Die arabischen Kommentatoren begrüßen die Entlassungen an Ägyptens Militärspitze, warnen Präsident Morsi jedoch vor allzu großer Machtfülle, ganz unterschiedlich fällt die Bewertung in den israelischen Medien aus. Von Christoph Sydow, Dominik Peters, Bodo Straub und Björn Zimprich
Als »großartige Entscheidung des Präsidenten« bezeichnet Ibrahim Eissa, Herausgeber der Zeitung al-Tahrir, Morsis Durchgreifen. Sie sei »schneller gekommen als erwartet und härter als gedacht«. Nicht zuletzt der geschasste Tantawi selbst sei von Morsis Entschlossenheit überrascht worden, konstatiert Eissa. Es sei ein Irrglaube gewesen, dass Tantawi und die bisherige Militärführung ein Bollwerk gegen die angebliche Vorherrschaft der Muslimbrüder gebildet hätten. Stattdessen hätten sie den Weg der Revolution zerstört und die Märtyrer der Revolution ein zweites Mal zu Opfern gemacht.
»Die Entlassung Tantawis und des Generalstabschef Anan war für Präsident Morsi einfacher als das Ausdrücken einer Zigarette. Das belegt, dass der ›tiefe Staat‹ nur eine Illusion ist«, analysiert Eissa. Stattdessen habe der Präsident seinem Volk bewiesen, dass er die volle Macht in den Händen hält. Damit einher gehe jedoch, dass sich Morsi künftig nicht mehr aus der Verantwortung stehlen könne und seine Wahlversprechen nun einlösen müsse. Morsi besitze nun, da das Parlament schon vor zwei Monaten aufgelöst wurde, absolute Macht. Für Eissa, der wegen Kritik am damaligen Diktator Mubarak selbst mehrfach in Haft saß, ist das »ein schweres Problem«. Es müsse schnellstmöglich eine Lösung gefunden werden, um das Machtmonopol des Staatschefs aufzulösen.
Für Abdel Bari Atwan, Herausgeber der in London erscheinenden Zeitung al-Quds al-Arabi hat Morsi einen »sehr sanften Putsch« begangen, mit dem er von einer Sekunde auf die andere die Machtverhältnisse in Ägypten auf den Kopf gestellt habe. Die Weissagung des inzwischen verstorbenen ehemaligen Geheimdienstchefs Omar Suleiman habe sich nicht erfüllt, laut der die Armee bei einem Wahlsieg der Islamisten putschen werde. Stattdessen habe der Präsident gegen das Militär geputscht und all jene eines besseren belehrt, die gemeint hatten, Morsi würde die Konfrontation mit Tantawi nicht wagen. »Wahlurnen, die den freien Willen des Volkes repräsentieren, sind stärker als die militärischen Eliten, stärker als das Oberste Verfassungsgericht und stärker als die Medien, die in der Vergangenheit leben und nicht wahrhaben wollen, dass ein Prozess des radikalen Wandels begonnen hat, der alles aus dem Weg räumt, das sich ihm in den Weg stellt«, konstatiert Atwan.
»Tantawi und sein Militär haben schwere Fehler begangen, die der prestigereichen ägyptischen Armee nicht würdig waren“, so der Kommentator. Unter anderem hätten sie den Wahlprozess boykottiert, die Richter angewiesen, das Parlament aufzulösen und mit Ahmad Schafik einen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt, der die Errungenschaften der Revolution aufgeben wollte. Die Angriffe auf einen Grenzposten im Sinai in der vergangenen Woche hätten dann auch noch bewiesen, dass das Militär unfähig sei, seine vorrangigsten Aufgaben zu erfüllen. Die Schwäche der Armee habe Morsi geschickt zu seinem eigenen Gunsten und dem Wohle Ägyptens genutzt.
»Einige mögen behaupten, dass jetzt eine neue Form der Diktatur durch die Muslimbrüder Fuß fasst, aber das ägyptische Volk hat der Bewegung den Zugang zur Macht verschafft«, so Atwan. Mit Morsis Entscheidung sei Ägyptens Revolution wieder auf den richtigen Weg gebracht worden.
»Morsi sollte sich hüten, die Staatsmacht ebenso zu gebrauchen, wie sie in Ägypten traditionellerweise gebraucht wurde«
Ali Benyahia, Kommentator der algerischen Tageszeitung El Watan, stellt die Ereignisse in den regionalen Kontext: »Ägypten, ›Umm al-Dunia – Mutter der Welt‹, hat vor, genau das zu bleiben. Zumindest in der arabischen Welt. Einmal mehr liefert dieses Land den Beweis, dass es sich weiterhin auf dem Führungsplatz des regionalen politischen Schachfeldes einrichten möchte zu Beginn dieser neuen Ära, welche die Menschen des Nahen Ostens und Nordafrika zu schreiben begannen.« Er leitet Morsis Kraft zu diesem Schritt, der seiner Meinung nach den endgültigen Bruch mit dem einstigen Regime bedeutet, aus der Legitimation der Urnen ab, da seine Wahl den Wendepunkt der innerägyptischen Krise markiert habe. Dennoch: »Dieses große Land steht ebenso vielen Fragen wie Herausforderungen gegenüber, und die wirtschaftlichen Probleme sind dermaßen dringlich, dass die Regierung an den Ergebnissen gemessen wird, die sie mit dem wiedergewonnenen Vertrauen erreicht, und an ihrem Kampf gegen die Korruption. Wer kann verneinen, dass das türkische Modell Nachfolger unter den arabischen Ländern findet? Ein Nato-freundliches Modell!«
Unter der Überschrift: »Präsident - Armee: 1:0« analysiert der libanesische L`Orient le Jour: »Bei Licht betrachtet hat die Bruderschaft die meisten der Federn, welche sie in letzter Zeit gelassen hat, wiedergefunden; sie hat ihrerseits dafür gesorgt, dass diejenigen, welche die Macht seit 60 Jahren innehaben, den Heiligenschein der Unbesiegbarkeit verloren haben, mit dem sie der Volksglaube geschützt hat. Damit wir es alle wissen: Der König ist nackt.«
Was die Zukunft Ägyptens betrifft, ist der Kommentator skeptisch und verweist unter anderem auf den jüngst erfolgten Austausch von 50 Redakteuren in staatlichen ägyptischen Zeitungen – beschlossen vom Schura-Rat, dem Morsis Stiefbruder Ahmad Fahmy vorsteht. Der Text endet zynisch: »Bitte sehr, hiermit wären auch die letzten Zweifel an den guten Intentionen der ›Ikhwan‹ ausgeräumt.«
Der Leitartikler des libanesischen Daily Star sieht die Entwicklungen ebenfalls eher skeptisch: »Ungeachtet der Rhetorik und der Gerüchte bedeuten Morsis Maßnahmen eine enorme Bürde für Ägyptens ersten zivilen Herrscher seit 60 Jahren. In der Art und Weise, wie er seine Macht über Militär und Justiz ausübt, genießt er dieselben umfassenden Freiheiten wie sein Vorgänger Hosni Mubarak.« Dennoch bedeute dies angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen Morsi steht, vor allem mehr Druck für den Präsidenten, der nun für die wirtschaftliche, außenpolitische, sicherheitspolitische und zivile Entwicklung allein verantwortlich sei. »Morsi hat sich seine Arbeit maßgeschneidert, und er sollte sich hüten, die Staatsmacht ebenso zu gebrauchen, wie sie in Ägypten traditionellerweise gebraucht wurde.«
»Solange die Armee souverän bleibt, schützt sie den Frieden«
Oded Granot, der für die arabische Welt verantwortliche Mann des israelischen Fernsehsenders Kanal 1, blickt mit Argwohn auf die Entscheidung Mohammed Morsis. In seinem Gastkommentar für die israelische Tageszeitung Maariv erklärt er, dass »das Hauptproblem der israelisch-ägyptischen Beziehungen« auch künftig Morsis Haltung seien werde, die »militärische Kooperation« weiter zu pflegen, er sich aber ansonsten »weigert, Beziehungen jedweder anderer Art zu uns aufzunehmen.«
Auch Alex Fishman sieht in Morsis Vorgehen eine »Gefahr für die israelisch-ägyptischen Beziehungen«. In seinem Kommentar für die Tageszeitung Jedioth Ahronoth schreibt er: »Sobald Tantawi infolge der tödlichen Terrorattacke auf dem Sinai die Entlassung des Geheimdienstchef Muwafi genehmigt hatte, tat er dasselbe mit seinem eigenen Schicksal. Dies war nur die Vorspeise. Als die Muslimbruderschaft gesehen hat, dass Muwafis Amtsenthebung ohne Antwort des Militärs blieb, ging man zur Hauptaufgabe über – der ›langen Nacht der Messer‹«.
Zudem, so Fishman, sei die Umbildung der Führungsspitze des Verteidigungsapparates ein Schlag ins Gesicht der Obama-Administration, ausgeführt von Morsi selbst, hatte er doch Anan, den »Mann der US-Regierung« in Ägypten entlassen. Diese und andere Entscheidungen, die Ägyptens neuer Präsident in jüngster Zeit getroffen hat, geben in der Lesart Fishmans Anlass zur Sorge, da die »Prozesse in Ägypten zur Zeit so dynamisch, schnell und unerwartet geschehen, dass es schwer vorauszusagen ist, wie die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in wenigen Monaten aussehen werden.«
Nicht weniger beängstigend findet Boaz Bismuth vom Massenblatt Israel Hajom die jüngsten »dramatischen« Entwicklungen. »Wir haben seit Beginn des Arabischen Frühlings viel über die Türkei gehört«, schreibt er, »wodurch gezeigt werden soll, dass Demokratie auch auf muslimischen Boden funktionieren kann. Aber«, fragt er, »wie wahr ist dieser Vergleich nun, wenn eine islamistische Partei, wie jene in der Türkei, weiß, wie man eine Armee kastriert. Im Falle der Türkei war die Armee der Garant für Demokratie und gute Beziehungen zu Israel. Im Falle Ägyptens, ist es schwer zu behaupten, die Armee sei Garant für die Demokratie, aber zumindest wenn sie souverän bleibt, schützt sie den Frieden.«
Auch Avi Issacharoff von der liberalen Haaretz schaut in die Türkei und nach Ägypten. Sein Fazit: »Morsi hat sich dazu entschieden, eine Politik zu betreiben, die im klaren Gegensatz zu der Erdogans steht, der einen Kurs der Annäherung an das säkulare türkische Militär fährt, während die dortigen Generäle versuchten, ihn auszubremsen oder gar zu stürzen.«
Wohin »Morsis Manöver« geht, fragt sich auch Jack Cohen von der neugegründeten Times of Israel. Zwar sei im Nahen Osten »nur eins sicher: die Unsicherheit.« Dass die Remilitarisierung des Sinai und die neuerliche Rochade indes eine Gefahr für Israel seien, davon ist er überzeugt.
Zwar gibt man bei der konservativen Jerusalem Post auch der israelischen Sorge Ausdruck, wie es künftig um die Beziehungen der beiden Länder bestellt sein wird, gleichwohl wird in einem Editorial angemahnt, dass es für Israel trotz der überraschenden Aktion Morsis nun an der Zeit sei, nicht länger den Tagen der Mubarak-Ära hinterher zu trauern, sondern »zu versuchen, die Beziehungen mit Morsis Ägypten nach einer langen Periode des kalten Friedens zu normalisieren.«
Eine Präsidentschaft wie eine Partie Bowling
»Jetzt gibt es einen echten Präsidenten, der die Macht an sich reißt, um wie ein gewählter Präsident zu regieren«, schlussfolgert Taha Khalifa in seinem Kommentar für die ägyptische al-Wafd. Er sieht den Startschuss gelegt für »eine Erneuerung des Bluts des militärischen Establishments« in dem junge Führungskräfte Schlüsselpositionen übernehmen. »Jetzt liegt die Macht in den Händen von Morsi und er ist kein schwacher Präsident.« Er löst die Führer ab, »die das Geschehen für 18 Monate lang nach der Revolution dominiert haben und das Land in Chaos und endlose Krisen geführt haben.«
Khalifa empfiehlt Präsident Morsi seine »Politik der Säuberungen fortzuführen und alle zu konfrontieren, die die Rettungsversuche für das Land verhindern wollen«. Dabei hat der Autor keinerlei Zweifel an der Unterstützung für Morsi. »Das Volk wird hinter ihm stehen – die, die ihn nicht gewählt haben und die, die ihn gewählt haben, denn die Menschen sind müde und verlangen nach Ruhe, Rast, Stabilität und (höherem) Lebensstandart«.
Was passiert in Ägypten? fragt Tarek al-Hamid in der pan-arabischen Zeitung al-Sharq al-Awsat und stellt fest, dass die Reaktionen auf Morsis Entscheidung sowohl in Ägypten als auch in der Region gemischt ausfallen.
»Es gibt diejenigen, die Morsis Beschluss als politischen Putsch gegen das Militär betrachten und es gibt diejenigen, die Ägypten heute in der Hand der Muslimbrüder sehen und manche glauben, Morsi habe die Militärherrschaft unwiederbringlich beendet.« Al-Hamid jedoch mahnt, genau auf die Geschehnisse in Ägypten zu schauen. Hier verweist er darauf, dass »die ägyptische Präsidentschaft in atemberaubender Geschwindigkeit, wie bei einer Partie Bowling, eine Institution nach der anderen verschluckt hat. Die Situation in Ägypten ist nun, dass die Präsidentschaft, die Regierung, die Medien und das Militär, alle im Griff des Präsidenten sind. Man kann jetzt argumentieren, dies sei eine normale Angelegenheit, aber das ist nicht wahr!«
Weil »Ägypten keine Verfassung hat, die die Befugnisse des Präsidenten und die Rolle der Regierung regelt«, ist Ägypten durch die Macht des Präsidenten nach Meinung von Tarek Al-Hamid de facto eine Präsidialrepublik – ohne das darüber je offiziell entschieden wurde.
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