In weiten Teilen des Irak hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Monaten verbessert. Zwar sind Anschläge gerade im Großraum Bagdad noch immer an der Tagesordnung, jedoch nicht mehr in der Häufigkeit wie noch zur Jahresmitte. Auch die Zahl der Todesopfer in den Reihen der US-Armee sank im Oktober auf den niedrigsten Wert seit März 2006. Gegenüber BBC berichten Einwohner Bagdads von einer schrittweisen Entspannung der Lage in ihrer Stadt.
Die Gründe hierfür liegen zum einen in der Aufstockung der US-Truppen auf mehr als 150000 Soldaten seit Jahresbeginn und in der weitgehenden Konzentration der Armeeführung auf die Befriedung Bagdads unter Vernachlässigung anderer Teile des Landes wie etwa des mehrheitlich schiitischen Südens, der der Kontrolle der Koalitionstruppen praktisch vollkommen entzogen ist.
Auch als Folge der gestiegenen amerikanischen Truppenpräsenz verkündete der einflussreiche schiitische Prediger Muqtada al-Sadr im August einen sechsmonatigen Waffenstillstand der von ihm kontrollierten Mahdi-Armee. Sadr konnte sich diese Geste des guten Willens leisten, da seine Miliz viele aus ihrer Sicht wichtige Ziele ohnehin erreicht hat. Weite Teile des Südirak stehen unter ihrer Kontrolle, den Rückzug der britischen Armee aus Basra konnte sie als Erfolg verbuchen. In Bagdad, einer Stadt die vor der US-geführten Invasion mehrheitlich von Sunniten bewohnt wurde, leben Schätzungen zufolge mittlerweile zu 75 bis 80% Schiiten. Die sunnitischen Einwohner sind nicht zuletzt als Folge täglichen Terrors der Mahdi-Miliz entweder aus der Stadt geflohen oder in Viertel geflüchtet, in denen sie unter dem Schutz bewaffneter sunnitischer Gruppen stehen. Dass ein großer Teil der mehr als 4 Millionen irakischen Flüchtlinge jemals in ihre angestammte Heimat wird zurückkehren können ist angesichts der tiefgreifenden Veränderungen der letzten jahre äußerst unwahrscheinlich.
Daher ist ein Grund für das Abflauen der Gewalt in den veränderten demographischen Realitäten im Irak zu sehen. Weite Teile des Landes wurden im Lauf der letzten vier Jahre "ethnisch gesäubert", aus Stadtteilen und Landstrichen die vormals von Sunniten wie Schiiten gleichermaßen bewohnt wurden, ist eine der beiden Gruppen häufig vertrieben worden. Viele der bewaffneten Auseinandersetzungen, die der Irak trotz allem noch immer erlebt, werden inzwischen nicht mehr entlang der Konfessionsgrenzen sondern innerhalb der Religionsgruppen gefochten.
Ein Beispiel hierfür ist die Provinz Anbar im Westen des Irak. Die Region mit dem "sunnitischen Dreieck" um die Städte Fallujah und Ramadi war lange Zeit ein Zentrum des sunnitischen Aufstands und entwickelte sich zum wichtigsten Operationsgebiet von al-Qaida im Irak. Seit Anfang des Jahres geraten die größtenteils ausländischen al-Qaida-Kämpfer zusehends in die Defensive, nachdem sich lokale Stammesführer zum "Rat zum Erwachen Anbars" zusammengeschlossen hatten, die seither massiv militärisch von den USA unterstützt werden. Der Anführer das Klan-Bündnisses, Scheich Abdul Sattar Abu Risha, wurde am 13.September bei einem Anschlag getötet, zu dem sich al-Qaida bekannte.
Der miltärische Erfolg des Anbar-Rates hat jedoch auch seine Schattenseiten. Die bewaffnete Miliz bewegt sich nämlich außerhalb der regulären irakischen Armee. Ob sich die Kämpfer aus Anbar, die sich zuallererst ihrer Familie und ihrer Heimatregion verpflichtet fühlen, später in die nationalen Streitkräfte der schiitisch-dominierten Regierung werden eingliedern lassen, scheint äußerst fraglich. Einer ihrer Scheichs hat bereits angekündigt, demnächst Bagdad aus den Fängen der schiitischen Extremisten befreien zu wollen.: "Sobald Anbar befriedet ist, müssen wir die Kontrolle über Baghdad einnehmen, und wir werden das tun. Woran die ganze Welt in Anbar gescheitert ist, das haben wir über Nacht erledigt. Baghdad wird viel einfacher."
So scheint sich in Anbar ein Szenario herauszukristallisieren, das im Laufe der Zeit im gesamten Irak greifen könnte. Das Land droht, wenn auch nicht formal, in unzählige Kleinstaaten zu zerfallen, bei denen die Aufgaben für Regierung und Sicherheit in den Händen lokaler Warlords liegen, die keinerlei demokratische Legitimation besitzen. Die Zentralregierung wird auf absehbare Zeit auf den Großteil des Landes kaum politischen Einfluss besitzen. Getragen wird die Regierung in Baghdad auch weiterhin größtenteils von Schiiten unter denen Muqtada Sadrs Brigaden den größten Einfluss besitzen. Unterstützung erhält die Regierung von den Kurden, die im Gegenzug unbehelligt von Bagdad im Norden des Landes freie Hand haben.
Unklar bleibt, wie die Rolle der US-Armee in dieser undurchsichtigen Gemengelage aussehen soll. Stephen Biddle, Militärstratege und Berater von General David Petraeus, dem Kommandeur der multi-nationalen Truppen im Irak, erklärte in der vergangenen Woche auf die Frage, wie sein "Best Case Scenario" für das Zweistromland aussehe, dass, wenn alles gut laufe, "80-100000 US-Soldaten für die nächsten 20 bis 30 Jahre" im Irak bleiben müssten.
Montag, 19. November 2007
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