Montag, 1. März 2010

Wandel oder windige Versprechen? Jordanien diskutiert über ein neues Wahlgesetz

von Sara Mehring

Am 23. November 2009 löste König Abdallah II überraschend das jordanische Parlament auf und verschob die Neuwahlen auf Ende 2010. Diesen Aufschub begründete der König vor allem damit, dass zunächst ein neues Wahlgesetz ausgearbeitet werden solle – ein Vorhaben das gerade aus den Reihen der Muslimbruderschaft begrüßt wurde. Denn deren politischer Arm, die Islamische Aktionsfront (IAF) musste bei den vergangenen Wahlen auch wegen des aktuellen Wahlgesetzes herbe Verluste einstecken. Noch herrschen lediglich Gerüchte vor, was das veränderte Gesetz beinhalten könnte. So wird vermutet, dass künftig über eine Quotenregelung mehr Parlamentssitze mit Jordaniern palästinensischer Herkunft besetzt werden sollen. Obwohl palästinensischstämmige Jordanier einen hohen Anteil der jordanischen Gesamtbevölkerung ausmachen (geschätzt mehr als 50 Prozent), werden sie in ihrer politischen Mitbestimmung bisher diskriminiert. Doch wie ernsthaft es dem Regime in Jordanien tatsächlich mit einer umfassenden politischen Reform ist, muss skeptisch hinterfragt werden. Denn schließlich sichert das aktuelle Wahlgesetz dem König eine stabile und weitgehend loyale Basis im Parlament. Andererseits drängen die USA, als wichtigster Geldgeber Jordaniens, Amman zu mehr Demokratie. In diesem Spannungsfeld zwischen Herrschaftssicherung einerseits und wirtschaftlichen und äußeren Zwängen andererseits wird seit der Gründung des Haschemitischen Königreicheichs die Reformdebatte in Jordanien geführt.


Seit 1952 ist Jordanien laut Verfassung eine konstitutionelle Monarchie, in welcher sich das Kabinett gegenüber dem Parlament verantworten muss. Das Parlament besteht in Jordanien aus einem vom König bestimmten Oberhaus bzw. Senat und einem Unterhaus, dessen (mittlerweile) 110 Abgeordnete vom Volk gewählt werden. Die Regierung wird vom König ernannt und vom Parlament bestätigt. Das Parlament nimmt im politischen Prozess allerdings von je her eine schwache Position ein. Wie der aktuelle Fall zeigt, kann der König das Unterhaus relativ problemlos auflösen und für einen bestimmten Zeitraum die Staatsgeschäfte auch ohne parlamentarische Legitimation führen. Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes regierte König Hussein I zwischen 1967 bis 1989 sogar ganze 23 Jahre lang ohne jegliche parlamentarische Kontrolle. Und auch Abdallah II verlegte kurz nach seiner Amtsübernahme die 2001 anstehenden Parlamentswahlen um ganze zwei Jahre nach hinten. In jener Zeit erließ der König über 200 Gesetze, welche unter anderem mehrere zivile Freiheitsrechte deutlich einschränkten. Dazu gehörten auch die Presse- und Versammlungsfreiheit. Dem schließlich 2003 gewählten Parlament wurden diese Gesetze nur teilweise zur nachträglichen Bestätigung vorgelegt.

Auch nach der aktuellen Parlamentsauflösung ist zu erwarten, dass der König die Zeit ohne lästige legislative Kontrolle vor allem dazu nutzen wird, wirtschaftliche Reformen im Alleingang durchzudrücken. Der wirtschaftliche Reformprozess verlief in der Zusammenarbeit mit dem letzten Parlament nur sehr schleppend, weswegen nach Analysen des Center of Strategic Studies (CSS) auch innerhalb der Bevölkerung die Zustimmung zur Parlamentsarbeit abgenommen haben soll. Abdallahs Entscheidung fand daher auch in den jordanischen Medien eine eher positive Resonanz. Laut Verfassung müssten die Neuwahlen eigentlich spätestens vier Monate nach der Auflösung des Parlaments stattfinden, das hieße bereits Ende März 2010. Nur unter besonderen Umständen darf der König diese Frist bis auf zwei Jahre ausdehnen. Offiziell sind diese „besonderen Umstände“ nun die Modifizierung des Wahlgesetzes.

Das aktuelle Wahlgesetz wurde im Jahr 1993 vom damaligen König Hussein I erlassen und sollte wohl vor allem dazu dienen, den Einfluss der Islamisten im Parlament klein zu halten. Denn nachdem im Jahr 1989 erstmals wieder Wahlen stattgefunden hatten, errang die Muslimbruderschaft einen beachtlichen Erfolg: 34 der insgesamt 80 Parlamentssitze konnten die Muslimbrüder damals für sich gewinnen und nahmen mit fünf Minister sogar am Kabinettstisch Platz. Als im Jahr 1992 außerdem die Gründung und Aktivität von politischen Parteien wieder erlaubt wurde, schuf sich die Muslimbruderschaft mit der IAF einen politischen Arm. Obwohl auch 1993 ein ähnlicher Wahlerfolg für die Islamisten zu erwarten gewesen war, mussten die Muslimbrüder damals eine herbe Niederlage einstecken, denn das Königshaus hatte andere Interessen und manipulierte die Wahlen massiv.

Zum Hintergrund: Jordanien hatte im Jahr 1991 Friedensverhandlungen mit Israel aufgenommen - ein Prozess, den die Islamisten deutlich ablehnten. Auch in größeren Teilen der palästinensischstämmigen Bevölkerung wurde das Königshaus hierfür kritisiert. Die Bindung von Jordaniern palästinensischer Herkunft ans Haschemitische Königshaus war schon immer gering. Entsprechend klein war auch von je her das Interesse des Regimes diese große Bevölkerungsgruppe politisch einzubinden. Und gerade im heiklen Verhandlungsprozess mit Israel, der auch von den USA mit Argusaugen beobachtet wurde, wollte sich das jordanische Regime keinen „Störfaktor“ erlauben. Mit dem Wahlgesetz von 1993 schlug Hussein I im Grunde zwei Fliegen mit einer Klappe: Er marginalisierte mit dem neuen Prinzip „one man, one vote“ den Einfluss von politischen Parteien im Wahlprozess und verringerte durch eine ungünstige Einteilung der Wahlkreise außerdem die Repräsentanz von Jordaniern palästinensischer Herkunft. Diese wohnen traditionell vor allem in Stadtgebieten, während sich die königstreue Basis vorwiegend aus der Landbevölkerung rekrutiert. Jene Gruppe wurde durch die neue Wahlkreiseinteilung nun überrepräsentiert, da ein Abgeordneter aus den ländlichen Bezirken weniger Wähler benötigte, als ein Kandidat aus den größeren Stadtbezirken. Diese Regelung diskriminierte die palästinensischstämmigen Jordanier erheblich und schadete auch der Muslimbruderschaft, welche ihren Rückhalt traditionell aus jener Bevölkerungsschicht erhält. Das Prinzip „one man, one vote“ beschnitt den Einfluss der IAF als politische Partei zusätzlich: Während die Wähler in einem Wahlbezirk zuvor so viele Stimmen hatten, wie Sitze aus diesem Bezirk vergeben wurden, so beschränkte sich das Wahlrecht mit dem neuen Gesetz nur noch auf eine Stimme. Kandidaten von Parteien hatten hiernach mit ihrem ideologischen Programm das Nachsehen, da die meisten Wähler in Jordanien sich auch heute noch stärker an Stammes- und Familienzugehörigkeit der Kandidaten, als an deren ideologischer Ausrichtung orientieren. So waren auch die Parteikandidaten der IAF bei der Vergabe von nur einer Stimme meistens im Nachteil und die Rechnung ging zu Gunsten des Regimes auf. Als Reaktion der unvermeidlichen Wahlniederlage von 1993, boykottierte die IAF die folgenden Wahlen im Jahr 1997. Aber dadurch drängte sie sich nur selbst ins politische Abseits, zumal das Regime den Boykott der Islamisten für sich instrumentalisierte und in einer groß angelegten Medienkampagne deren undemokratisches Verhalten tadelte.

Der Streit um das jordanische Wahlgesetz zwischen Regime und Opposition nahm damit aber kein Ende. Die Verschiebung der Wahlen von 2001 auf 2003 geschah zunächst auch unter der Argumentation, dass das aktuelle Gesetz modifiziert werden müsse. Letztlich wurden in jener Periode allerdings nur die Anzahl der Parlamentssitze von 104 auf 110 aufgestockt. An Stimmenzahl und Wahlkreiseinteilung wurden keine Veränderungen vorgenommen. Die negativen Auswirkungen der weiterhin bestehenden Regelungen bekam die IAF besonders deutlich bei den letzten Wahlen im Jahr 2007 zu spüren: Sie verlor elf Sitze und war nunmehr nur noch mit sechs Kandidaten im Unterhaus vertreten. In Teilen können diese Verluste zwar auch auf das Agieren der IAF selbst zurückgeführt werden: Diese war zu jenem Zeitpunkt intern stark zerstritten und setzte in einigen Wahlbezirken ungünstige Kandidaten ein. Jedoch wurde ein Eingreifen des Palastes in die Wahlen von 2007 nicht nur durch die ungünstige Wahlkreisgewichtung deutlich, sondern auch durch viele Ungereimtheiten im Wahlablauf. So gewannen beispielsweise zwei Kandidaten im dritten Wahldistrikt von Amman mit 10,666 und 11,604 Stimmen, obwohl es in diesem Bezirk nicht entsprechend viele Wähler gibt, während in anderen Bezirken auf einmal tausende von Stimmen fehlten. Stimmenkauf und Stimmentransfer hat im Haschemitischen Königreich eine lange Tradition und machen noch mal deutlich, wie wenig das Königshaus bei der politischen „Mitbestimmung“ das Zepter aus der Hand geben will.

Man muss sich daher auch bei der derzeitigen Diskussion um das Wahlgesetz fragen, ob es hier wirklich um tiefgreifende politische Reformen geht, oder ob doch eher kleinere „Schönheitskorrekturen“ vorgenommen werden, während das Regime die Zeit nutzt, um wirtschaftliche Reformen durchzusetzen, welche vom klientelistisch ausgerichteten Parlament bisher blockiert wurden. Denn so sehr das derzeitige Wahlsystem dem König politisch auch nutzt: Es fördert mit seiner Konzentration auf tribale Bedürfnisse auch eine starke Orientierung der Parlamentarier auf ihre eigenen regionalen Bedürfnisse und schmälert in wirtschaftlichen Fragen unter Umständen die Gefolgschaft zum König. Doch dieses Manko allein wird den König vermutlich dennoch nicht dazu bewegen, mit den anstehenden Reformen an der ungleichen Wahlkreiseinteilung zu rütteln. Die IAF ist derzeit die am besten aufgestellte und stärkste Oppositionspartei im Land – ungeachtet ihrer bescheidenen Fraktionsgröße im aktuellen Parlament. Denn ihre Stärke bezieht sie aus den außerparlamentarischen Aktivitäten der Muslimbrüder, die dadurch in Jordanien zu einer zivilgesellschaftlichen Massenbewegung wurden. Größere Veränderungen am Wahlgesetz wären vermutlich gleichbedeutend mit einem Erstarken der IAF-Fraktion. Und das könnte das Regime vor weitaus größere Stabilitätsprobleme stellen, als Rangeleien, mit einer ansonsten doch recht loyalen ländlichen Basis.

Die derzeit kursierenden Gerüchte um eine Vergabe von mehr Sitzen an palästinensischstämmige Jordanier bedeutet vermutlich einen Kompromiss, der ein Gefühl von mehr Partizipation im Parlament vermitteln soll, allerdings nicht gleichbedeutend mit einem Erstarken einer ernstzunehmenden Opposition sein muss. Schließlich ist Abdallahs frisch eingesetzter Premier Samir Rifai ebenfalls palästinensischen Ursprungs. Doch seine Familie ist seit Jahrzehnten eng mit dem Haschemitischen Königshaus verbunden – sein Vater und sein Großvater besetzten ebenfalls mehrmals den Posten des Ministerpräsidenten. Eine ernstzunehmende politische Einbindung der palästinensischstämmigen Bevölkerung kann erst erreicht werden, wenn ihre Stimmen durch eine Neugewichtung der Wahlkreise angemessen abgebildet werden und das Regime zudem nicht mehr manipulativ in den Wahlprozess eingreift.

Sara Mehring studiert Politikwissenschaft an der Universität Münster und hat diesen Beitrag im Rahmen des Seminars "Islamistische Bewegungen im Nahen Osten" verfasst.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

soso die Amerikaner drängen auf Demokratie.Wohl mit der IAF als Sieger.