Homesh, das war bis vor wenigen Jahrzehnten ein kleiner, unbekannter Ort in Palästina. Das Dorf war ein Dorf wie jedes andere: Mitten im Nirgendwo – zwischen zerklüfteten Felsen und blühenden Olivenhainen – gelegen, lebten hier arabische Bauern in einem Dutzend Häusern und mit einem Haufen Hühnern – bis 1967. Nach der israelischen Annexion des Westjordanlandes verschwanden zuerst die arabischen Bauern, dann ihre Häuser und später die Olivenhaine. Die Hühner blieben aber nicht lange auf diesem idyllischen Flecken Erde verwaist: Radikale Siedler nahmen sich ihrer und der gottverlassenen Siedlung an. Die Thora im Gepäck, ließen sie sich am Ort ihrer Vorväter nieder und gründeten einen israelischen Außenposten, der in keiner Straßenkarte eingezeichnet war und ist: Homesh. Von 1978 an wuchs und gedieh die kleine Siedlung prächtig, bis im Jahr 2005 die Bewohner eine Hiobsbotschaft ereilte: Ihr trautes Heim war nach israelischem Recht illegal gebaut worden, nach internationalem sowieso. Die Siedlung wurde geräumt, die Häuser zerstört – das empfand man als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Zu Hunderten pilgern die frommen Juden bis heute nach Homesh, picknicken im Gras und preisen den Herrn. Bisher wurden sie jedes Mal von israelischen Soldaten von dort vertrieben. Das könnte sich nun ändern.
Viva la Revolution?
Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete diese Woche, dass am Montag Rekruten einer Eliteeinheit ein Plakat mit der Aufschrift „Wir werden Homesh nicht evakuieren“ auf dem Dach ihrer Kaserne angebracht hatten. Sie betonten, dass ihre Einheit sich weigere, Siedlungen im Westjordanland zu räumen. Den Meuterern brachte der Protest nicht viel: Sie sitzen nun wegen Befehlsverweigerung 20 Tage in einem Militärgefängnis. Benjamin Netanyahu, israelischer Premierminister, verurteilte das Verhalten in der Tageszeitung Yedioth Ahronoth scharf: „Unsere Sicherheit und unsere Existenz hängt von den israelischen Streitkräften ab. Wenn man Ungehorsam fördert, wird das zum Zusammenbruch des Staates führen. Ungehorsam wird nicht geduldet.“ Der Führer der Anti-Siedlungs-Bewegung „Peace now“, Yariv Oppenheimer, beschuldigte in einem Interview der Haaretz bestimmte Führer der Siedler die Soldaten zu ihrem Verhalten angestachelt zu haben und forderte das Militär auf, sich gegen dieses rechtsextreme Phänomen zur Wehr zu setzen, „bevor wir die Kontrolle über unsere Soldaten verlieren“.
Das scheint zum Teil jedoch längst der Fall zu sein. Bereits vor einem Monat hatten Soldaten derselben Einheit bei ihrer feierlichen Vereidigung an der Klagemauer Fahnen geschwungen, die ebenfalls eine eindeutige Botschaft trugen: „Wir haben uns nicht gemeldet, um Juden zu evakuieren“ stand auf den weißen Bettlaken geschrieben. „Wir wollten zeigen, dass es unsere Rolle ist, israelische Bürger zu schützen und sie nicht aus den Häusern im Land ihrer Vorfahren zu räumen“, erzählte einer der jungen Soldaten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dass er damit bei seinen Vorgesetzten auf wenig Verständnis stößt, konnte man wenige Minuten später auf der Homepage der israelischen Zeitung Maariv lesen: „Das ist eine Schande. Dieser Vorfall macht außergewöhnliche disziplinarische Maßnahmen erforderlich“, erklärte der Generalstabschef, Gabi Aschkenasi. Dass der Vorfall an der Klagemauer, wo Generationen von israelischen Soldaten ihr feierliches Gelöbnis abgehalten haben, geschah, sei unentschuldbar, so Aschkenasi weiter.
Das moderne Sparta
Die Vorkommnisse erschüttern Israel, ein Land, indem jeder Bürger – egal ob Mann oder Frau – seinen Militärdienst leisten muss. Die Armee hat es Jahrzehntelang geschafft als gesellschaftliche Klammer die meisten virulenten Konflikte innerhalb der Gesellschaft auszugleichen. Für Neueinwanderer stellt der Militärdienst so etwas wie die Eintrittskarte in die israelische Gesellschaft dar. Funktionieren kann das nur deshalb, weil die Armee als Symbol des nationalen Konsens über allen politischen Debatten steht. Egal ob aus Äthiopien, Aserbaidschan oder der arabischen Halbinsel, alle sind gleich: moderne jüdische Krieger, koscher und kampfbereit. Der wehrhafte Judenstaat ist das moderne Sparta des Nahen Ostens – und man ist stolz darauf. Dass mag für viele eine zweifelhafte Ehre sein, aber in Israel ist es das. Generationenübergreifend schweißt das Erlebte – egal ob 1948, 1967 oder 2006 – zusammen. Jede noch so unscheinbare Hausfrau zwischen Akko und Ashdod kann ein Sturmgewehr mit verbundenen Augen auseinanderbauen und hat ihren Mann in der Kaserne kennengelernt: Dem Heiratsmarkt schlechthin.
Doch während die ethnischen und sozialen Differenzen irgendwie ausgeglichen werden konnten, bricht die ebenfalls fast überwunden geglaubte Trennlinie zwischen säkularen und religiösen Soldaten seit der gewaltsamen Räumung jüdischer Siedlungen im Gaza-Streifen 2005 in einer Form auf, wie es im wehrhaften Judenstaat bis dato nicht bekannt war: Soldaten mit einem national-religiösen Hintergrund verweigern die Befehle ihrer Vorgesetzten, wenn es um die Räumung von Siedlungen geht. Die Armee ist zu einem Spiegelbild der Auseinandersetzung auf politischem Gebiet geworden. Auf der einen Seite steht die Mehrheit, die säkularen Befürworter des Abzugsplans, auf der anderen Seite, die national-religiösen Hardliner. Diese radikale Minderheit ist nicht gleichzusetzen mit dem rechtsgerichteten Likud-Block und seinen Anhängern, die in der Weltöffentlichkeit durch polternde Politiker und kauzige Kriegstreiber traurige Berühmtheit erlangte. Nein, diese Minderheit ist radikaler. Sie träumen von einem „Großisrael“ und sehen sich als „wahre“ Herren des Landes.
Zwischen Thora und Totalitarismus
„Der Herr des Universums hat seine eigene Politik und ihr zufolge vollzieht sich die niedere, irdische Politik. Teil dieser Erlösung ist die Eroberung des Landes und seine Besiedlung. Dies ist eine Vorgabe göttlicher Politik, die keine niedere Politik durchkreuzen kann“, sagte Rabbi Zvi Yehuda Kook, der geistige und religiöse Vater der Siedlerbewegung. Die aufmüpfigen Nachwuchssoldaten sehen das genauso. Für sie ist der verpflichtende Militärdienst mehr als ein staatliches Gesetz, es ist ein göttliches Gebot. Die religiösen Eiferer, die in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder die Befehle zur Räumung verweigerten, sind Teil einer Kampfeinheit, die weit über Israels Grenzen bekannt geworden ist: Die Kfar-Brigade.
Im Verlauf der Al-Aqsa-Intifada gegründet, ist das Regiment mittlerweile die truppenstärkste Einheit und wird ausschließlich im besetzten Westjordanland eingesetzt. Dort kam es wiederholt zu gewaltsamen Übergriffen und Misshandlungen seitens der Soldaten an wehrlosen Palästinensern. In den Reihen der Kfar-Brigade leistet ein Großteil der Siedlerjugend ihren Militärdienst und genau hierin besteht das Problem. Auf der einen Seite freut es die Militärführung, dass die Jugend, nach jahrelanger Dürre, wieder zurück in die Kampfeinheiten drängt – drei von vier passenden Bewerbern meldeten sich im Jahr 2009 freiwillig für den Dienst in Kampfeinheiten - , auf der anderen Seiten werden die Sorgenfalten selbst bei den hartgesottensten Generälen immer größer, denn die Motivation der Rekruten stellt sich oftmals als äußerst zweifelhaft heraus. Die Einheit ist zum Sammelbecken Radikaler, Religiöser und Rechter geworden, die testosterongeladen und voller Hass regelrecht Jagd auf Palästinenser machen.
Israel, quo vadis?
Die israelische Regierung unter Premierminister Benjamin Netanyahu ist jedoch zu schwach, um ein Exempel zu statuieren. Noch im August reisten drei Minister seines Kabinetts, darunter auch Moshe „Boogie“ Yaalon – der stellvertretende Premierminister – nach Homesh. Mit im Gepäck: Warme Worte für die Wahnsinnigen. Gegenüber der israelischen Tageszeitung Jerusalem Post sagte Yaalon, dass die Siedlung legal sei und nannte die linksliberale Friedensbewegung „Peace Now“ einen „Virus“. „Wir haben uns daran gewöhnt den Arabern zu gestatten überall dort zu leben, wo sie wollen: In der Negev-Wüste, Galiläa, Nablus und in Jenin. Aber wir Juden dürfen nicht überall leben“, polemisierte der Minister für strategische Angelegenheit weiter. Die Weltöffentlichkeit reagierte schockiert, und auch in Jerusalem schüttelte man den Kopf.
Obwohl Premierminister Netanyahu kein ausgewiesener Freund der Friedensbewegung ist, hatte er für den Ausflug seiner Minister wenig Verständnis. Nach einem Besuch in seinem Büro erklärten sie unisono, man respektiere andere Meinungen selbstverständlich und man habe sich verbal vergaloppiert. Wie dem auch sei, ihr Einknicken ist wohl mehr der Angst um den eigenen Ministerposten zu verdanken, als einem ernstgemeinten Sinneswandel. Wohin der Ritt der israelischen Streitkräfte nun geht, weiß keiner so genau, denn der Einzige, der den Irren von Zion Paroli bot, ist tot – Yitzhak Rabin.
In einer Rede in der Knesset am 28. Februar 1994 sagte er das, was viele Israelis dachten und denken: „Ihr seid nicht Teil der israelischen Gesellschaft. Ihr seid nicht Teil des demokratischen, nationalen Lagers, dem wir alle in diesem Hause angehören, und sehr, sehr viele im Volk verabscheuen euch. Ihr habt nicht Teil am zionistischen Werk. Ihr seid ein Fremdkörper, seid Unkraut. Das vernunftbegabte Judentum speit euch aus. Ihr habt euch außerhalb des jüdischen Rechts gestellt. Ihr seid eine Schmach für den Zionismus und ein Schandfleck für das Judentum.“
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