Viele Flüchtlinge konstruieren eine direkte Verbindung zwischen den Verzögerungen des Baubeginns und den temporären Unterkünften. Im Mai zog eine Demonstration auf einen Hügel am südlichen Ende des Camps, wo gerade die fünfte Barackensiedlung mit 152 Einheiten gebaut wird. Die DemonstrantInnen forderten den sofortigen Baustopp. Im Anschluss an den Protest erklärte Abu Mahmouds Sohn Mohammad: „Wenn die Leute sehen, dass noch mehr Baracken gebaut werden, steigt die Angst, dass das Camp nicht wieder aufgebaut wird. Sie erhalten den Eindruck, dass es keine Rückkehr ins Flüchtlingslager geben wird und dass sie für immer vertrieben sein werden.“
Nach der Vertreibung Hunderttausender aus Palästina im Jahr 1948 baute die UNRWA in den Flüchtlingslagern kleine Wohneinheiten aus Beton. Die Flüchtlinge entgegneten infrastrukturellen Verbesserungen im Laufe der Jahre teilweise mit Ablehnung, weil diese in ihren Augen ihr Exil zementierten. Und tatsächlich war ihr Exil nicht bloß temporärer Natur, sondern dauert nun mehr als 60 Jahre an. Vor diesem Hintergrund ist die Skepsis der Flüchtlinge gegenüber den Barackensiedlungen und deren Sanierung in Nahr al-Bared verständlich.
Konsequenterweise beklagt sich Abu Wassim, ein Sprecher der EinwohnerInnen der Stahlbaracken: „Aus Europa schickt man der UNRWA Geld, um die Baracken zu verbessern. Was wollen sie daran denn verbessern? Sie sollen sie nicht verbessern, sondern ihren Bewohnern helfen, sie zu verlassen und dann die Baracken zerstören!“
Offene Fragen als Nährboden für Skepsis
Ende Juni, 21 Monate nach Kriegsende, hat der Wiederaufbau nun offiziell begonnen. Die massive Verspätung hat mehrere Gründe. Zum Einen verlangte die libanesische Armee diverse Änderungen am Master-Plan: Die Strassen sollen künftig breit genug sein, damit sie von Panzern befahren werden können. Zum Anderen musste der libanesische Staat die ursprünglichen (libanesischen) Landbesitzer enteignen und entschädigen. Zudem verzögerte die hohe Kontaminierung mit Blindgängern die effiziente Räumung des Schutts und schließlich fand man unter dem ehemaligen Flüchtlingslager auch noch antike Ruinen. Das libanesische Generaldirektorat für Antiquitäten will nun bei jedem Sektor des Camps eine archäologische Analyse anstellen, bevor gebaut werden kann. Um die Ruinen nicht zu beschädigen, muss das Gebiet um einen Meter aufgeschüttet werden. Die Fundamente der Häuser können nun nicht mehr wie geplant zwei Meter unter dem natürlichen Boden angelegt werden und sämtliche Baupläne müssen entsprechend überarbeitet werden.
Die Zweifel der Flüchtlinge am Wiederaufbau beschränken sich aber nicht auf die zahlreichen Verzögerungen. Ihre Skepsis hat weitere Quellen. Eine davon beruht auf der Frage, weshalb eigentlich das Flüchtlingslager im Krieg komplett zerstört wurde. Wissam, ein junger Sozialarbeiter bemerkt: „Falls sie das Camp tatsächlich wieder aufbauen wollen, weshalb haben sie es denn zerstört? Die Art und Weise, wie die Schlacht sich ereignete ist unverständlich. Dies war nicht bloß ein Krieg gegen 250 Terroristen. Es steckt mehr dahinter. Fatah al-Islam hätte man auch beseitigen können, ohne das gesamte Camp zu zerstören.“
Diese Argumentation wird verstärkt durch die systematische Plünderung des Camps und das Anzünden der noch halbwegs stehenden Häuser während und nach dem Krieg, als Nahr al-Bared für einen Monat unter alleiniger Kontrolle der libanesischen Armee war. Anfang dieses Jahres wurden sogar Pläne des libanesischen Verteidigungsministeriums publik, in Nahr al-Bared eine Marine-Basis zu bauen. Die Pläne wurden nach massivem Protest der Bevölkerung angeblich zurückgezogen.
Fortwährende Belagerung
Abu Ali, der Vorsitzende des Händlerkomitees Nahr al-Bareds wird von Jahr zu Jahr – mit zunehmender Ernüchterung – deutlicher. Mittlerweile nimmt er kein Blatt mehr vor den Mund: „War der Grund des Krieges etwa die Zerstörung der Wirtschaft des Camps?“ Tatsächlich war Nahr al-Bared einst ein für Libanon untypisches Flüchtlingslager. An der Schnellstrasse zwischen Tripoli und der syrischen Grenze gelegen wurde es zu einem bedeutenden Handelszentrum im Nordlibanon. Libanesische Kunden konnten das Camp frei betreten. Dort hatten sie die Möglichkeit, zu sehr billigen Preisen einzukaufen und ihre Güter in Raten abzubezahlen. In einer Umfrage gaben rund 70 Prozent der Geschäftsinhaber an, sie seien von den libanesischen Kunden aus der Region abhängig.
Seit dem Krieg hat sich dieses Bild aber deutlich verändert. Die wirtschaftliche Infrastruktur wurde total zerstört und jene rund 15.000 Flüchtlinge, welche bislang an den Rand des Flüchtlingslagers zurückkehren konnten, bemühen sich vergebens um einen wirtschaftlichen Neustart. Abu Khalil besaß einst das größte Schreibwarengeschäft im Camp. Jetzt schlägt er sich mit einer viel kleinern Version davon über die Runden. Er weist darauf hin, dass all die Anstrengungen jener Organisationen, welche Unternehmer mit Startkapital versorgen, zum Scheitern verurteilt sind: „Selbst wenn sie mir 7500 Dollar gäben, würde mir das nichts nützen, weil ich unter Belagerung bin. Früher kamen unsere Kunden aus der ganzen Region, jetzt ist alles zu. Wem soll ich denn jetzt verkaufen?“
Während die libanesische Armee den Zutritt zum ehemaligen Kern des Flüchtlingslagers völlig verweigert, können auch die umliegenden Gebiete nicht frei betreten werden. Mehrere Checkpoints schneiden die bereits zurückgekehrten Flüchtlinge von ihrer Umwelt ab. Herein kommt nur, wer eine entsprechende Bewilligung hat. Für LibanesInnen, PalästinenserInnen aus anderen Camps und JournalistInnen ist es sehr schwierig, aufwändig und aufreibend, die entsprechende Erlaubnis einzuholen. Reine Schikane, meint Sheikh Ismail, der Imam der al-Quds Moschee in Nahr al-Bared: „Jeder von uns hat einen Ausweis, der überall akzeptiert wird. Wieso brauchen wir hier eine zusätzliche Genehmigung? Auf beiden Papieren steht dasselbe, dieselben Angaben! Man erhält den Eindruck, dass daran etwas faul ist. Wenn du sie darauf ansprichst, sagen sie, es sei wegen der Sicherheit.“
Der Kleinwarenhändler Adnan, der Metzger Mohammad, der Schuhmacher Salim, der Eisfabrikant Shadi, sie alle beklagen fehlende Kundschaft, weil die EinwohnerInnen der umliegenden Dörfer das Flüchtlingslager nicht betreten können. Über die Plünderung und Zerstörung ihrer einstigen Unternehmen sind sie längst hinweg, sie schauen nach vorne. Aber nicht nur für sie bedeutet die Abschottung des Camps eine massive Behinderung. Rund 60 Prozent der arbeitstätigen Bevölkerung Nahr al-Bareds arbeitete einst innerhalb des Camps. Der Grossteil dieser Arbeitsplätze fehlt jetzt. Und außerhalb des Flüchtlingslagers zu arbeiten ist für PalästinenserInnen schwierig, da ihre Arbeitstätigkeit im Libanon scharfen Restriktionen unterliegt.
Nahr al-Bared als Prüfstein
Nidal Abdelal, ein führender Aktivist der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) bestreitet nicht, dass die Eliminierung der Wirtschaft Nahr al-Bareds eines der Kriegsziele gewesen sein mag, aber er priorisiert politische Motive: „Die Fragen ob und wie Nahr al-Bared wieder aufgebaut wird, sind verknüpft mit den Themen Rückkehrrecht und tawtiin, also der dauerhaften Ansiedlung der PalästinenserInnen im Libanon. Entscheidend ist, welche politischen Implikationen der Wiederaufbau haben wird.
Der ehemalige libanesische Premierminister Fouad Siniora bekräftigte wiederholt, dass Nahr al-Bared zu einem Modell-Camp werden würde. Zu einem künftigen Vorbild für die weiteren elf offiziellen Camps im Libanon. Damit ist unter anderem gemeint, dass im Falle eines Wiederaufbaus das Flüchtlingslager unter libanesische Souveränität fallen wird – eine historische Zäsur. Die libanesische Polizei (ISF) wird im Camp präsent sein. Unklar ist die Rolle, welche den palästinensischen Parteien und dem aus ihren Vertretern zusammengesetzten Volkskomitee zukommen wird.
Nach der Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri unternahm die libanesische Regierung einige kleine, aber im hiesigen Kontext durchaus bedeutungsvolle Schritte zur Verbesserung der libanesisch-palästinensischen Beziehungen. Unter anderem stimmte das Kabinett 2005 der Gründung des Libanesisch-Palästinensischen Dialogkomitees (LPDC) zu, welches zunehmend zu einer Schnittstelle zwischen den palästinensischen Flüchtlingen und der libanesischen Regierung wurde. Tatsächlich lockerte die Regierung sachte die Restriktionen zur Einfuhr von Baumaterialien in die Flüchtlingslager, unternahm Schritte hinsichtlich der Verbesserung der Lebensbedingungen in den Camps, vereinfachte die Ausgabe von Arbeitsbewilligungen für Palästinenser und stellte bereits mehr als 700 Identitätskarten für unregistrierte palästinensische Flüchtlinge aus.
All diese positiven Schritte deuten darauf hin, dass sich in der politischen Elite Libanons zusehends die Einsicht verbreitet, dass die Verwirklichung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge gegenwärtig ferner liegt denn je – ihre mittelfristige Zukunft findet im Libanon statt. Der Wiederaufbau Nahr al-Bareds und der Umgang der Regierung und der Armee mit den Flüchtlingen werden so zum ernsthaften Test für diesen Politikwechsel. Der tief sitzende Frust und die enorm große Skepsis unter den Flüchtlingen kann die libanesische Regierung allerdings nur besiegen, wenn sich ihre Bemühungen für die Flüchtlinge sichtbar materialisieren.
Davon ist sie vorläufig noch weit entfernt. Auf den staubigen Strassen Nahr al-Bareds wird ihr dies erst gelingen, wenn sie ihre Versprechen hinsichtlich des Wiederaufbaus endlich und möglichst schnell in Taten umsetzt, die Belagerung aufgibt und die wirtschaftliche Entwicklung im Camp zulässt. Denn noch herrscht in Nahr al-Bared die Meinung der Schreinereibesitzerin Rima eindeutig vor. Sie ist sich bewusst, das Nahr al-Bared bereits das vierte palästinensische Flüchtlingslager auf libanesischem Boden ist, welches zerstört wurde: „Sie haben Tell az-Zaatar und die anderen Camps auch nicht wieder aufgebaut. Ich habe keine Hoffnung, dass sie Nahr al-Bared wieder aufbauen werden.“
Der Autor Ray Smith ist Aktivist beim anarchistischen Medienkollektiv „a-films“. Das Kollektiv begleitet die Entwicklungen in Nahr al-Bared seit zwei Jahren und hat dazu auf seiner Website mehrere Dokumentarfilme und Reportagen publiziert. Der neuste Kurzfilm von a-films behandelt das Thema der Belagerung Nahr al-Bareds durch die libanesische Armee. Der Film kann hier angeschaut und heruntergeladen werden.
1 Kommentar:
So bedauerlich die Situation der palästinischen Flüchtinge auch ist, der Artikel geht gar nicht auf die Mitverantwortung der Bewohner ein und hinterfragt überhaupt nicht kritisch die Rolle der Lager-Verantwortlichen, die zu dem eigentlichen gewaltätigen Konflikt geführt haben. Ein Leser, der die Geschichte des Nahr-al-Bared Lagerkrieges nicht kennt, muss denken, für den Krieg im Lager, sei allein die Libanesische Regierung Schuld. Was natürlich nicht stimmt.
Die Palästinenischen Flüchtlinge müssen selbstkritischer bzgl. ihrer eigenen Verantwortung werden. Der Konflikt war, um es salopp auszudrücken, keine Werbemaßnahmen für die palästinenische Frage, weder um Israel Bedenken gegen eine Rückkehr der Flüchtlinge zu nehmen noch in Libanon als Bewohner mit Flüchtlingsstatus von dem Land, in dem man lebt, mehr Rechte einzufordern. So gesehen darf man sich über die Politik beider Staaten vis-a-vis der palästinensischen Flüchtlinge nicht beklagen. Alles andere ist Heuchelei.
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