von Christoph Sydow und Daniel Gerlach
»Ägypten – wo alles beginnt« – Mit diesem Slogan warb das Land um Touristen. »Ägypten – wo alles weitergeht« wäre heute passender: Nur zwei Wochen nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali steht mit Ägyptens Staatschef Husni Mubarak ein weiterer arabischer Autokrat vor dem Aus: Fällt das Regime nach 30 Jahren?
Die Zentrale der Einheitspartei NDP brennt, Demonstranten missachten die Ausgangssperre und marschieren offenbar auf das Außenministerium in der Innenstadt von Kairo zu. Die Paläste des Präsidenten und seiner Entourage in der Vorstadt Heliopolis scheinen noch gesichert – sie sind zu Fuß nicht leicht zu erreichen. Vergeblich wartet man auf die Rede des 83-jährigen Präsidenten. Aber er schweigt – was sollte er auch sagen?
Angeblich hunderttausende Ägypter demonstrierten am Freitag nach dem Mittagsgebet in Kairo, Alexandria, Suez und anderen Städten gegen das Regime. Es waren die größten Proteste in der jüngeren Geschichte Ägyptens – und es könnte der erste politische Umsturz seit der Revolution der Freien Offiziere von 1952 werden. Auch ein Großaufgebot von Sicherheitskräften konnte die Demonstrationen nicht verhindern. Das Vorgehen der Polizei gegen den ägyptischen Friedensnobelpreisträger und Mubarak-Herausforderer Mohamed El Baradei, der zunächst in einer Moschee in Gizeh festgesetzt und dann unter Hausarrest gestellt wurde, beeindruckte die Protestierenden nicht.
Die Lage ist unübersichtlich, die Sicherheitsorgane versuchen, Meldungen aus Ägypten zu unterdrücken, die die Demonstranten weiter motivieren könnten. Seit der Nacht zum Freitag ist das Internet im Land weitestgehend abgestellt, auch die Mobilfunknetze werden teilweise blockiert. Am Nachmittag drangen Polizisten in das Gebäude des arabischen Nachrichtensenders al-Jazeera ein.
In den nördlichen Städten haben die Menschen offenbar die Angst verloren
Doch auch diese Maßnahmen konnten nicht verhindern, dass Demonstranten in bisher nie gesehener Zahl auf die Straße gingen. Phasenweise lieferten sich Protestierende und Polizei eine Katz- und Maus-Jagd. Eine Ausgangssperre, die ab Freitag 18 Uhr Ortszeit in Kraft treten sollte, wurde ignoriert. Dieser Freitag macht endgültig klar, dass viele Ägypter – zumindest in den nördlichen Städten – die Angst vor dem Regime und seinem Sicherheitsapparat verloren haben.
»Das Volk will den Sturz des Systems« – dieser Ruf erschallte am Freitag aus tausenden Kehlen in den Straßen. Und niemals in den letzten 30 Jahren sind die Ägypter diesem Ziel so nahe gekommen, obwohl es schon oft Proteste gab und die Sicherheitskräfte im Umgang damit routiniert schienen. Noch, und das muss man ihnen zugute halten, haben sie nicht zum Äußersten gegriffen: Es wurden Schüsse gemeldet, wie scharf gefeuert wurde, ist noch nicht bekannt. Offenbar, so heißt es nach unbestätigten Berichten, soll es auch zu Auseinandersetzungen zwischen der paramilitärischen Sicherheitsmiliz und der Armee gekommen sein, die weit außerhalb von Kairo stationiert ist und in einigen Städten eingerückt sein soll.
Laut Berichten aus Suez haben Demonstranten dort die Kontrolle über die Stadt übernommen, auch im Zentrum Kairos sind die staatlichen Organe längst nicht mehr Herr der Lage. Am Abend attackierten Protestler das Hauptquartier der herrschenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) in Kairo, wo der Generalsekretär der Partei noch am Donnerstag erklärt hatte, der Staat sei stabil. Flammen schlagen nun aus dem Gebäude der NDP, die sich bei den als manipuliert kritisierten Parlamentswahlen vor zwei Monaten noch 81 Prozenten der Stimmen zuschanzte. Die Sicherheitskräfte hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend aus dem Stadtzentrum zurückgezogen.
»Als Partner, nicht als Gegner betrachten«
US-Außenministerin Hillary Clinton zeigte sich am Abend »sehr besorgt« über die Lage und rief Sicherheitskräfte und Demonstranten zur Gewaltlosigkeit auf. Gleichzeitig kritisierte sie die Abschaltung fast aller Kommunikationsmittel in Ägypten. Die Regierung müsse schnelle Reformen einleiten und die Zivilgesellschaft »als Partner, nicht als Gegner betrachten«. Zuvor hatte der britische Guardian geheime WikiLeaks-Dokumente veröffentlicht, aus denen hervorgeht, wie eng Washington und Kairo militärisch kooperieren.
Pro Jahr erhält Ägyptens Militär demnach amerikanische Ausrüstung im Wert von 1,3 Milliarden US-Dollar. Mubarak betrachte diese Unterstützung als »unantastbare Kompensation« für den Frieden mit Israel. Weiter heißt es in dem Drahtbericht: »Die Vorteile dieser militärischen Beziehung sind klar: Ägypten hält den Frieden mit Israel und das US-Militär erhält den Vorrang beim Zugriff auf den Suezkanal und den ägyptischen Luftraum.«
In den oberägyptischen Städten herrscht noch Ruhe, aber dort gibt es auch keine Kameras und Korrespondenten
Viel hängt daran, wie die Armee sich jetzt verhalten wird. So besonnen wie in Tunesien oder so brutal wie 1989 in Peking? Aus den ober- und mittelägyptischen Städten, wo die Präsenz des Militärs stark ist, sind noch keine Proteste zu vernehmen, aber dort befinden sich auch keine Korrespondenten.
Das ägyptische Regime ging derweil auf Tauchstation. Kein Vertreter der Regierung oder der herrschenden NDP wollte sich öffentlich äußern. Meldungen, laut denen Präsident Mubarak am Abend eine Rede halten wollte, bestätigten sich nicht. Kann Mubarak nicht mehr, oder will er nicht?
Es scheint bislang, als wolle die Regierung katalogmäßig alle Fehler Ben Alis in Tunesien vermeiden: Dessen Reden kamen bei der Bevölkerung als Beweis seiner Entfremdung und Unfähigkeit an, die Kontrolle zu behalten. Und viele Menschen in Tunesien fragten sich, warum Ben Ali nicht das Internet und die Mobilfunknetze lahmlegte, um die Kommunikation der Menschen zu verhindern. Jetzt würde es aber auch nichts mehr bringen. Die Straßen von Suez, Kairo und Alexandria brauchen keine sozialen Netzwerke.
Freitag, 28. Januar 2011
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