Mittwoch, 3. November 2010

Islamforscher Josef van Ess: »Der Koran ist eine reformatorische Schrift«

Von Christian Meier
Wann wurde der Islam zum Islam? Der Orientalist Josef van Ess im Gespräch über Prophetengenossen, verrückte Gnostiker und die Gebetsgymnastik der frühen Muslime.


Alsharq: Herr van Ess, seit wann gibt es den Islam?

Josef van Ess: Diese Frage ist überhaupt nicht zu beantworten. Zumal man ja schon unterschiedlicher Meinung darüber ist, seit wann es den Koran gibt. Eines ist klar: Als es den Koran gab, gab es noch lange nicht den Islam.

Wie ist das zu verstehen?

Eine Religion braucht Generationen, bis sie weiß, warum sie da ist. Als Offenbarungsreligion hat der Islam bestimmte Grundvoraussetzungen: ein Gottesbild und die Notwendigkeit eines Stifters etwa. Aus diesen Voraussetzungen folgen Optionen. Und dann müssen Entscheidungen gefällt werden – was Zeit braucht, zum Teil Jahrhunderte. Durch diese Entscheidungen wird der Entscheidungsspielraum immer weiter eingegrenzt – sozusagen eine natürliche Erstarrung, die es bei allen Religionen gibt.

Häufig heißt es, der Islam brauche eine Reformation – einen »islamischen Luther«, um die Erstarrung aufzuhalten.

Ach, das ist doch ein alter Hut. Der Gedanke taucht schon im späten 19. Jahrhundert auf, und man hört es auch jetzt immer wieder. Dahinter steht der etwas amorphe Wunsch nach Reform, weil man mit der Gegenwart unzufrieden ist. Dabei ist schon der Koran eine reformatorische Schrift – insofern, als die älteren Religionen als Irrwege abgetan werden. Was natürlich eine Illusion ist: Der Koran ist nie zu den Anfängen zurückgekehrt. Aber dahinter steht vermutlich
eine historische Erfahrung: Die Zeitgenossen des Propheten erlebten das Christentum nicht als einheitliche Religion, sondern als drei verschiedene »Kirchen«, die sich wüst beschimpften.

Und als was sahen die frühen Muslime sich selbst? Wie ist der Islam zum Islam geworden?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Islam von Muhammad noch gar nicht intendiert war. Anfangs wird bloß eine Gemeinde gebildet, die sich eines besonders sittlichen oder frommen Lebenswandels befleißigen soll und die sich als »die Gläubigen« bezeichnet: »al-Mu’minun«.

Die Bezeichnung »Muslim« kommt erst viel später in Gebrauch...


Richtig – sie steht zwar schon im Koran, meint aber nur ganz bestimmte Leute: die alten Kaaba-Verehrer aus Mekka, die sich dem Islam »unterwerfen«. Das zumindest schreibt der Islamforscher Fred Donner in seinem neuen Buch. Unter den »Mu’minun« waren seiner Ansicht nach dagegen auch Juden und Christen. Die wurden später ausgesondert – wohl zur Zeit des Kalifen Abd al-Malik. Und dann wurde knapp hundert Jahre nach der Hidschra der Islam zum Islam.

Ab diesem Zeitpunkt kann man von einer etablierten islamischen Religion sprechen?

Ja und nein. Wir stellen uns das immer so vor: Da ist eine Gruppe von Leuten, die denken sich etwas aus und machen eine neue Religion auf. Aber so war das ja nie. Natürlich hat es die »Gläubigen« gegeben. Aber die wurden durch die Eroberungskriege in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Die Folge war ein Konglomerat verschiedener Nuclei. Vor allem in den neuen Garnisonsstädten – Basra, Kufa oder Fustat: Da saßen dann ein paar so genannte Prophetengenossen, um die herum sich eine Sorte Islam gruppierte. Aber ich bin überzeugt, dass das in Kufa ganz anders aussah als in Fustat.

Aus welchem Grund? Waren diese Gebiete voneinander isoliert?

Die Kommunikation zwischen den Zentren war schwach. Natürlich sind die Leute gereist, und vermutlich hatten sie irgendeinen Koran-Text, an den sie sich hielten. Aber die Frage ist ja, ob der Koran schon im Mittelpunkt stand. Aus meiner Sicht: Nein. Was die Gemeinde einte, war vielmehr die Art des gemeinschaftlichen Gebets. Diese merkwürdige Gymnastik, die man dabei treibt – das ist ja singulär. Und das fiel jedem anderen auf. Was da dagegen an Überbau war, also was wir heute unter Islam verstehen – das weiß der Himmel.

Heißt das, in den Städten haben sich jeweils eigene Islam-Richtungen entwickelt?

Selbst an Orten wie Kufa oder später Bagdad würde ich nicht von einem einheitlichen Islam ausgehen. Bagdad war dafür ja auch viel zu groß, es hatte unter Umständen eine Million Einwohner. Dass man da in jeder Moschee den Islam gleich verstanden hätte, halte ich für völlig unmöglich. Wir haben ja Berichte von diesen verrückten Gnostikern. Was die glaubten, muss irgendwo ausgesprochen worden sein, und es müssen sich auch Anhänger gefunden haben. Ansonsten hätte man das gar nicht schriftlich niedergelegt.

Sie zeichnen ein fast schon atomistisches Bild vom Islam.

Oder ich stelle das gängige Bild auf den Kopf. Die Pluralität steht am Anfang, die Einheit kommt später. Ein Fundamentalist würde es genau umgekehrt sehen.

»Wie aber wollen Sie Orthodoxie im Islam definieren?«

Was war das einigende Band aller dieser lokalen Gruppen und Islam-Varianten – jenseits der Gebetsgymnastik?

Auf Dauer war das der Koran. Es brauchte etwas Zeit, bis er zusammengestellt und den Leuten zu Bewusstsein gekommen war. Aber in dem Augenblick, wo man den Koran als verbindliche Grundlage besaß, da gab es den Islam. Vermutlich begann das mit Abd al-Malik und den Inschriften am Felsendom in Jerusalem, wo der Koran zitiert wird – nicht ganz wörtlich, übrigens. Später kam dann das islamische Recht hinzu. Aber auch danach gab es Gruppen, die von anderen als Häretiker verketzert wurden. Der Begriff Häresie setzt eine Orthodoxie voraus. Wie aber wollen Sie Orthodoxie im Islam definieren? Es hat natürlich Orthodoxien in unserem Sinne gegeben, aber sie waren immer lokal und zeitlich begrenzt: In dem Augenblick, wo man irgendwo eine bestimmte Islam-Interpretation verbindlich machte, gab es Gruppen, die als abartig bezeichnet wurden. Aber grundsätzlich und überall verabscheut wurden nur ganz wenige Gruppen, etwa die Ismailiten.

Wie ging man mit solchen »abartigen« Gruppen um?


Selbst die Ismailiten wurden nicht ausgerottet. Sie haben sich in Rückzugsgebiete flüchten müssen, aber sie haben überlebt. Noch viel mehr gilt das für frühe Gruppen, die sich gegen den Staat erhoben. Beispielsweise der »verschleierte Prophet« Al-Muqanna’ im 8. Jahrhundert: Noch Jahrhunderte später fanden sich Anhänger dieses Mannes in den Bergen Turkestans. Und wenn Geographen hinfuhren und fragten: ›Seid ihr Muslime?‹, dann sagten die Leute: ›Ja, so genau wissen wir das auch nicht. Aber wir zahlen Steuern.‹ Die Christen hätten die im Mittelalter schon längst ins Jenseits befördert.

Das klingt beinahe zu harmonisch, um wahr zu sein.

Natürlich ist es manchmal ausgesprochen rabiat zugegangen. Mahmud von Ghazna etwa hat viele einfach einen Kopf kürzer gemacht – aber ganz bestimmte Leute, die ihm auch politisch im Weg standen. Doch zu anderen Zeiten hat man halbwegs friedlich nebeneinander her gelebt. Insofern bietet der Islam ein bunteres Bild als die christliche Welt.

Würden Sie sagen, dass das auch für die Gegenwart gilt?

Inzwischen ist die Sache in der Tat umgeschlagen: Durch die Medien ist es viel leichter möglich, ein verbindliches Bild vom Islam unter die Leute zu bringen und etwa mit Geld durchzusetzen. Der Umschwung begann schon unter den von uns so hoch geschätzten Reformatoren des späten 19. Jahrhunderts wie Muhammad Abduh. Die ja auch eine Rückkehr zur Schrift propagierten – und damit auf einen Einheitsislam hinauswollten. Die Ironie der Geschichte hat dann dazu geführt, dass schließlich der moderne Fundamentalismus daraus geworden ist.

Wobei dieser Fundamentalismus eben auch eindeutig modern ist...

Ganz gewiss: Da steckt viel mehr Moderne drin, als wir so denken. Wenn wir daher Ansichten, wie sie von Fundamentalisten vertreten werden, auf den Koran zurückführen, dann tun wir damit zwar den Fundamentalisten einen Gefallen, aber historisch gesehen ist das falsch. Doch im Grunde habe ich keine Angst um die islamische Welt. Ich bin sicher, dass auch die Fundamentalisten es nicht zu einer Orthodoxie schaffen werden. Das ist einfach in der Religion nicht angelegt.

Josef Van Ess, 76,
gilt als einer der weltweit bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der islamischen Theologie und Philosophie. Von 1968 bis 1999 bekleidete er den Lehrstuhl für Islamkunde und Semitische Sprachen an der Universität Tübingen. Sein Hauptwerk »Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra«, zwischen 1991 und 1997 in sechs Bänden erschienen.

4 Kommentare:

g.c. hat gesagt…

Ein höchst interessantes Gespräch, das lehrt viele Aspekte der islamischen Frühgeschichte kritisch zu hinterfragen, die man leicht unhinterfragt für gegeben hinnimmt.

Mich würde nur interessieren, wie die Thesen von Herrn van Ess von muslimischen Theologen aufgenommen werden.

Christian Meier hat gesagt…

Hallo g.c.,
genau kann ich das leider nicht sagen. Josef van Ess' Worten zufolge herrscht unter Gelehrten im Nahen und Mittleren Osten durchaus Interesse an seinen Büchern. Wenn ich mich nicht irre, gibt es eine persische Übersetzung von "Theologie und Gesellschaft", und auch eine neue arabische Übersetzung ist in Planung. Es ist bestimmt nicht so, daß westliche Orientalisten pauschal ignoriert oder als Agenten des Westens betrachtet werden. Interesse an einer Auseinandersetzung mit ihren Werken ist bei vielen durchaus vorhanden, häufig gibt es aber eine Sprachbarriere.
Viele Grüße
Christian

MUHAMMAD M. hat gesagt…

Ohne mich als Theologe verstehen zu wollen, halte ich von Ess's Bemerkungen für intelligent und weder für abwegig oder unangebracht. ISLAM als Rechtleitung in Denken, Sprechen und Leben verstanden, ist weit differenzierter als uns manch Hohlköpfe - von denen es genug auf der Welt in allen Völkern gibt - weis machen wollen.

Anonym hat gesagt…

Ich finde, dass vor allem die Aussage, dass in einer Millionenstadt wie in Baghdad der Islam in jeder Moschee unterschiedlich aufgenommen wird. Ich meine abgesehen von der Schiiten und von den Sunniten und von den Rechtsschulen, die sich im Laufe der Jahrhunderte etabliert haben; kann man sagen, dass auch bei jedem einzelnen Sunniten und Schiiten der Bab al-Idjtihad noch nicht verschlossen ist? Immerhin ist er ja bei den Sunniten mit den Rechtsschulen doch verschlossen, oder nicht?