Donnerstag, 8. Januar 2009

Blut und Spiele: Aschura in Nabatiyeh

Zehn Tage lang erinnern Schiiten jährlich an das Martyrium des Prophetenenkels Hussein, aber der 10. und letzte Tag, Aschura, ist wohl der bekannteste und sichtbarste Ausdruck schiitischer Religiösität und Identität. In den vergangenen neun Tagen versammelten sich schiitische Familien zumeist im Familienkreis oder im örtlichen Versammlungszentrum, um den emotional vorgetragenden Lesungen spezialisierter Rezitatoren zu lauschen. Am Aschura-Tag schließlich gedenkt man der Entscheidungsschlacht von Kerbela, und lässt das Martyrium Husseins in verschiedenster Form wieder aufleben.

Bereits vor 2 Jahren erlebten wir die Aschura-Parade in Südbeirut aus erster Hand. Organisation und inhaltliche Ausrichtung liegen hier fest in Händen Hizbullahs. Fester Bestandteil und Höhepunkt ist zweifelsohne die Festrede ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah, der dieses Jahr jedoch nur per Video zugeschaltet wird.

Doch die hochpolitisierte Veranstaltung in Dahyie hat nicht das Monopol auf die Aschura-Feierlichkeiten. Die größte südlibanesische Stadt, Nabatiyeh, bietet eine ganz eigene, lokal sehr verwurzelte Variante des Festes, die sich teilweise fundamental von Südbeirut unterscheidet.

Sichtbar wird das vor allem in der praktizierten Selbstgeißelung. Die ist in der Hauptstadt seit Mitte der 90er Jahre, als sowohl Ali Khamenei, als auch Muhammad Hussein Fadlallah eine entsprechende Fatwa erließen, verpönt. Die blutige Flagellation war und ist ein Vorwurf von sunnitischer Seite, dem man so zu begegnen suchte. In Nabatiyeh hingegen hält sich diese Tradition hartnäckig und wird besonders von der jungen Generation weiter am Leben erhalten.

Es sind vor allem Kinder, die sich um 8 Uhr morgens im Vorraum der zentralen Moschee versammeln und sich inmitten des hektischen Treibens auf die Prozession vorbereiten. Ein paar Friseure stehen mit einer Rasierklinge bereit und die Jungen stehen an, um durch einen gezielten "Anstich" das Blut fließen zu lassen. Ist das vollbracht, posieren die sichtlich stolzen Eltern mit ihren Jüngsten für ein Familienfoto, danach eilen die Jungs zu ihren Freunden und schlagen sich eher ausgelassen als andächtig auf den Kopf - ganz klar ist es für sie auch eine Mutprobe, die sie bestanden haben.

Um etwa 10 Uhr füllt sich der große Platz neben der Moschee, der wohl eigentlich als Fußballstadion genutzt wird, merklich und wir warten gespannt auf den ersten größeren Höhepunkt - die Theateraufführung. Diese im Iran des 16. Jahrhunderts entwickelte Tradition sucht man in Beirut vergebens - nur in Nabatiyeh ist sie im heutigen Libanon noch Bestandteil des Aschura-Tages. Leider wird nicht der Acker von Spielfeld, der sich hervorragend als Wüste bei Kerbela eignen würde, verwendet, sondern eine extra aufgebaute, dahinterstehende Bühnenkonstruktion, die jedoch viel zu weit entfernt steht. So kann ich die Bewegungen der Schauspieler, von denen übrigens einige Christen sind, nur erahnen und muss mich ansonsten an die Lautsprecherübertragung der Stimmen halten, begleitet von Musik, die mich an moumentale Bibelverfilmungen erinnern.

Nach etwa einer Stunde schließlich endet die Aufführung und die Masse der Zuschauer, Frauen zumeist, strömen an den Straßenrand und verfolgen die Prozession der Flagellanten. Diese umkreisen in mehreren Gruppen den Aufführungsplatz, einige von ihnen schon seit den frühen Morgenstunden. Die jungen Männer wiederholen rhythmisch "Haidar" (Löwe), den Spitznamen Husseins und schlagen sich dabei immer wieder auf den Kopf, manche mit der Hand, viele mehr jedoch mit Messern oder Schwertern. Nicht nur das Gesicht, auch die weiße Kleidung, die das Totengewand Husseins repräsentiert, ist bereits völlig durchtränkt mit Blut, welches man mittlerweile auch deutlich riecht - keine Frage, das ist kein Anblick für zartbeseidete Nerven.

Nun, gegen Mittag, sehen wir auch ältere Prozessionsteilnehmer, wenngleich sie deutlich in der Minderheit sind. Sie sind deutlich kontemplativer als ihre jungen Glaubensgenossen. Dennoch, ob alt oder jung, nicht jeder ist dieser körperlichen Anstrengung gewachsen, und so rücken die Hilfskräfte des Roten Kreuzes aus und tragen kollabierte Prozessionsteilnehmer, die sich teilweise auch noch auf der Bahre auf Kopf und Brust schlagen, aus der Menge. Nicht nur Verletzte finden sich in den mobilen Versorgungsstationen: Auch freiwillige Blutspender folgen dem Aufruf "Blut für Gaza". Es ist die einzige Reminiszenz an die aktuellen Ereignisse, die mir hier begegnet, politische Slogans und Parteiflaggen (von einigen wenigen Amal-Fähnchen abgesehen) sucht man hier heute vergebens.

Dennoch ist auch Aschura in Nabatiyeh nicht mehr das gleiche traditionelle Fest wie in früheren Zeiten. Die Bedeutungswandel von der (passiven)Trauer um Hussein zum (aktiven) Folgen des Beispiels Hussein ist auch hier unverkennbar. Sicher ist das blutige Spektakel in gewisser Hinsicht ein Männlichkeitsritual, vor allem aber ist es für die jungen Männer Ausdruck ihrer religiösen und lokalen Identität, die sie mit Stolz nach außen tragen.

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

ein sehr interessanter bericht. hast du dazu vielleicht noch mehr bild- und videomaterial?

R. Chatterjee hat gesagt…

@g.c.
ich habe insgesamt ca. 200 fotos und 10 videos gemacht. bei gelegenheit kann ich noch weitere videos hochladen, nur dauert das bei der Internetverbindung hier entsprechend lange.

MOSESPEACE hat gesagt…

Ich weiss, bin etwas spät dran, aber dem ganzen Team ein herzliches Eid Mubarak.

C.Sydow hat gesagt…

@Vergil,

Ich denke, dass die meisten schiitischen Muslime nicht sehr erfreut sind, wenn du ihnen an Ashura ein herzliches "Eid Mubarak" zurufst.

MOSESPEACE hat gesagt…

Wirklich? Das wusste ich nicht.
Mir hat man das so gesagt.
Habe extra deswegen nachgefragt.

Vielleicht bin ich da an einen Unwissenden geraten :)

M.A. hat gesagt…

Kann mich nur anschliessen, super Bericht den du geschrieben hast.
@Vergil, schwer vorstellbar, aber es ist so! Ich habe auch schon selbst miterlebt, dass so ein Gruss zu einem interkonfessionellen Streit geführt hat. Das kann man vielleicht damit vregleichen, dass Deutschland den 9. November (Mauerfall) nicht als Nationalfeiertag wollte, weil die Reichsprogromnacht am selben Jahrestag passierte.