„Wir werden die Verantwortlichen für dieses Verbrechen bestrafen.“ Ägyptens Parlamentspräsident Saad al Katatni klang wütend am vergangenen Sonntag. Er war nicht allein. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten konnte es kaum fassen, dass die wegen Spionage angeklagten amerikanischen und deutschen NGO-Mitarbeiter gegen eine Kaution von 330.000 US-Dollar Ägypten verlassen durften.
Der Liberale Ziad Bahaaeddi forderte den Abbruch der Beziehungen zu den USA. Bahaa Attia von der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“, die der Muslimbruderschaft nahe steht, ätzte gegen die amerikanische Militärhilfe, die zu einer „Sucht“ geworden sei, der das Establishment verfallen sei – und bekam dafür Zustimmung vom sozialistischen Abgeordneten Adel El-Qala.
Eine seltene Eintracht.
Die ein Jahr nach dem Sturz Hosni Mubaraks zudem die Frage aufwirft, wie viel sich in der Außenpolitik des bevölkerungsreichsten Landes der arabischen Welt wirklich verändert hat.
Die bedeutendste Wandlung hat Kairo in seinem Verhältnis zu Syrien vollzogen. Angesichts der anhaltenden Gewalt ist der ägyptische Botschafter Shukri Ismael aus Damaskus an den Nil zurückgekehrt. Doch im Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten und engen Verbündeten in der Region legt die Führung in Ägypten trotz der Zeitenwende in Sachen Außenpolitik eine erstaunliche Kontinuität an den Tag, wie im Falle Libyen.
Rund 1.5 Millionen Ägypter hatten nach Angaben der „International Organisation for Migration“ zu Zeiten Gaddafis in Libyen gearbeitet, knapp 500.000 die damalige „Dschamharija“ infolge der Kämpfe verlassen. Nun stehen viele von ihnen wieder in langen Schlangen vor der imposanten libyschen Botschaft im Kairoer Stadtteil Zamalek und hoffen auf ein Arbeitsvisum, um der Arbeitslosigkeit in Ägypten zu entfliehen. Die liegt offiziell bei 12,4 Prozent, ist aber wahrscheinlich deutlich höher.
Auch der herrschende Militärrat erhofft sich viel vom kriegszerstörten Nachbarland. Ende Januar war Feldmarshall Hussein Tantawi mit einer Delegation hochrangiger Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Militär zu Gesprächen über den Wiederaufbau und damit verbundene Aufträge nach Tripolis geflogen; es war die erste und bisher einzige Auslandsreise Tantawis, seit dieser die Geschicke Ägyptens provisorisch lenkt.
In Kairo folgt man damit der Außenpolitik aus der Mubarak-Zeit: Eigene wirtschaftliche Interessen stehen im Vordergrund, ebenso wie sicherheitspolitische. Besonders die kaum zu sichernde Wüstengrenze dürfte in den ägyptischen Stäben derzeit für Kopfzerbrechen sorgen.
Schließlich hat sich nach dem Sturz und der Ermordung des Bruderführers mittlerweile herauskristallisiert, dass Libyen vor massiven Sicherheitsproblemen steht. Der Hass auf Gaddafi war das einende Element der Revolutionäre – nun lassen sich Milizen nicht mehr entwaffnen, werden die gesellschaftlichen Risse offenbar: Kämpfe zwischen Berbern, Arabern und Tuareg-Nomaden sowie rivalisierenden Clans finden immer öfter statt, die internationale Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat Misrata aus Protest gegen die Behandlung von Gefangenen mittlerweile sogar verlassen. Jüngst musste Mustafa Abd al Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, sich und der Weltöffentlichkeit eingestehen, dass von einer Entwaffnung keine Rede sein könne.
Erst Ende Februar starben bei Stammeskämpfen in Kufra im Südosten Libyens, und damit in unmittelbarer Nähe zu Ägypten, mehr als hundert Menschen, die Hälfte der 40.000 Oasenbewohner sollen nach UN-Angaben auf der Flucht seien.
Schon lange sind viele Investoren aus Ägypten geflüchtet. Mit katastrophalen Folgen für die heimische Wirtschaft. Beliefen sich die Devisenreserven des Landes Anfang 2011 noch auf rund 36 Milliarden US-Dollar, sind sie in den vergangenen 12 Monaten auf 10 Milliarden zusammengeschmolzen.
Nun sucht man in Kairo nach Möglichkeiten, den wirtschaftlichen Kollaps abzuwenden, nahm unter anderem einen Kredit des Internationalen Währungsfonds von 3,2 Milliarden US-Dollar an – und nähert sich Iran an. Erstmals seit 1979 hat man iranischen Investitionen von rund fünf Milliarden US-Dollar zugestimmt. Wie Al-Sayed al-Aqeeli, Direktor der Arab Company for Industry and Investment, der Tageszeitung „al-Masy al-Youm“ sagte, sollen dadurch 6.000 neue Arbeitsplätze in der Auto- und Verpackungsindustrie entstehen.
Daneben laufen nach Angaben der halbamtlichen „al-Ahram“ zur Zeit Gespräche über die Wiederaufnahme von Direktflügen zwischen Teheran und Kairo sowie über die Möglichkeit, künftig iranische Touristen in das Land zu lassen. Dass die schiitischen Besucher wohl von einigen Ägyptern nicht allzu freundlich empfangen werden dürften, bereitet Mojtaba Aman keine Sorge. Der Leiter des Iranischen Interessenbüros in Ägypten erklärte nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur „Novosti“, dass Iraner es gewöhnt seien, „unter widrigen Umständen zu reisen.“
Definitiv versperrt bleiben dürfte ihnen jedoch die Einreise über die 32 Kilometer lange Brücke, die in den kommenden Jahren gebaut werden und dann Saudi-Arabien mit Ägypten verbinden soll. Das seit Jahrzehnten geplante Projekt soll ab 2013 von der Sinai-Halbinsel bis nach Ras Hamid im wahhabitischen Königreich gebaut werden, wie arabische Medien übereinstimmend berichten. Das Königshaus in Riad ließ in der vergangen Woche zudem verlautbaren, dass Ägypten in Kürze mit einer Finanzspritze in Milliardenhöhe rechnen könne.
Der ägyptische Ex-Militär Abdul Aziz wird das Mega-Projekt überwachen, von dem sich Ägypten wirtschaftlich viel erhofft und durch das erstmals, seit Israel 1948 gegründet worden ist, eine direkte Verbindung zwischen den arabischen Staaten in Asien und Nordafrika existiert; zuvor war der jüdische Staat das Transitland – oder auch nicht.
Künftig werden Güterzüge und Autos zwischen den beiden Ländern pendeln können, und das in nur 20 Minuten. Dass die Brücke, die sich nach saudischen Berechnungen durch Pilgergebühren selbst finanzieren soll, nicht viel früher gebaut wurde, hing über Jahre mit dem Veto Israels zusammen, das Hosni Mubarak stets erhört hatte.
Doch diese Zeiten sind vorbei und das ägyptisch-israelische Verhältnis wird weiter abkühlen. Zwar besteht weiterhin eine enge militärische und geheimdienstliche Zusammenarbeit, schließlich haben sich hier die Strukturen nach der Revolution nicht geändert. Dies wurde in der vergangenen Woche deutlich, als Israels neuer Botschafter in Ägypten, Jaacov Amitai, nach den Klängen der „ha-Tikva“ Feldmarschall Tantawi seine offizielle Akkreditierung übergab.
Mittel- und langfristig wird man sich in Jerusalem jedoch an einen raueren Ton gewöhnen müssen. Nach den Schura-Wahlen, an denen nur 13 Prozent der Bevölkerung teilgenommen hatten, dominieren sowohl im Unterhaus als auch im Oberhaus islamistische Kräfte. Auch bei den anstehenden Präsidentenwahlen dürfte einer der Ihren das Rennen machen.
Parteiübergreifend wird zudem der Ruf immer lauter, die Gaslieferungen an Israel endgültig zu beenden. Angesichts der prekären Lage im eigenen Land eine von den Wählern goutierte Forderung. Schließlich lag der Preis für eine staatlich subventionierte Gasflasche Anfang 2011 umgerechnet bei nicht einmal einem Euro, mittlerweile muss jedoch der für viele Ägypter astronomische Preis von knapp sechs Euro bezahlt werden.
Über Jahre hatte der Mubarak-Intimus Hussein Salem mit seiner „East Mediterranean Gas Company“, an der auch israelische Geschäftsleute beteiligt sind, den Rohstoff weit unter Weltmarktpreisen an den ungeliebten Nachbarn verkauft. Wie am vergangenen Freitag bekannt wurde, wird Spanien, wo er untergetaucht war, Hussein Salem an Ägypten ausliefern, wo er in Abwesenheit bereits zu 15 Jahren Haft verurteilt worden ist.
Von weitaus größerer Bedeutung für die Binnenwirtschaft als das ägyptische Gas ist Wasser – und auch hier zeichnet sich eine Zeitenwende ab, die der Führung in Kairo Kopfschmerzen bereitet. Der Grund: Zwei Knebelverträge aus den Jahren 1929 und 1959 sichern Ägypten – das 95 Prozent seines landesweiten Wasserverbrauchs aus dem 6670 Kilometer langen Strom bezieht und dessen Landwirtschaft offiziellen Zahlen zufolge zu rund 97 Prozent vom Nil abhängig ist – das Recht zu, 55,5 Milliarden Kubikmeter Wasser jährlich zu nutzen.
Das sind 90 Prozent der Gesamtmenge – den Rest mussten sich bisher Äthiopien, wo der blaue Nil entspringt, Eritrea, Nord- und Südsudan und Uganda, Kenia sowie Tansania, zwischen deren Ländergrenzen der Victoriasee liegt, aus dem der weiße Nil abfließt, teilen. Diese begehren seit dem Sturz Hosni Mubaraks im Rahmen der „Nilbecken-Initative“ gegen die ungleiche Verteilung auf, Äthiopien plant zudem den Bau eines 4.8 Milliarden US-Dollar teuren Staudamms und des größten Wasserkraftwerks Afrikas am blauen Nil unweit der sudanesischen Grenze.
Die Reaktion aus Kairo: Seit Monaten pendeln neben Außenminister Mohammed Kamel Amr auch dessen Emissäre zwischen Kairo und den Hauptstädten der Nilanrainerstaaten, um sich gegen eine neue Umverteilung des Wassers zu stemmen. Doch an einen Erfolg der Strategie glauben angesichts der historischen Ungerechtigkeit die wenigsten Analysten. „Wir müssen endlich realisieren, dass alle Nilanrainerstaaten mehr vom Nilwasser profitieren wollen“, sagte der Politikwissenschaftler Mostafa Kamel al-Sayed von der Cairo University jüngst der Zeitung „al-Masry al-Youm“.
Wie der sudanesische Minister für Wasserressourcen, Saif al-Din Hamad Abullah, vergangene Woche bekannt gab, wird deshalb noch in diesem Monat ein Treffen zwischen Ägypten, Sudan und in Addis Abeba stattfinden, um das äthiopische Staudammprojekt, das der ägyptischen Landwirtschaft einen erheblichen Schlag versetzen würde, zu diskutieren. Es wird ein wichtiger Termin für Ägypten, der weitaus größere Auswirkungen auf das Land am Nil haben wird, als die undurchsichtige NGO-Causa, die in diesen Tagen die Menschen in Aufruhr versetzt.
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