassung verlesen werden musste. Bei der Identifizierung der Angeklagten antworteten diese auf Kurdisch – sich gemäß des Vertrags von Lausanne auf das Recht berufend, ihre Muttersprache verwenden zu dürfen. In einer „unbekannten Sprache“ hätten die Angeklagten gesprochen, stellte das Gericht daraufhin fest. Nach empörten Reaktionen erkannten die Richter die „unbekannte Sprache“ schließlich – da aber die Angeklagten des Türkischen mächtig seien, hätten sie dieses im Gerichtssaal auch zu sprechen. Am 12. November dann wurde der Prozessfortgang um zwei Monate auf den 13. Januar vertagt. Freigelassen wurde niemand der seit Frühjahr 2009 Inhaftierten.

Während die Haltung des Gerichtes die harte Linie des Staates im Umgang mit dem „Kurdenproblem“ widerspiegelt – die sich in einem weitgehenden Glauben an die Unrechtmäßigkeit der kurdischen Forderungen niederschlägt und durch einen robusten Militarismus gestützt wird – kommen in den Medien trotzdem zunehmend Stimmen zu Wort, die Kompromissbereitschaft einfordern. „Durch den Prozess wird die KCK zur PKK gemacht, dabei geht es darum, die PKK zur KCK zu machen“, so formulierte der Analyst Cengiz Çandar, und wurde vielfach bestätigend zitiert. Die Guerillatruppe (die als PKK bekannt wurde, inzwischen aber unter dem Kürzel HPG fungiert) ist nämlich nicht der einzige Arm der kurdischen Bewegung: Nach drei Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzungen haben Führungspersönlichkeiten beider Seiten bereits öffentlich zugegeben, den Konflikt militärisch nicht gewinnen zu können. Kurdische Organisationen, Gewerkschaften und Vereine bemühen sich also zunehmend, in Sachen Selbstverwaltung Tatsachen zu schaffen. Derzeit liegt ihr Fokus auf der Sprachpolitik: zur Erhaltung der kurdischen Sprachen, die besonders in den jüngeren städtischen Generationen immer weniger verbreitet sind, sollen flächendeckend kostenlose Sprachkurse eingerichtet werden. So sollen die Grundlagen der „demokratische Autonomie“ gelegt werden – auch ohne Zustimmung des Staates.

Dass den auf demokratische Weise Engagierten nun beim Prozess in Diyarbakır Haftstrafen von 15 Jahren bis lebenslänglich drohen, ist ein Rückschlag: „Alle Angeklagten sind kurdische Politiker und Menschenrechtler, die an demokratische Politik glauben und für eine demokratische Lösung des Kurdenproblems kämpfen“, so Anwalt Beştaş. Sogar die Teilnahme am Newroz-Fest oder Engagement gegen den Bau des Ilısu-Staudammes werde im KCK-Prozess als Straftat ausgelegt. Auch eine Delegation der International Federation of Human Rights kam zu der Ansicht, bei dem Prozess werde gegen die Unschuldigkeitsvermutung verstoßen. Zudem wurde ein ansehnlicher Teil des Beweismaterials in illegalen Abhöraktionen gesammelt. In einem Artikel des Guardian, den die Zeitung Radikal übersetzt abdruckte, wird der Prozess als „beschämend“ für die Türkei bezeichnet.

Dabei stehen die Zeichen außerhalb des Gerichtssaales gerade auf Dialog. Der nach Eskalationen im August vereinbarte Waffenstillstand wurde kürzlich bis zur Palamentswahl im Sommer 2011 verlängert. Gespräche von Regierungsvertretern mit Abdullah Öcalan wurden bekannt, der als Identifikationsfigur der kurdischen Bewegung nach wie vor eine richtungsweisende Rolle spielt. Wenn eine Kommission zur Wahrheitsfindung im türkisch-kurdischen Konflikt eingerichtet werde, ließ dieser verlauten, dann werde die PKK uneingeschränkt mit dieser kooperieren.

Doch dass die Regierung sich bereit erklärt, diese und vier weitere von der KCK gestellte Bedingungen zu erfüllen, scheint unwahrscheinlich. Unter anderem soll die 10 Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen abgeschafft werden, die nicht nur den kurdischen Parteien zu schaffen macht, sondern auch tatsächlichen Splitterparteien wie den Grünen – und deren Aufhebung eine komplette Umstrukturierung der Parteienlandschaft nach sich ziehen könnte. Nach dem Rückzieher in der „kurdischen Initiative“ und ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen erwartet von der Regierungspartei AKP niemand solche drastischen Schritte. Die Regierung muss für relative Ruhe im Konflikt sorgen, sieht jedoch die BDP als ihre Konkurrentin. Noch im Oktober sprach Ministerpräsident Erdogan der kurdischen Partei ihre Legitimität ab, und argumentierte, ihr politischer Erfolg beruhe auf der Macht der PKK: „Wenn sie es ernst meinen, sollen sie die Waffen niederlegen und so zur Wahlurne gehen, dann werden wir ja sehen, wie viele Stimmen sie kriegen.“

Natürlich muss nicht nur die Frage gestellt werden, ob die Staatsinstitutionen dieses Mal die Chance zu Verhandlungen und Aufarbeitung nutzen – oder wird die BDP sich bald in die Liste ihrer verbotenen Vorgängerparteien einreihen, und neue Repressionswellen den Konflikt weiter anheizen? Gleichzeitig muss selbstverständlich die BDP bereit sein, sich gegen den immer wieder erhobenen Vorwurf der einseitigen Identitätspolitik zu verantworten. Denn die Kurden sind nicht die einzige Bevölkerungsgruppe der Türkei – sofern sie als eine Gruppe dargestellt werden können – der unter dem Zeichen des staatlichen Nationalismus massives Unrecht angetan wurde und wird.

Doch der Prozess, der voraussichtlich ab Januar in Diyarbakır weitergeführt wird, ist ein derartiger Rückschlag, dass die Fragen nach einer pluraleren Repräsentation der kurdischen Bevölkerungsgruppen und nach einem umfassenden Umdenken in der Identitätspolitik zunächst im Hintergrund stehen. Im Vordergrund derzeit: die Empörung darüber, dass selbst während der zweimonatigen Prozesspause keine Freilassung der 104 Inhaftierten erfolgen wird, und der Prozess vermutlich nicht zu einem schnellen Ende kommen wird. Schon zu Beginn der Anhörungen hatte der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas festgestellt: „Selbst wenn unsere Freunde heute freigelassen würden, wären sie schon bestraft.“

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