Aus losen Sperrholzstücken zusammengezimmerte Obststände ziehen an meinem Fenster vorüber und lenken mich vom lauten Geschrei des Kindes neben mir ab. Ich verdrehe den Kopf nach hinten um zwei Frauen zu beobachten, die auf die Straße gefallenes Gemüse nach Verwendbarem sortieren. Einige Sekunden später hält der kleine, vollgestopfte Service vor dem Restaurant Tarbusch, direkt an der zentralen Kreuzung des Flüchtlingslagers. Schon in den letzten sieben Tagen bin ich hier ausgestiegen und habe mir meinen Weg durch die Straßen Muhaims, wie es im Volksmund heißt, gesucht.
Vorbei an Fladenbäckereien und Schawurmaständen bin ich auch heute schnell wieder in einem Labyrinth enger Gassen und fußballspielender Kinder gefangen. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fallen auf die rissigen Fassaden und spiegeln sich in den von Schlaglöchern aufgefangenen Wasserpfützen. In hohem Bogen schießt ein Wasserstrahl aus dem Hauseingang vor mir, breitet sich wie ein See auf der Strasse aus und fließt langsam in dem dreckigen Rinnstein ab. Aus der spaltweit geöffneten Tür blinzelt mir ein Augenpaar entgegen, das sich aber sofort wieder in den dunklen Halbschatten des Tores zurückzieht. Plötzlich ertönt hinter mir das Dröhnen einer lauten Hupe und lässt mich noch im rechten Moment zur Seite springen. Ein kleiner Pickup, vollbeladen und seitlich behangen mit Gasflaschen, humpelt an mir vorüber. Durch das verstaubte Rückfenster lassen sich noch die schelmisch grinsenden Gesichtszüge des Beifahrers erkennen.
Die Wasserpfützen mit grossen Schritten umgehend laufe ich weiter durch die Seitenstraßen auf einen zerfurchten, turmhohen Springbrunnen zu. In seinem Schatten, unter dem wachenden Auge Arafats, Scheich Jassins und den sonnenverblassten Bildern einiger Märtyrer, rastet eine Gruppe Arbeiter der nahegelegenen Werkstätten.
Hundert Meter weiter prangt über einer bunten, von Kinderhänden bemalten Mauer das blau-weiße Schild der UNO. Die Schulglocke hat gerade geleutet. Kinder strömen in ihren dunkelblauen Uniformen mit roten Halstüchern aus dem rostigen Eisentor. Mütter und rauchende Väter stehen wartend im Schatten eines Militärjeeps. Die Ladenbesitzer gegenüber der Schule haben sich zu einem Chai und einer Partie Touwle zusammengesetzt und beobachten das wirre Treiben.
Eine Gruppe Kinder schiebt mich vor sich her, bis die Rufe der Eltern hinter der nächsten Häuserecke verebben. Ständig werde ich von kleinen Steinen getroffen, die unter lautem Geschrei aus dem Hinterhalt auf mich geworfen werden. Das Interesse der Kinder lenkt sich schnell auf die Kamera in meiner Hand. Schon werde ich von allen Seiten umringt und unter „Sura, Sura! Sawurna!“-Rufen zum Photographieren aufgefordert. Mit verschmitztem Lächeln, größter Albernheit oder unter schallendem Gelächter posieren Mädchen und Jungs vor meiner Linse.
Als hätte ich schon mehrere Kilometer seit der Schule zurückgelegt, erwartet mich hinter den nächsten Ecken eine gänzlich andere Welt. Ein staubiger Sandplatz, begrenzt durch rohe, unverputzte Häuserfassaden, beherbergt einen geschäftigen Wochenmarkt. Im Schutz zerrissener Bettlaken und Decken, die zwischen zwei hochgeschichteten Müllbergen gespannt wurden, schlendern Menschen suchend an den Marktständen vorbei, schleppen Kisten und finden sich in kleinen Grüppchen zusammen um zu rauchen und zu reden. Im Halbschatten sitzen zwei Männer mit einer Waage und einem riesigen, vor Fliegen wimmelndem, Korb Datteln. Neben vertrockneten Früchten werden Puppen und anderes Kleinspielzeug angeboten.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes erregt das Schaufenster eines Friseurs meine Aufmerksamkeit. Ich stelle mich in die Tür und beobachte die feinen Bewegungen des Friseurs, dessen Rasierklinge über Wange und Hals zu gleiten scheint. Sein Blick streift mich über die Schulter hinweg. Er hält in der Arbeit inne und fordert mich auf Platz zu nehmen. Seinem Gehilfen gibt er mit einem Kopfnicken zu verstehen er solle mir einen Chai bringen. Ich setze mich hinter Ihn und beobachte weiterhin seine bedächtig ausgeführte Arbeit, die er nach wenigen Minuten beendet, um sich zu mir auf die Bank zu gesellen. Er stellt sich mit Mahmud vor und fragt nach dem Grund meines Besuchs in Muhaim Al-Falistiin. Als ich ihm mein Interesse an den Lebensverhältnissen und den Problemen hier schildere, lädt er mich zum Essen zu sich nach Hause ein. Unterwegs nimmt Mahmud eilig sein Handy zur Hand, informiert seine Frau über den ihn begleitenden Besucher und weist sie an sich rechtzeitig zu verhüllen.
Bei Reis mit Gurken, Joghurtsauce und Oliven, inmitten eines Zimmers, dessen Wände reich mit verzierten Kalligraphien verschiedentlicher Koransuren geschmückt sind, beginnt er über seine Kindheit zu sprechen. Er erzählt von den Anfängen des Flüchtlingslagers, wie aus einer handvoll Zelte ein eigenes, inzwischen zwar nicht beliebtes, aber dennoch integriertes Viertel von Damaskus wurde. Stein für Stein hat sein Vater mit herangeschafft, um die ersten befestigten Häuser aufzubauen. Mit der Zeit haben sich hier nicht nur Palästinenser, sondern auch eine Minderheit von Pakistanis und Kurden angesiedelt.
Das Leben hier war nicht immer so friedlich wie heute. Verlorengegangene Hoffnungen auf ein Anerkennen der syrischen Staatsbürgerschaft haben nach Jahren einigen Frust angestaut. Die Einschränkung, als Flüchtling nur innerhalb des Lagers arbeiten zu dürfen wird für viele zur Qual. So werden die Flüchtlinge von den Damaszenern nur als Randgruppe wahrgenommen, ihr Streben nach einer eigenen Identität in der neuen Heimat mit einer Handbewegung weggewischt. Das sei es was die Israelis bezwecken, wurde mir mehrfach erklärt. Eine neue Identität würde die Palästinenser ihre Geschichte vergessen lassen und somit die Resignation vor der israelischen Besatzung bedeuten. Ein unvorstellbares Szenario für die Damaszener mit einem gültigen Pass und der Gewissheit eine Heimat zu haben.
Mahmuds Vater ist längst gestorben, sein Portrait an der Wand verblasst, doch Mahmuds Kindheitserinnerungen an die Flucht aus Jenin sind sehr lebendig. An manchen Stellen seiner Erzählungen scheint er abwesend zu sein, starrt ins Leere, seine Erzählungen geraten ins Stocken. Dann berichtet er wieder lebhaft über das Aufwachsen in Jenin, seine alten Freunde und seinen jüngeren Bruder Mazin. Einige Male glaube ich ein flüchtiges Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen, bevor sein Gesicht wieder den Ernst des Erzählten widerspiegelt.
Die Schilderungen übers Fußballspielen in den Straßen und das Umherziehen mit seinen Freunden in der Stadt, erinnert mich an die Kinder von Muhaim. Mit ernster Miene gibt er mir zu verstehen, dass es nicht nur die Probleme der Palästinenser sind, die es wert sind festgehalten zu werden. Seine Kindheit hat er größten Teils glücklich durchlebt und auch seine Kinder möchte er nicht auf ein Problem der Welt reduziert sehen. Solange sie nur als ein gelegentliches Flackern im Fernsehen wahrgenommen werden, als namenlose Hilfebedürftige betrachtet werden, sind sie weiterhin gezwungen die Suche nach ihrer Identität anzutreten. Des Kampfes ist er müde sagt er mir, er hoffe zwar auf die Rückkehr in seine alte Heimat, doch ist es ihm wichtiger seinen Kindern einen festen Platz in der Gesellschaft zu hinterlassen.
Seine neunjährige Tochter öffnet mit einem Mal die Tür und steht mit einem Englischbuch in der Hand im Zimmer. Voller Stolz bedeutet der Vater Ihr sich neben ihn zu setzen und doch dem Gast ihre Englischkenntnisse vorzuführen. Wie eine Nadel, die eine Seifenblase zerplatzen lässt, hat sie ihn aus den Erinnerungen seiner Kindheit in die Gegenwart zurückgeholt. Als hätte er nicht ein Wort über seine Träume und Hoffnungen verloren, die täglich von der Realität eingeholt werden, nimmt er freudestrahlend seine Tochter auf den Schoß und schlägt das Buch auf.