Ein Beitrag von Christoph Borgans aus Kairo
Beim Referendum machen sich die Ägypter gern die Hände schmutzig, denn jetzt geht es ums Ganze. 77,2 Prozent stimmten für Verfassungsänderungen – viele der Revolutionäre vom Tahrir-Platz aber sind vom Ergebnis enttäuscht.
»Oh Gott, wie lang ist denn diese Schlange?«, fragt ein gut gekleideter Ägypter, der seine Frau am Arm führt. Schon um 9 Uhr, eine Stunde nach Beginn des Referendums, sind die beiden zur Maadi Canal School in Kairos altem Villenviertel gekommen. »Ungefähr vier Kilometer«, scherzt ein schnauzbärtiger Mittzwanziger, der es in der Schlange immerhin schon um die erste Kurve geschafft hat. Zwei Kurven und mehrere Hundert Menschen hat er noch vor sich, bis er seinen Ausweis vorzeigen und sein Kreuz bei »Ja zur Verfassungsreform« oder »Nein« machen darf.
Damit er nicht mehrmals wählt, wird man ihm einen Finger rot färben und wenn er zu den rund 40 Prozent Analphabeten gehört, die sich nicht in die Wahlliste eintragen können, wird er auch mit einem blauen Daumen aus der Schule treten. Er wird seine bunten Finger allen Freunden zeigen und sie bitten, Fotos davon zu machen – als Erinnerung an die erste freie Wahl seines Lebens.
Acht Artikel geändert
Nur 36 Tage nach dem Sturz des ägyptischen Diktators darf sich jeder Ägypter über 18 Jahre – sofern er nicht der Polizei angehört, Offizier des Militärs oder Richter ist – entscheiden, ob er den Änderungen an der Verfassung zustimmt, die eine zehnköpfige Kommission im Auftrag des regierenden Militärrats erarbeitet hat. Der Vorschlag der Kommission umfasst acht Artikel, über die en bloc mit der restlichen Verfassung abgestimmt wird, und deren wichtigste Änderung die Legislaturperiode des Präsidenten in Artikel 77 betrifft.
Diese wird von sechs auf vier Jahre verkürzt und die maximale Amtszeit auf acht Jahre beschränkt. Eine Kandidatur durch unabhängige Kandidaten, die zuvor praktisch unmöglich war, benötigt nur noch 30 Unterschriften von Mitgliedern des Parlaments oder von Wahlberechtigten 30.000 (Artikel 76). Alle Kandidaten für das Präsidentenamt und deren Eltern müssen ägyptische Staatsbürger sein, auch eine doppelte Staatsbürgerschaft ist ausgeschlossen. Ebenso darf nicht antreten, wer mit einer Nichtägypterin verheiratet ist (Artikel 75).
Die Wahlen selbst sollen zukünftig wieder – wie vor 2007 – von der Jurisdiktion überwacht werden (Artikel 88) und eine als unzulässig erklärte Mitgliedschaft in der Ägyptischen Volksversammlung kann nicht mehr von dieser selbst aufgehoben werden (Artikel 93). Der neu gewählte Präsident muss einen Stellvertreter ernennen (Artikel 139) und sein Recht, den Ausnahmezustand zu verhängen, wird durch die Ägyptischen Volksversammlung stark eingeschränkt. Wollte der nächste Präsident, so wie es Mubarak 30 Jahre lang getan hat, im Ausnahmezustand regieren, müsste er nach sechs Monaten das Volk in einem Referendum dazu befragen (Artikel 148). Auch der Anti-Terror Paragraph 179, der es dem Präsidenten seit 2007 erlaubte, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen, würde bei einem »Ja« aus der Verfassung verschwinden.
»Das Volk will eine neue Verfassung!«
Doch diese Schritte Richtung Demokratie gehen vielen Ägyptern nicht weit genug. »Ich will wirklich eine neue Verfassung. Nicht nur eine, die man notdürftig geflickt hat«, sagt eine junge Studentin in Jeansrock und marineblauem Kopftuch. Sie hat gerade in Maadi mit »Nein« gestimmt, so wie es auch eine Reihe berühmter Persönlichkeiten, unter ihnen die Präsidentschaftskandidaten Mohamed El-Baradei und Amr Musa, in Zeitungsanzeigen und Youtube-Videos gefordert hatten. Aber gibt es denn keine Chance auf eine Demokratie, wenn die Ägypter für die Reform stimmen? »Nein, natürlich nicht«, sagt sie, greift mit der Hand nach dem Kopftuchzipfel, den ihr der Wind vors Gesicht geweht hat und hebt ein wenig den Kopf. Man soll sehen, wie selbstsicher sie lächelt.
»Inta masri, irfa´ ra`sak fauq – Du bist Ägypter, also erhebe deine Haupt!« lautet ein beliebter Slogan der Revolution, der am Freitag vor der Abstimmung wieder auf dem Tahrir Platz zu hören war. Tausende hatten sich dort versammelt, um den ersten echten Wahlkampf in der ägyptischen Geschichte zu betreiben. Nicht für eine Person, für den Wahlgang an sich und für ein Wort: »La –Nein«.
Während ein Kairener Künstler im weißen Anzug mit dicken Pinselstrichen ein rotes »La« nach dem anderen auf die Blätter malt, die man ihm reicht, hat auf einer der zahlreichen Bühnen ein alter Mann ein Mikrofon ergriffen. Seine Stimme überschlägt sich, als er zu sprechen beginnt, die Lautsprecher knacken: »Es hat in der Geschichte viele Revolutionen gegeben. In China, in Deutschland, überall auf der Welt. Aber immer wenn es dem Volk nicht gelungen ist, eine neue Verfassung zu erwirken, sind die Revolutionen gescheitert!« Die Masse jubelt und skandiert: »Das Volk will eine neue Verfassung!« Das ist ihre Angst. Jetzt die historische Chance zu verspielen.
Muslimbruderschaft will keine Mehrheit
»Wir müssen sicherstellen, dass der nächste Schritt, ein ganzer Schritt ist und nicht nur eine halbe Sache. Wir wollen das ganze System ändern und von Grund auf neu beginnen«, sagt Muhsin Al-Aschmuni, der auch in der Maadi Canal School abstimmt. Wie viele Ägypter befürchtet er außerdem, dass bis zur Wahl im Juni nur die Reste der NDP und der Muslimbrüder über die nötige Infrastruktur verfügen, um gewählt zu werden: »Ich habe Angst, dass sie den Staat übernehmen.«
Offiziell hört man von den Muslimbrüdern, dass sie nur in 40 Prozent der Wahlbezirke antreten wollen und »keine Mehrheit anstreben«, wie die Zeitung Al-Ahram den Pressesprecher Essam El-Erian zitiert. Doch auch wenn die Muslimbrüder nur die angestrebten 35 bis 40 Prozent erringen würden, fehlte es den anderen Gruppen, allen voran der »Revolutionsjugend vom 25. Januar«, an Parteistrukturen, -programmen und Führungsfiguren.
Das Problem sehen viele der Referendumsgegner vor allem darin, dass das neu gewählte Parlament laut Artikel 189 der geänderten Verfassung innerhalb von sechs Monaten eine verfassungsgebende Versammlung einberufen muss. Eine geringe Vertretung im Parlament würde vermutlich auch eine unzureichende Vertretung der revolutionären Ideen in der neuen Verfassung bedeuten.
Schon einmal haben die Ägypter das Militär nicht abdanken lassen
Die Verfassung könne man aber doch später nochmals ändern und auch, wenn die jungen Leute natürlich jetzt noch keine Partei hätten, bedeute das ja nicht, dass man sie nicht beim nächsten Mal wählen könnte, heißt es von den Befürwortern des Referendums. »Wir können nicht warten, bis die Kinder groß sind«, sagt ein Professor der Al-Azhar-Universität, der zum ersten Mal in seinem Leben zur Wahl geht. Für ihn drängt die Zeit, denn »das Militär will jetzt die Macht abgeben, also sollten wir sie auch nehmen.«
Schon einmal hätten sich die Ägypter geweigert, das Militär gehen zu lassen, sagt er in Anspielung auf den 25. März 1954, als die Militärregierung der Juli-Revolution ihre Macht an Zivilisten übertragen wollte und von den protestierenden Massen daran gehindert wurde. Die Angst vor einer zivilen Regierung und demokratischer Verantwortung führte zu einer Militärdiktatur, die erst vor knapp einem Monat endete.
Auch wenn das Militär zurzeit noch ausdrücklich erklärt, an der Macht nicht interessiert zu sein, kann niemand sagen, wie das in einem Jahr sein wird. Vor einer gewählten Regierung hingegen habe man nichts zu befürchten: »Die Menschen haben jetzt keine Angst mehr. Sie werden einfach wieder auf die Straße gehen, wenn sich die neue Regierung nicht so verhält, wie sie es wollen.«
Viele möchten sobald wie möglich stabile Verhältnisse
»Wichtig ist jetzt vor allem Stabilität«, sagt Ali Ahmad Gabir, der mittags in der Talat Harb Schule in Downtown erschienen ist und im Smart Village, Kairos IT-Standort Nr. 1, arbeitet. Während einige seiner Altersgenossen Jeans und ein großes »La« auf dem T-Shirt tragen, hat er als einziger auf dem Schulhof Krawatte und einen schwarzen Anzug an, was bei seinem jungen Gesicht ein wenig wie eine Schuluniform wirkt. Die unsichere Situation ohne Präsident und Verfassung möchte er bald hinter sich wissen.
Ein paar Straßen weiter in einer islamischen Schule stützt ein Wahlhelfer einen Mann, der dreimal so alt ist wie Ali Ahmad, beim Weg zum Wahllokal. Auch Ali Mursi, der Rentner und frühere Autolackierer, wird »Ja« sagen, denn es soll endlich weitergehen mit Ägypten. Viele hätten ihre Arbeit verloren. Man dürfe nicht in diesem Zustand ohne Verfassung stehen bleiben. Dass er bei der Abstimmung wegen seines Alters vorgelassen wurde, freut ihn. Wie in allen Wahllokalen gibt es auch hier extra eine Schlange für Frauen, die getrennt stehen wollen, und eine für die über 55-Jährige. Die Schlange der Frauen ist meist um ein Drittel kürzer, die der Alten kaum erwähnenswert – zu jung ist die ägyptische Bevölkerung.
Ein Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie?
»Das man so ordentlich in der Schlange ansteht, hat es vorher nicht gegeben«, sagt Muhsin Al-Aschmuni bereits morgens früh in Maadi. »Die Wahlen sind endlich frei und sauber«, meint Ahmed Ali Gabir, während er sich mittags den Staub vom Hof der Talat Harb Schule vom Anzug streift. Für viele gilt, was Mohamed el-Lesai, ein junger Mann mit dünnem schwarzen Bart und kurzen krausen Haaren sagt: »Ich habe jede Minute in der Schlange genossen.« Er lächelt dabei so rückhaltlos fröhlich, dass alle umstehenden grinsen müssen. »Und außerdem: Auch wenn ich gegen die Änderung bin. Ich vertraue darauf, was das Volk will. Das ist eben Demokratie!«
Auch als die Sonne um halb sieben untergeht, ist das Volk noch dabei, seinen Willen auszudrücken. In Imbaba, einem von Kairos Arbeitervierteln, stehen lange Schlangen vor den Wahllokalen. Geordnet und ruhig wartet man, um sich einen oder mehrere Finger färben zu dürfen und diskutiert derweil ohne Scheu über »Ja« oder »Nein«. Über notwendige Stabilität und eine revolutionäre Bewegung, die Blut geleckt hat, über die Ziele der Revolution und ängstliche Kompromisse. Rund 24 Stunden später wird man wissen, dass die Stabilität mit 77,2 Prozent »Ja«-Stimmen gewonnen hat. Ob dieses Ergebnis ein Meilenstein ist auf dem Weg in eine ägyptische Demokratie ist, wird sich zeigen. Die Tatsache, dass 14,1 Millionen der 45 Millionen Wahlberechtigten stundenlang in Schlangen anstanden, um zum ersten Mal in ihrem Leben an freien Wahlen teilzunehmen, ist sicherlich einer.
Beim Referendum machen sich die Ägypter gern die Hände schmutzig, denn jetzt geht es ums Ganze. 77,2 Prozent stimmten für Verfassungsänderungen – viele der Revolutionäre vom Tahrir-Platz aber sind vom Ergebnis enttäuscht.
»Oh Gott, wie lang ist denn diese Schlange?«, fragt ein gut gekleideter Ägypter, der seine Frau am Arm führt. Schon um 9 Uhr, eine Stunde nach Beginn des Referendums, sind die beiden zur Maadi Canal School in Kairos altem Villenviertel gekommen. »Ungefähr vier Kilometer«, scherzt ein schnauzbärtiger Mittzwanziger, der es in der Schlange immerhin schon um die erste Kurve geschafft hat. Zwei Kurven und mehrere Hundert Menschen hat er noch vor sich, bis er seinen Ausweis vorzeigen und sein Kreuz bei »Ja zur Verfassungsreform« oder »Nein« machen darf.
Damit er nicht mehrmals wählt, wird man ihm einen Finger rot färben und wenn er zu den rund 40 Prozent Analphabeten gehört, die sich nicht in die Wahlliste eintragen können, wird er auch mit einem blauen Daumen aus der Schule treten. Er wird seine bunten Finger allen Freunden zeigen und sie bitten, Fotos davon zu machen – als Erinnerung an die erste freie Wahl seines Lebens.
Acht Artikel geändert
Nur 36 Tage nach dem Sturz des ägyptischen Diktators darf sich jeder Ägypter über 18 Jahre – sofern er nicht der Polizei angehört, Offizier des Militärs oder Richter ist – entscheiden, ob er den Änderungen an der Verfassung zustimmt, die eine zehnköpfige Kommission im Auftrag des regierenden Militärrats erarbeitet hat. Der Vorschlag der Kommission umfasst acht Artikel, über die en bloc mit der restlichen Verfassung abgestimmt wird, und deren wichtigste Änderung die Legislaturperiode des Präsidenten in Artikel 77 betrifft.
„Ohne eine neue Verfassung wird es kein neues Ägypten geben!“ sagt diese Frau, die in Maadi für „Nein“ gestimmt hat. |
Diese wird von sechs auf vier Jahre verkürzt und die maximale Amtszeit auf acht Jahre beschränkt. Eine Kandidatur durch unabhängige Kandidaten, die zuvor praktisch unmöglich war, benötigt nur noch 30 Unterschriften von Mitgliedern des Parlaments oder von Wahlberechtigten 30.000 (Artikel 76). Alle Kandidaten für das Präsidentenamt und deren Eltern müssen ägyptische Staatsbürger sein, auch eine doppelte Staatsbürgerschaft ist ausgeschlossen. Ebenso darf nicht antreten, wer mit einer Nichtägypterin verheiratet ist (Artikel 75).
Die Wahlen selbst sollen zukünftig wieder – wie vor 2007 – von der Jurisdiktion überwacht werden (Artikel 88) und eine als unzulässig erklärte Mitgliedschaft in der Ägyptischen Volksversammlung kann nicht mehr von dieser selbst aufgehoben werden (Artikel 93). Der neu gewählte Präsident muss einen Stellvertreter ernennen (Artikel 139) und sein Recht, den Ausnahmezustand zu verhängen, wird durch die Ägyptischen Volksversammlung stark eingeschränkt. Wollte der nächste Präsident, so wie es Mubarak 30 Jahre lang getan hat, im Ausnahmezustand regieren, müsste er nach sechs Monaten das Volk in einem Referendum dazu befragen (Artikel 148). Auch der Anti-Terror Paragraph 179, der es dem Präsidenten seit 2007 erlaubte, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen, würde bei einem »Ja« aus der Verfassung verschwinden.
„Inta masri, irfa´ rasak fo – Du bist Ägypter, also erhebe deine Haupt!“ |
»Das Volk will eine neue Verfassung!«
Doch diese Schritte Richtung Demokratie gehen vielen Ägyptern nicht weit genug. »Ich will wirklich eine neue Verfassung. Nicht nur eine, die man notdürftig geflickt hat«, sagt eine junge Studentin in Jeansrock und marineblauem Kopftuch. Sie hat gerade in Maadi mit »Nein« gestimmt, so wie es auch eine Reihe berühmter Persönlichkeiten, unter ihnen die Präsidentschaftskandidaten Mohamed El-Baradei und Amr Musa, in Zeitungsanzeigen und Youtube-Videos gefordert hatten. Aber gibt es denn keine Chance auf eine Demokratie, wenn die Ägypter für die Reform stimmen? »Nein, natürlich nicht«, sagt sie, greift mit der Hand nach dem Kopftuchzipfel, den ihr der Wind vors Gesicht geweht hat und hebt ein wenig den Kopf. Man soll sehen, wie selbstsicher sie lächelt.
»Inta masri, irfa´ ra`sak fauq – Du bist Ägypter, also erhebe deine Haupt!« lautet ein beliebter Slogan der Revolution, der am Freitag vor der Abstimmung wieder auf dem Tahrir Platz zu hören war. Tausende hatten sich dort versammelt, um den ersten echten Wahlkampf in der ägyptischen Geschichte zu betreiben. Nicht für eine Person, für den Wahlgang an sich und für ein Wort: »La –Nein«.
Auf dem Tahrir-Platz demonstrierten und warben Tausende für das „Nein“ – dennoch haben 77,2 % für „Ja“ gestimmt. |
Während ein Kairener Künstler im weißen Anzug mit dicken Pinselstrichen ein rotes »La« nach dem anderen auf die Blätter malt, die man ihm reicht, hat auf einer der zahlreichen Bühnen ein alter Mann ein Mikrofon ergriffen. Seine Stimme überschlägt sich, als er zu sprechen beginnt, die Lautsprecher knacken: »Es hat in der Geschichte viele Revolutionen gegeben. In China, in Deutschland, überall auf der Welt. Aber immer wenn es dem Volk nicht gelungen ist, eine neue Verfassung zu erwirken, sind die Revolutionen gescheitert!« Die Masse jubelt und skandiert: »Das Volk will eine neue Verfassung!« Das ist ihre Angst. Jetzt die historische Chance zu verspielen.
Ein „La“ ist schnell geschrieben. Wer noch kein Plakat hat, lässt sich vor Ort eines malen. |
Muslimbruderschaft will keine Mehrheit
»Wir müssen sicherstellen, dass der nächste Schritt, ein ganzer Schritt ist und nicht nur eine halbe Sache. Wir wollen das ganze System ändern und von Grund auf neu beginnen«, sagt Muhsin Al-Aschmuni, der auch in der Maadi Canal School abstimmt. Wie viele Ägypter befürchtet er außerdem, dass bis zur Wahl im Juni nur die Reste der NDP und der Muslimbrüder über die nötige Infrastruktur verfügen, um gewählt zu werden: »Ich habe Angst, dass sie den Staat übernehmen.«
Offiziell hört man von den Muslimbrüdern, dass sie nur in 40 Prozent der Wahlbezirke antreten wollen und »keine Mehrheit anstreben«, wie die Zeitung Al-Ahram den Pressesprecher Essam El-Erian zitiert. Doch auch wenn die Muslimbrüder nur die angestrebten 35 bis 40 Prozent erringen würden, fehlte es den anderen Gruppen, allen voran der »Revolutionsjugend vom 25. Januar«, an Parteistrukturen, -programmen und Führungsfiguren.
Das Problem sehen viele der Referendumsgegner vor allem darin, dass das neu gewählte Parlament laut Artikel 189 der geänderten Verfassung innerhalb von sechs Monaten eine verfassungsgebende Versammlung einberufen muss. Eine geringe Vertretung im Parlament würde vermutlich auch eine unzureichende Vertretung der revolutionären Ideen in der neuen Verfassung bedeuten.
Schon einmal haben die Ägypter das Militär nicht abdanken lassen
Die Verfassung könne man aber doch später nochmals ändern und auch, wenn die jungen Leute natürlich jetzt noch keine Partei hätten, bedeute das ja nicht, dass man sie nicht beim nächsten Mal wählen könnte, heißt es von den Befürwortern des Referendums. »Wir können nicht warten, bis die Kinder groß sind«, sagt ein Professor der Al-Azhar-Universität, der zum ersten Mal in seinem Leben zur Wahl geht. Für ihn drängt die Zeit, denn »das Militär will jetzt die Macht abgeben, also sollten wir sie auch nehmen.«
Der Wahlkampf geht am Freitag bis spät in die Nacht. Eine junge Frau versucht Passanten in Down Town vom „Nein“ zu überzeugen. |
Schon einmal hätten sich die Ägypter geweigert, das Militär gehen zu lassen, sagt er in Anspielung auf den 25. März 1954, als die Militärregierung der Juli-Revolution ihre Macht an Zivilisten übertragen wollte und von den protestierenden Massen daran gehindert wurde. Die Angst vor einer zivilen Regierung und demokratischer Verantwortung führte zu einer Militärdiktatur, die erst vor knapp einem Monat endete.
Auch wenn das Militär zurzeit noch ausdrücklich erklärt, an der Macht nicht interessiert zu sein, kann niemand sagen, wie das in einem Jahr sein wird. Vor einer gewählten Regierung hingegen habe man nichts zu befürchten: »Die Menschen haben jetzt keine Angst mehr. Sie werden einfach wieder auf die Straße gehen, wenn sich die neue Regierung nicht so verhält, wie sie es wollen.«
Viele möchten sobald wie möglich stabile Verhältnisse
»Wichtig ist jetzt vor allem Stabilität«, sagt Ali Ahmad Gabir, der mittags in der Talat Harb Schule in Downtown erschienen ist und im Smart Village, Kairos IT-Standort Nr. 1, arbeitet. Während einige seiner Altersgenossen Jeans und ein großes »La« auf dem T-Shirt tragen, hat er als einziger auf dem Schulhof Krawatte und einen schwarzen Anzug an, was bei seinem jungen Gesicht ein wenig wie eine Schuluniform wirkt. Die unsichere Situation ohne Präsident und Verfassung möchte er bald hinter sich wissen.
Nicht nur die verwestlichte Jugend nimmt an den Protesten teil. Auf dem Plakat steht im südägyptischen Dialekt: Jeder freie Mann wird „Nein“ sagen! |
Ein paar Straßen weiter in einer islamischen Schule stützt ein Wahlhelfer einen Mann, der dreimal so alt ist wie Ali Ahmad, beim Weg zum Wahllokal. Auch Ali Mursi, der Rentner und frühere Autolackierer, wird »Ja« sagen, denn es soll endlich weitergehen mit Ägypten. Viele hätten ihre Arbeit verloren. Man dürfe nicht in diesem Zustand ohne Verfassung stehen bleiben. Dass er bei der Abstimmung wegen seines Alters vorgelassen wurde, freut ihn. Wie in allen Wahllokalen gibt es auch hier extra eine Schlange für Frauen, die getrennt stehen wollen, und eine für die über 55-Jährige. Die Schlange der Frauen ist meist um ein Drittel kürzer, die der Alten kaum erwähnenswert – zu jung ist die ägyptische Bevölkerung.
Ein Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie?
»Das man so ordentlich in der Schlange ansteht, hat es vorher nicht gegeben«, sagt Muhsin Al-Aschmuni bereits morgens früh in Maadi. »Die Wahlen sind endlich frei und sauber«, meint Ahmed Ali Gabir, während er sich mittags den Staub vom Hof der Talat Harb Schule vom Anzug streift. Für viele gilt, was Mohamed el-Lesai, ein junger Mann mit dünnem schwarzen Bart und kurzen krausen Haaren sagt: »Ich habe jede Minute in der Schlange genossen.« Er lächelt dabei so rückhaltlos fröhlich, dass alle umstehenden grinsen müssen. »Und außerdem: Auch wenn ich gegen die Änderung bin. Ich vertraue darauf, was das Volk will. Das ist eben Demokratie!«
Mohamed el-Lesai und Muhsin AL-Aschmuni haben sich sogar zwei Finger färben lassen. In der langen Warteschlange haben sie „jede Minute genossen“. |
Auch als die Sonne um halb sieben untergeht, ist das Volk noch dabei, seinen Willen auszudrücken. In Imbaba, einem von Kairos Arbeitervierteln, stehen lange Schlangen vor den Wahllokalen. Geordnet und ruhig wartet man, um sich einen oder mehrere Finger färben zu dürfen und diskutiert derweil ohne Scheu über »Ja« oder »Nein«. Über notwendige Stabilität und eine revolutionäre Bewegung, die Blut geleckt hat, über die Ziele der Revolution und ängstliche Kompromisse. Rund 24 Stunden später wird man wissen, dass die Stabilität mit 77,2 Prozent »Ja«-Stimmen gewonnen hat. Ob dieses Ergebnis ein Meilenstein ist auf dem Weg in eine ägyptische Demokratie ist, wird sich zeigen. Die Tatsache, dass 14,1 Millionen der 45 Millionen Wahlberechtigten stundenlang in Schlangen anstanden, um zum ersten Mal in ihrem Leben an freien Wahlen teilzunehmen, ist sicherlich einer.
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