Ein Beitrag von Sina Birkholz aus Kairo
Samstag, der 19.März 2011, ist ein historischer Tag für Ägypten: circa 40 Millionen Wahlberechtigte Ägypter sind aufgerufen, in einem Referendum zur Verfassungsänderung ihre Stimme abzugeben. Auch wenn internationale und deutsche Medien dem Ereignis kaum Aufmerksamkeit schenken, die Ägypter fühlen und sagen: dies ist ein historischer Tag, sie erleben und machen Geschichte. Viele folgen zum ersten Mal in ihrem Leben dem Aufruf, ihre Stimme abzugeben, und selbst für diejenigen, die sich auch in der Vergangenheit an Wahlen beteiligten, gilt: zum ersten Mal haben sie das Gefühl, ihre Stimme zähle. Abu El Ela Madi, Gründer der "Wasat-Partei", sagte vergangene Woche bei einer Podiumsdiskussion sinngemäß: Die Ägypter müssen stolz sein, zum ersten Mal gibt es ein Referendum, bei dem man nicht weiß, wie die Ergebnisse aussehen werden.
Mit dieser Aussage wollte Abu EL Ela Madi auch die Gemüter kühlen. Die Debatte über die zur Abstimmung stehenden Verfassungsänderungen wurde in Ägypten sehr heftig geführt. Der in den letzten 30 Jahren entstandenen politischen (Un-)Kultur entsprechend, wurde dabei der Gegner aufs Schlimmste verteufelt, der Verschwörung, wenn nicht gar des Vaterlandverrats beschuldigt, und diverse Horrorszenarien beschworen, sollte sich die Gegenseite mit ihrem JA respektive NEIN zu den vorgeschlagenen Änderungen durchsetzen. Angesichts der vorgeschlagenen Änderungen, die lediglich zehn Artikel der Verfassung betreffen, mag diese Dramatik verwundern. Abgesehen von den Einflüssen der bisher vorherrschenden Debattenkultur, spielt eine Rolle: Für viele Ägypter geht es hier ums Ganze, darum, die Revolution zu Ende zu bringen, und ein Wiedererstarken des alten Regimes oder das Entstehen einer neuen Militärdiktatur zu verhindern. Kein Wunder also, dass die Twitter-Hashtags #egypt und #dostor2011 (dostor = Verfassung) förmlich explodieren und die Menschen schon seit der Öffnung der Wahllokale um 8 Uhr in allen Stadtteilen Kairos in Massen zu den Urnen pilgern, so dass BBC – einem vom Militär angekündigten aber weitgehend ignorierten Medien-Bann zum Trotz - bereits um die Mittagszeit von einer hohen Wahllbeteiligung sprechen kann.
Die vom potentiellen Präsidentschaftskandidaten Mohammed El Baradei als “Einzelheiten” bezeichneten Verfassungsänderungen waren von einem durch den Militärrat eingesetzten Komitee unter der Leitung des angesehenen Richters Tareq al-Bishri ausgearbeitet worden und wurden am 26.Februar 2011 offiziell bekannt gegeben.
Zehn Artikel der 1971 in Kraft getretenen Verfassung sind von den vorgeschlagenen Änderungen betroffen, sie regulieren vor allem diverse Aspekte der Präsidentschafts-Kandidatur sowie der Verfassungsgebung und können im heutigen Referendum lediglich en bloc angenommen oder abgelehnt werden.
Mit den vorgeschlagenen Änderungen verkürzte sich die Amtsperiode des Präsidenten von sechs auf vier Jahre, die Amtszeiten würden auf zwei begrenzt – bis dato kann die Wiederwahl beliebig oft erfolgen, Mubarak beispielsweise hätte im Herbst die 5. Amtszeit beendet (Art.77). Die Kandidatur würde erheblich erleichtert, während bisher die Zustimmung des fast ausnahmslos mit NDP-Mitgliedern besetzten Parlaments für eine Kandidatur nötig war, könnte die Nominierung dann auf mehreren Wegen erfolgen: ein potentieller Präsidentschaftskandidat müsste 30 000 Unterschriften aus mindestens 15 Provinzen sammeln, oder von 30 Mitgliedern einer der beiden Kammern des Parlaments - also des Oberhauses „Shura“ oder des Unterhauses „Maglis al-Shaab“ - unterstützt oder von einer Partei, die mindestens einen Sitz im Parlament hält, nominiert werden. Des weiteren würde der Präsident im neuen Artikel 139 verpflichtet, einen Stellvertreter zu ernennen. Artikel 88 stellte die von Mubarak abgeschaffte vollständige richterliche Überwachung der Wahlen wieder her. Die Verhängung des mittlerweile seit mehr als 30 Jahren bestehenden Notstandes würde mit den Änderungen von Art 148 zukünftig erschwert. Das Inkraftsetzen des Notstandsgesetzes durch den Präsidenten bedürfte zukünftig der Zustimmung des Parlaments, wäre auf eine Dauer von sechs Monaten begrenzt, eine Verlängerung über diesen Zeitraum hinaus könnte nur nach Zustimmung der Bevölkerung in einem Referendum erfolgen.
Weitere Artikel betreffen die Staatsbürgerschaft des Präsidenten (Art.75) und die Gültigkeit eines Parlamentssitzes bzw. dessen Bestätigung durch den Obersten Gerichtshof (Art 93). Artikel 179, bekannt (und berüchtigt) als Anti-Terror-Artikel wird ersatzlos gestrichen.
Die vorgeschlagenen Ergänzungen des Artikels 189 schließlich regeln das Zustandekommen einer neuen Verfassung: bei Inkrafttreten der Änderungen könnten der Präsident oder ein Quorum aus je 50% der Shura und des Parlaments eine neue Verfassung fordern. Ein Gremium aus 100 Mitgliedern, die größtenteils zu bestimmen sind durch Shura und Parlament, würde beauftragt, innerhalb von sechs Monaten eine neue Verfassung vorzuschlagen. Der Verfassungstext wäre dann vom Präsidenten binnen 15 Tagen dem Volk in einem Referendum zur Abstimmung vorzulegen, und träte mit der Zustimmung des Volkes sofort in Kraft.
Nahezu allen Gegnern der Verfassungsänderung gehen die Vorschläge nicht weit genug, da vor allem die Machtfülle des Präsidenten und der Exekutive insgesamt unangetastet bleiben. Nicht wenige fordern eine gänzlich neue Verfassung, und monieren, dass die jetzige Verfassung mit der Revolution und dem Aussetzen der Verfassung durch den Militärrat bei der Machtübernahme am 12.Februar 2011 null und nichtig geworden sei.
Mehr noch als um die konkreten Inhalte der Änderungsvorschläge geht es um den Zeitplan, der mit einer Zustimmung bzw. Ablehnung verknüpft ist. Das Militär hat bekannt gegeben, nach Annahme der Änderungen im Juni Parlaments- und im September Präsidentschaftswahlen abhalten zu wollen. Viele Oppositionspolitiker, potentielle Präsidentschaftskandidaten, Angehörige der revolutionären Jugend und daraus entstandener Koalitionen sowie politisch Aktive und Meinungsmacher jedoch halten diesen Zeitplan für übereilt. Gerade Parlamentswahlen in wenigen Monaten ließen nicht ausreichend Zeit für die Formierung und Etablierung neuer Parteien, die Zusammensetzung des nächsten Parlaments sei dementsprechend absehbar: Muslimbrüder und die Nationaldemokratische Partei NDP, die Partei des alten Regimes, würden die Mehrheit der Sitze erobern, schließlich sind sie die einzigen, die auf eine Organisationsstruktur zurückgreifen können, die es ihnen erlaubt auch auf dem Land und in allen Gesellschaftsschichten Wahlkampagnen durchzuführen und zu mobilisieren. Die für erfolgreichen Wahlkampf nötige Infrastruktur, bestehend auch aus ausreichender Finanzierung, einem politisch griffigen und kommunizierbaren Programm, sowie einem Netz an Helfern und der nötigen „Publicity“, letztlich Sichtbarkeit, müssen sich gerade diejenigen, die maßgeblich am Sturz des Mubarak-Regimes beteiligt waren erst aufbauen.
Wenig verwunderlich sind daher die Frontlinien zwischen den kollektiven Akteuren und etablierten Politikern: die Verfassungsänderung und der damit verknüpfte Fahrplan für die weitere Entwicklung werden abgelehnt von den ehemaligen Oppositionsparteien wie al-Ghad, al-Wafd, den Nasseristen, der Demokratischen Front Partei und der Tagammu Partei. Auch die Koalition der revolutionären Jugend des 25.Januar, sowie die mit El Baradei verbundene Nationale Vereinigung für Wandel werben für ein Nein, auf Arabisch „la“. Auch der andere prominente, und bei vielen Ägyptern sehr beliebte, potentielle Präsidentschaftskandidat Amr Moussa lehnt die Änderungen ab.
Zur Zustimmung, dem „Na'am“ hingegen rufen auf die Salafisten, Reste der NDP, und die Muslimbrüder. Mitglieder des Reform-Flügels der Brüder scherten jedoch gestern aus der Linie der Organisation aus und riefen zu einem Nein auf. Die am 19.Februar zugelassene al-Wasat-Partei hingegen stimmt nach Aussagen ihres Gründers den Änderungen zu. Auch wenn Abu EL Ela Madi für ein JA im Referendum plädiert, lehnt er jedoch baldige Parlamentswahlen ab, da selbst die al-Wasat-Partei, die sich seit 15 Jahren um die Zulassung bemüht hatte, und sozusagen schon vor der Revolution in den Startlöchern stand, nicht dafür bereit sei, jetzt in politischen Wettstreit zu treten.
Die ägyptische Debatten in Zeitungen, Onlineforen, Mailinglisten, Facebook, der Straße, den Moscheen und für Ägypten auch sehr wichtigen abendlichen Polit-Talk Shows, waren zum Teil geprägt von Überforderung und Ahnungslosigkeit, resultierend aus der in Jahrzehnten erzwungenen und kultivierten politischen Unmündigkeit, aber auch aus der Informationspolitik des Militärrats. Die oben bereits angesprochene Dramatisierung, das heißt eine extreme Abwertung der gegnerischen Position, konnte beobachtet werden. Zugleich wurde aber immer wieder auch beschworen, man solle einem „demokratischen Geist“ folgen, der dem zuwiderlaufe. Damit verknüpft wird der Appell, Abschied zu nehmen von einer Debattenkultur, in der der politische Gegner verdächtigt wird, im Bunde mit dem Teufel zu stehen und überdies ein Vaterlandsverräter zu sein. Die Instrumentalisierung von Religion wurde dokumentiert und öffentlich kritisiert. So sahen sich die Muslim Brüder gezwungen, sich von ihrer Werbung zu distanzieren, die ein Ja als religiöse Pflicht verkaufte.
Unabhängig von Parteizugehörigkeit lässt sich die Tendenz beobachten: wer sich nach Ruhe und Stabilität sehnt, stimmt JA. Auch wenn Stabilität sicher nicht das originäre Ziel der Revolution war, lässt sich hier jedoch keine klare Frontlinie zwischen Revolutionären und Konter-Revolutionären ausmachen. Letztlich verlaufen die Konfliktlinien nicht eindeutig, also nicht jung gegen alt, arm gegen reich, Männer gegen Frauen. So finden sich unter den Befürwortern auch diejenigen, die das Entstehen einer Militärdiktatur fürchten, und vor einem libyschen Szenario warnen. Von der Annahme der Verfassungsänderung und baldigen Wahlen versprechen sie sich die schnellstmögliche Rückkehr zu einer zivilen Herrschaft, bevor das Militär sozusagen „auf den Geschmack“ kommt.
Andere wiederum stimmen für Ja, weil die Gegner der Verfassungsänderung angeblich alle eine säkulare Verfassung, also die Abschaffung des Islam, wollten. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass diejenigen, die ein säkulare Verfassung möchten, die Änderungen mehrheitlich ablehnen. Wie bereitwillig manche Menschen aber solch eine kategorische Ineinssetzung von NEIN und Islam-Feindlichkeit glauben, zeigt, welch große Herausforderung nun vor einer Bevölkerung liegt, deren Denken von 30 Jahren Diktatur und einem katastrophal versagenden Bildungssystem geprägt ist. In diesem Sinne gilt es, der Interpretation vieler Ägypter zu folgen: gleich, was das Ergebnis des Referendums sein mag, allein dass die Abstimmung stattfindet, friedlich verläuft und eine immense Beteiligung erfährt, die alle Erwartungen übertrifft und auch die logistischen Kapazitäten der Wahllokale sprengt, ist ein erstes für jeden greifbares Resultat der Revolution. Und um mit den hoffnungsvollen Worten eines Ägypters zu schließen: "We are not used to democracy, but that doesnt mean we are not ready for it."
Samstag, der 19.März 2011, ist ein historischer Tag für Ägypten: circa 40 Millionen Wahlberechtigte Ägypter sind aufgerufen, in einem Referendum zur Verfassungsänderung ihre Stimme abzugeben. Auch wenn internationale und deutsche Medien dem Ereignis kaum Aufmerksamkeit schenken, die Ägypter fühlen und sagen: dies ist ein historischer Tag, sie erleben und machen Geschichte. Viele folgen zum ersten Mal in ihrem Leben dem Aufruf, ihre Stimme abzugeben, und selbst für diejenigen, die sich auch in der Vergangenheit an Wahlen beteiligten, gilt: zum ersten Mal haben sie das Gefühl, ihre Stimme zähle. Abu El Ela Madi, Gründer der "Wasat-Partei", sagte vergangene Woche bei einer Podiumsdiskussion sinngemäß: Die Ägypter müssen stolz sein, zum ersten Mal gibt es ein Referendum, bei dem man nicht weiß, wie die Ergebnisse aussehen werden.
Mit dieser Aussage wollte Abu EL Ela Madi auch die Gemüter kühlen. Die Debatte über die zur Abstimmung stehenden Verfassungsänderungen wurde in Ägypten sehr heftig geführt. Der in den letzten 30 Jahren entstandenen politischen (Un-)Kultur entsprechend, wurde dabei der Gegner aufs Schlimmste verteufelt, der Verschwörung, wenn nicht gar des Vaterlandverrats beschuldigt, und diverse Horrorszenarien beschworen, sollte sich die Gegenseite mit ihrem JA respektive NEIN zu den vorgeschlagenen Änderungen durchsetzen. Angesichts der vorgeschlagenen Änderungen, die lediglich zehn Artikel der Verfassung betreffen, mag diese Dramatik verwundern. Abgesehen von den Einflüssen der bisher vorherrschenden Debattenkultur, spielt eine Rolle: Für viele Ägypter geht es hier ums Ganze, darum, die Revolution zu Ende zu bringen, und ein Wiedererstarken des alten Regimes oder das Entstehen einer neuen Militärdiktatur zu verhindern. Kein Wunder also, dass die Twitter-Hashtags #egypt und #dostor2011 (dostor = Verfassung) förmlich explodieren und die Menschen schon seit der Öffnung der Wahllokale um 8 Uhr in allen Stadtteilen Kairos in Massen zu den Urnen pilgern, so dass BBC – einem vom Militär angekündigten aber weitgehend ignorierten Medien-Bann zum Trotz - bereits um die Mittagszeit von einer hohen Wahllbeteiligung sprechen kann.
Die vom potentiellen Präsidentschaftskandidaten Mohammed El Baradei als “Einzelheiten” bezeichneten Verfassungsänderungen waren von einem durch den Militärrat eingesetzten Komitee unter der Leitung des angesehenen Richters Tareq al-Bishri ausgearbeitet worden und wurden am 26.Februar 2011 offiziell bekannt gegeben.
Zehn Artikel der 1971 in Kraft getretenen Verfassung sind von den vorgeschlagenen Änderungen betroffen, sie regulieren vor allem diverse Aspekte der Präsidentschafts-Kandidatur sowie der Verfassungsgebung und können im heutigen Referendum lediglich en bloc angenommen oder abgelehnt werden.
Mit den vorgeschlagenen Änderungen verkürzte sich die Amtsperiode des Präsidenten von sechs auf vier Jahre, die Amtszeiten würden auf zwei begrenzt – bis dato kann die Wiederwahl beliebig oft erfolgen, Mubarak beispielsweise hätte im Herbst die 5. Amtszeit beendet (Art.77). Die Kandidatur würde erheblich erleichtert, während bisher die Zustimmung des fast ausnahmslos mit NDP-Mitgliedern besetzten Parlaments für eine Kandidatur nötig war, könnte die Nominierung dann auf mehreren Wegen erfolgen: ein potentieller Präsidentschaftskandidat müsste 30 000 Unterschriften aus mindestens 15 Provinzen sammeln, oder von 30 Mitgliedern einer der beiden Kammern des Parlaments - also des Oberhauses „Shura“ oder des Unterhauses „Maglis al-Shaab“ - unterstützt oder von einer Partei, die mindestens einen Sitz im Parlament hält, nominiert werden. Des weiteren würde der Präsident im neuen Artikel 139 verpflichtet, einen Stellvertreter zu ernennen. Artikel 88 stellte die von Mubarak abgeschaffte vollständige richterliche Überwachung der Wahlen wieder her. Die Verhängung des mittlerweile seit mehr als 30 Jahren bestehenden Notstandes würde mit den Änderungen von Art 148 zukünftig erschwert. Das Inkraftsetzen des Notstandsgesetzes durch den Präsidenten bedürfte zukünftig der Zustimmung des Parlaments, wäre auf eine Dauer von sechs Monaten begrenzt, eine Verlängerung über diesen Zeitraum hinaus könnte nur nach Zustimmung der Bevölkerung in einem Referendum erfolgen.
Weitere Artikel betreffen die Staatsbürgerschaft des Präsidenten (Art.75) und die Gültigkeit eines Parlamentssitzes bzw. dessen Bestätigung durch den Obersten Gerichtshof (Art 93). Artikel 179, bekannt (und berüchtigt) als Anti-Terror-Artikel wird ersatzlos gestrichen.
Die vorgeschlagenen Ergänzungen des Artikels 189 schließlich regeln das Zustandekommen einer neuen Verfassung: bei Inkrafttreten der Änderungen könnten der Präsident oder ein Quorum aus je 50% der Shura und des Parlaments eine neue Verfassung fordern. Ein Gremium aus 100 Mitgliedern, die größtenteils zu bestimmen sind durch Shura und Parlament, würde beauftragt, innerhalb von sechs Monaten eine neue Verfassung vorzuschlagen. Der Verfassungstext wäre dann vom Präsidenten binnen 15 Tagen dem Volk in einem Referendum zur Abstimmung vorzulegen, und träte mit der Zustimmung des Volkes sofort in Kraft.
Nahezu allen Gegnern der Verfassungsänderung gehen die Vorschläge nicht weit genug, da vor allem die Machtfülle des Präsidenten und der Exekutive insgesamt unangetastet bleiben. Nicht wenige fordern eine gänzlich neue Verfassung, und monieren, dass die jetzige Verfassung mit der Revolution und dem Aussetzen der Verfassung durch den Militärrat bei der Machtübernahme am 12.Februar 2011 null und nichtig geworden sei.
Mehr noch als um die konkreten Inhalte der Änderungsvorschläge geht es um den Zeitplan, der mit einer Zustimmung bzw. Ablehnung verknüpft ist. Das Militär hat bekannt gegeben, nach Annahme der Änderungen im Juni Parlaments- und im September Präsidentschaftswahlen abhalten zu wollen. Viele Oppositionspolitiker, potentielle Präsidentschaftskandidaten, Angehörige der revolutionären Jugend und daraus entstandener Koalitionen sowie politisch Aktive und Meinungsmacher jedoch halten diesen Zeitplan für übereilt. Gerade Parlamentswahlen in wenigen Monaten ließen nicht ausreichend Zeit für die Formierung und Etablierung neuer Parteien, die Zusammensetzung des nächsten Parlaments sei dementsprechend absehbar: Muslimbrüder und die Nationaldemokratische Partei NDP, die Partei des alten Regimes, würden die Mehrheit der Sitze erobern, schließlich sind sie die einzigen, die auf eine Organisationsstruktur zurückgreifen können, die es ihnen erlaubt auch auf dem Land und in allen Gesellschaftsschichten Wahlkampagnen durchzuführen und zu mobilisieren. Die für erfolgreichen Wahlkampf nötige Infrastruktur, bestehend auch aus ausreichender Finanzierung, einem politisch griffigen und kommunizierbaren Programm, sowie einem Netz an Helfern und der nötigen „Publicity“, letztlich Sichtbarkeit, müssen sich gerade diejenigen, die maßgeblich am Sturz des Mubarak-Regimes beteiligt waren erst aufbauen.
Wenig verwunderlich sind daher die Frontlinien zwischen den kollektiven Akteuren und etablierten Politikern: die Verfassungsänderung und der damit verknüpfte Fahrplan für die weitere Entwicklung werden abgelehnt von den ehemaligen Oppositionsparteien wie al-Ghad, al-Wafd, den Nasseristen, der Demokratischen Front Partei und der Tagammu Partei. Auch die Koalition der revolutionären Jugend des 25.Januar, sowie die mit El Baradei verbundene Nationale Vereinigung für Wandel werben für ein Nein, auf Arabisch „la“. Auch der andere prominente, und bei vielen Ägyptern sehr beliebte, potentielle Präsidentschaftskandidat Amr Moussa lehnt die Änderungen ab.
Zur Zustimmung, dem „Na'am“ hingegen rufen auf die Salafisten, Reste der NDP, und die Muslimbrüder. Mitglieder des Reform-Flügels der Brüder scherten jedoch gestern aus der Linie der Organisation aus und riefen zu einem Nein auf. Die am 19.Februar zugelassene al-Wasat-Partei hingegen stimmt nach Aussagen ihres Gründers den Änderungen zu. Auch wenn Abu EL Ela Madi für ein JA im Referendum plädiert, lehnt er jedoch baldige Parlamentswahlen ab, da selbst die al-Wasat-Partei, die sich seit 15 Jahren um die Zulassung bemüht hatte, und sozusagen schon vor der Revolution in den Startlöchern stand, nicht dafür bereit sei, jetzt in politischen Wettstreit zu treten.
Die ägyptische Debatten in Zeitungen, Onlineforen, Mailinglisten, Facebook, der Straße, den Moscheen und für Ägypten auch sehr wichtigen abendlichen Polit-Talk Shows, waren zum Teil geprägt von Überforderung und Ahnungslosigkeit, resultierend aus der in Jahrzehnten erzwungenen und kultivierten politischen Unmündigkeit, aber auch aus der Informationspolitik des Militärrats. Die oben bereits angesprochene Dramatisierung, das heißt eine extreme Abwertung der gegnerischen Position, konnte beobachtet werden. Zugleich wurde aber immer wieder auch beschworen, man solle einem „demokratischen Geist“ folgen, der dem zuwiderlaufe. Damit verknüpft wird der Appell, Abschied zu nehmen von einer Debattenkultur, in der der politische Gegner verdächtigt wird, im Bunde mit dem Teufel zu stehen und überdies ein Vaterlandsverräter zu sein. Die Instrumentalisierung von Religion wurde dokumentiert und öffentlich kritisiert. So sahen sich die Muslim Brüder gezwungen, sich von ihrer Werbung zu distanzieren, die ein Ja als religiöse Pflicht verkaufte.
Unabhängig von Parteizugehörigkeit lässt sich die Tendenz beobachten: wer sich nach Ruhe und Stabilität sehnt, stimmt JA. Auch wenn Stabilität sicher nicht das originäre Ziel der Revolution war, lässt sich hier jedoch keine klare Frontlinie zwischen Revolutionären und Konter-Revolutionären ausmachen. Letztlich verlaufen die Konfliktlinien nicht eindeutig, also nicht jung gegen alt, arm gegen reich, Männer gegen Frauen. So finden sich unter den Befürwortern auch diejenigen, die das Entstehen einer Militärdiktatur fürchten, und vor einem libyschen Szenario warnen. Von der Annahme der Verfassungsänderung und baldigen Wahlen versprechen sie sich die schnellstmögliche Rückkehr zu einer zivilen Herrschaft, bevor das Militär sozusagen „auf den Geschmack“ kommt.
Andere wiederum stimmen für Ja, weil die Gegner der Verfassungsänderung angeblich alle eine säkulare Verfassung, also die Abschaffung des Islam, wollten. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass diejenigen, die ein säkulare Verfassung möchten, die Änderungen mehrheitlich ablehnen. Wie bereitwillig manche Menschen aber solch eine kategorische Ineinssetzung von NEIN und Islam-Feindlichkeit glauben, zeigt, welch große Herausforderung nun vor einer Bevölkerung liegt, deren Denken von 30 Jahren Diktatur und einem katastrophal versagenden Bildungssystem geprägt ist. In diesem Sinne gilt es, der Interpretation vieler Ägypter zu folgen: gleich, was das Ergebnis des Referendums sein mag, allein dass die Abstimmung stattfindet, friedlich verläuft und eine immense Beteiligung erfährt, die alle Erwartungen übertrifft und auch die logistischen Kapazitäten der Wahllokale sprengt, ist ein erstes für jeden greifbares Resultat der Revolution. Und um mit den hoffnungsvollen Worten eines Ägypters zu schließen: "We are not used to democracy, but that doesnt mean we are not ready for it."
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