Mittwoch, 27. September 2006

Die FLN im algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) - Teil 2

III. 1954-1956: Die Etablierung der inneren Autorität der FLN

Um den Beginn des Krieges nach außen effektvoll und nach innen verlustarm zu inszenieren, wählte die FLN am 1.11. 1954 einige Ziele vor allem in den eher schwach kontrollierten und schwer zugänglichen Gebirgsregionen Aurès und Kabylei . Der milititärische Nutzen war vergleichsweise gering und erhielt auch weniger Priorität als der symbolische Wert. Zwar waren nur wenige hundert Kämpfer an diesem Tag aktiv, aber die gemeinsam in verschiedenen Regionen konzertierte Aktion und die gleichzeitig mit Flugblättern gestartete Propagandakampagne setzte sowohl den Gegner, die Franzosen, als auch potenzielle Mitstreiter über die Existenz der FLN in Kenntnis .

Die Franzosen, die sich nach der Zerschlagung der OS über deren weitere Entwicklung wenig kümmerten, sahen in der Massenorganisation MTLD den Hauptverantwortlichen für die Ereignisse des 1. 11. und reagierten mit einer massiven Verhaftungs- und Repressionswelle gegen die Mitglieder der Bewegung . Die MTLD war somit doppelt getroffen: Durch ihren fait accompli ergriff die FLN die Initiative und proklamierte ihren Führungsanspruch über die algerische Nationalbewegung, und gleichzeitig bestraften die Franzosen, in Ermangelung eines sichtbaren Gegners, die MTLD und trieben somit viele deren Mitglieder in den Untergrund, also in die Arme der FLN .

Die FLN selber litt zu diesem Zeitpunkt unter chronischer Waffenarmut und war auch personell nicht in der Lage einen dauerhaft erfolgreichen Guerilla-Krieg zu führen . Um das Endziel der Unabhängigkeit realistisch erreichen zu können, rückte zum einen die Mobilisierung der Massen, zum anderen die Assimilierung der Algerischen Nationalbewegung in den Vordergrund. Es sollte also erst die innere Autorität der FLN etabliert werden, um dann wirkungsvoll agieren zu können . Besonders auf dem Land, in den kleinen Gemeinden und Dörfern, bestand das Hauptziel in der Zerschlagung der bestehenden Herrschaftsstrukturen. Denn hier standen an der Spitze der Verwaltung meist Muslime, die von den Franzosen eingesetzt wurden und mit ihnen zusammenarbeiteten, und die deshalb von der FLN als Kollaborateure angesehen wurden .

Gezielte Anschläge auf diese caids gehörten ebenso zur Strategie der FLN wie der Aufbau eines parallelen Verwaltungssystems. Die Aufteilung des algerischen Territoriums in sechs Militärbezirke (wilayas) und entsprechende Unterbezirke war von der FLN schon vor 1954 beschlossen worden . Jetzt sollte auch ein ziviler Apparat auf dem Land aufbebaut werden, dem auch die soziale Versorgung der Bevölkerung zufiel . Doch vor allem wollte die FLN das Volk kontrollieren und mobilisieren. Neutralität gegenüber dem eigenen Kurs duldete sie nicht. Zum Teil exzessive Gewalt gegen die Zivilbevölkerung sollte diese zur Mitarbeit zwingen .

Zu diesem Zweck versuchte die FLN flächendeckend in jeder Gemeinde einen politischen und einen militärischen Kontaktmann zu installieren. Diese sollten die Bevölkerung unter Kontrolle halten und instruieren . Allerdings hing die Untergebenheit der ländlichen Bewohner oft auch von der physischen Präsenz der FLN-Vertreter ab, da kaum ein Ort dauerhaft unter deren Kontrolle stand und die Franzosen im Gegenzug FLN-Sympathisanten in den Gemeinden zu isolieren versuchte .Das Signal, das die FLN mit dieser Strategie aussenden wollte, war klar: Jegliche Bindung der algerischen Bevölkerung an das französische Verwaltungssystem sollte abgeschnitten und von der FLN ersetzt werden, die sie sich dadurch einen legitimierten Vertretungsanspruch über das algerische Volk und ein Reservoir an materiellen und personellen Ressourcen erhoffte .

Ein weiterer Schritt in der Etablierung der FLN bildete die Ausschaltung und Absorbierung der konkurrierenden nationalistischen Bewegungen. Die Liberalen unter Ferhat Abbas und die ulamas fügten sich relativ schnell dem Führungsanspruch der FLN, erkannten sie doch , dass der einmal eigeschlagene Weg des Krieges nicht revidiert werden konnte und man sich innerhalb der FLN noch am besten entfalten können würde . Weit unnachgiebiger zeigte sich allerdings die inzwischen neu gegründete, aus der MTLD hervorgegangene MNA (Mouvement Nationale Algérienne), die noch immer über ein großes Mitgliederreservoir verfügte. Die MNA verteidigte hartnäckig ihren historisch begründeten Führungsansprunch und fand besonders bei den algerischen Emigranten in Frankreich Zuspruch .

Um die MNA auszuschalten, wandte die FLN die selbe Strategie wie bei tatsächlichen und vermeintlichen muslimischen Kollaborateuren an. Gezielte Terroraktionen fügten Infrastruktur und Führung der MNA beträchtlichen Schaden zu. In Frankreich setzte die FFFLN (Fédération de France du FLN), die mit der Mutterorganisation in engem Kontakt stand, der MNA schwer zu, es kam zu teils blutigen Straßenkämpfen in französischen Großstädten, und etablierte sich als alleiniger Vertreter der algerischen Emigranten .

Als weiterhin bedeutsam erwies sich die Absorption politisch nützlicher ziviler Gruppen wie Studentenverbände und vor allem Gewerkschaften. Die im Februar 1956 gegründete UGTA (L´Union Générale des Travailleurs Algériens) konnte sich, auch unter Anwendung terroristischer Abschreckung, gegen konkurrierende Organisationen durchsetzen und sicherte der FLN damit auch die fundamental wichtige finanzielle Unterstützung der algerischen Arbeiter, vor allem auch in Frankreich .Desweiteren bemühte sich eine von Ahmed Ben Bella angeführte externe FLN-Delgation um die Internationalisierung des Algerien-Krieges und richtete unter anderem Vertretungen bei den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga ein .

Im Sommer 1956 hatte es die FLN geschafft sich als alleiniger Vertreter der algerischen Unabhängkeit zu etablieren, maßgeblich durch das in diesem Kapitel beschriebene Konzept, das von Hutchinson als compliance terrorism definiert wird:

“Compliance terrorism had two basic and direct audience groups within the Algerian population: the existing and potential elites who were rivals for political authority and any “traitors” who disobeyed the FLN and challenged its dominance over the population. … The FLN also enforced obedience with direct attacks on the “resonant mass” of the Algerian population. The desired psychological response was apparently classic insecurity and fear, leading to amenability to FLN direction.” (in: Hutchinson: Revolutionary terrorism; S.45;47)

Doch die Absorption verschiedenster Elemente führte zu einer Heterogenisierung der Bewegung. Bisher eher unklar bis überhaupt nicht definierte Hierarchien und Kommandostrukturen bedurften aufgrund wachsender Mitgliederzahlen einer eindeutigen Klärung . Ein weiteres Problem bestand außerdem in der Tatsache, dass, obwohl die Konsolidierung der Autorität nach innen weitestgehend vollzogen wurde, der Kampf gegen die französische Armee bislang relativ wirkungslos verlief. Die bis dahin beibehaltene Strategie der ländlichen Guerilla-Übergriffe musste also überarbeitet und ergänzt werden .Zu diesem Zweck versammelten sich im August 1956 die wichtigsten FLN-Vertreter im Soummam-Tal, um nach zwei Jahren des Krieges Bilanz zu ziehen und die Weichen für die Zukunft zu stellen .


IV. 1956-1958: Die FLN und der urbane Terrorismus

Die Ergebnisse der Soummam-Konferenz hatten Auswirkungen sowohl auf die Organisationsstruktur der FLN, als auch auf die strategische Ausrichtung.Da sich die FLN als Wegbereiter eines unabhängigen algerischen Staates sah, wurde mit dem CNRA (Le Conseil National de la Révolution Algérienne) ein legislatives, mit dem CCE (Le Comité de Coordination et d`Exécution) ein exekutives Organ gegründet . Diese Institutionen sollten den bisher eher unkoordiniert vollzogenen Aufbau eines parallelen Staatsapparates straffen und kontrollieren.

Zwar wurden die wilayas, bis hin zu den einzelnen Zellen, direkt der Weisungsbefugnis des CCE unterstellt, jedoch gab dieser nur die allgemeine Strategie vor. Die Umsetzung lag in den Händen der einzelnen Zellen bzw. der Wilaya-Kommandanten, die somit relativ autonom agieren konnten, während die FLN-Führung die Verantwortung für alle (erfolgreich) ausgeführten Aktionen übernahm .In Abwesenheit der externen Delegation beschlossen die Teilnehmer der Konferenz außerdem das Primat der inneren gegenüber der äußeren Führung, setzen sich die im Land operierenden Kräfte doch dem größten Risiko aus, während sich das diplomatische Korps der FLN außerhalb Algeriens in relativer Sicherheit befand .

Trotzdem wurden auch Mitglieder der externen Delegation, allen voran Ben Bella, in CNRA und CCE berufen, ebenso wie die Vertreter anderer assimilierter Gruppen, wie z.B. der Liberale Ferhat Abbas, was zur Bezeugung des integrativen Charakters der FLN diente .Auf eine gemeinsame Ideologie oder ein Regierunsprogramm für die Zukunft konnte man sich allerdings nicht einigen. Auch die Umsetzung des Beschlusses über das Primat des Politischen über das Militärische schien sehr zweifelhaft und konnte aufgrund der militärischen Situation, die alle Energien absorbierte, praktisch nicht realisiert werden .Diese militärische Situation sollte durch verschiedende Maßnahmen verbessert werden.Zum einen plante man die stärkere Einbeziehung der soeben unabhängig gewordenen Nachbarstaaten Tunesien und Marokko sowohl als Rückzugsgebiet als auch für den Nachschub von Waffen und Kämpfern .Zum anderen visierte man eine Entlastung der ländlichen Guerilla an, was besonders von den regionalen Wilaya-Kommandeuren gefordert wurde .

Zu diesem Zweck rückten die Großstädte an der Küste in den Mittelpunkt, allen voran Algiers. Bis zu diesem Zeitpunkt spielten die urbanen Zentren keine größere Rolle in den Planungen und auch die hauptsächlich in diesen Städten lebende europäische Siedlerelite der colons rückte erst jetzt als direktes Angriffsziel ins Visier der FLN. Dem ersten wichtigen Beschluss des CCE, den Krieg nach Algiers zu bringen, lagen bestimmte strategische Überlegungen zugrunde.Die FLN wollte den Terror vor allem gegen die colons richten, was eine erheblich höhere Aufmerksamkeit als die ländlichen Guerilla-Angriffe hervorrufen sollte. Außerdem beabsichtigte man so Signale an mehrere verschiedene Gruppen aussenden.Die colons sollten in einen Zustand der Unsicherkeit versetzt werden und, wenn möglich, zur Ausreise gezwungen werden. Dazu operierte die FLN aus dem verwinkelten und schwer zugänglichen muslimischen Teil der Stadt, der Kasbah.

Die im Oktober 1956 gestartete Terrorkampagne wählte belebte, besonders von Europäern frequentierte Orte, wie Bars und Cafés, aus und setzte die Bevölkerung mit verlustreichen Bombenanschlägen in Angst und Schrecken. Desweiteren wurden Repräsentanten der europäischen Gemeinde entführt und bzw. oder gezielt getötet . Ein wichtiger Grund für die Effizienz der Aktionen war die Verschwiegenheit und Kooperation der muslimischen Bevölkerung. Für die Sicherheitskräfte in Algiers war es praktisch unmöglich die Spuren solcher Anschläge zurück zuverfolgen. Die Grenze zwischen Tätern, Kurieren, Mitwissern und passiver Zivilbevölkerung war fließend .

Im Januar 1957 demonstrierte die FLN dann ihren immensen Einfluss auf das Volk, als ein einwöchiger Generalstreik in Algiers ausgerufen wurde, wobei sich die Einbeziehung der Gewerkschaft UGTA bezahlt machte .Die französische Armee sah sich jetzt zum Handeln gezwungen und die Spezialeinheiten der paras (les parachutists) marschierten in Algiers ein um den Streik gewaltsam zu beenden und die Ordnung wieder herzustellen . Was in den nächsten Monaten folgte, ging in die Geschichte als “The Battle of Algiers“ ein. Haus um Haus durchsuchten die paras die Kasbah und nahmen dabei unzählige Menschen fest.

Ziel der Franzosen war es die für die FLN fundamentale Verschwiegenheit zu brechen und die Kommunikationswege zu unterwandern . Zu diesem Zweck setzten die Spezialeinheiten verstärkt auf Folter, wovon fast die gesamte muslimische Bevölkerung bedroht war, galt doch jeder als potenzieller Geheimnisträger. Diese kollektive Vergeltung war von der FLN allerdings durchaus beabsichtigt , denn so erreichte man gleich mehrere Gruppen. Zum einen wurden immer mehr Muslime, die persönlich oder bei Verwandten Folter erlebten, emotional aktiviert und von der FLN angezogen.

Diese Art der Gewinnung der Unterstützung der eigenen Bevölkerung unterschied sich vom compliance terrorism der ersten beiden Kriegsjahre und wird von Hutchinson als endorsement terrorism bezeichnet:

“In general, endorsement terrorism is more spectacular and more shocking than compliance terrorism. … Spontaneous and indiscriminate violence violence by French civilians and military against Algerians alienated the masses from the regime, enhanced Algerian solidarity, and increased support for the FLN.” (in: Hutchinson: Revolutionary terrorism; S.49/50)

Ebenfalls signifikant war die Wirkung, die man auf das Publikum außerhalb Algeriens erzielen konnte. Die FLN war zwar militärisch verheerend geschlagen worden und existierte danach in Algiers praktisch kaum noch , doch mussten die Franzosen ihren Sieg teuer bezahlen. Berichte, zum Teil von heimgekehrten Soldaten selber, über den Einsatz von Folter ließen beim französischen Volk die Symphatien für das Engagement in Algerien sichtbar schwinden und riefen Zweifel an der moralischen Rechtfertigung des Einsatzes hervor, hatte man doch kaum zwei Jahrzehnte zuvor unter ähnlichen Methoden von SS und Gestapo leiden müssen .

Auch auf internationaler Ebene war der “Battle of Algiers“ für die FLN ein großer Erfolg, da erst nach dieser öffentlichkeitswirksamen Kampagne der Algerienkonflikt auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen gesetzt wurde . Die Franzosen befanden sich hingegen immer mehr in der Isolation, da man auf globaler Ebene kaum noch Fürsprecher für die eigenen Standpunkte finden konnte und man eher als brutaler Repressor und reaktionärer Verfechter eines kolonialen Systems, denn als Garant für Recht und Ordnung angesehen wurde .

Die FLN befand sich Anfang 1958 also in einer strategisch besseren Lage als die Franzosen. Frankreich musste bemüht sein den Krieg zu gewinnen, um nach den Rückschlägen von Indochina 1954 und Suez 1956 nicht noch mehr an Prestige zu verlieren, aber konnte das nur schaffen, indem es zu umstrittenen Methoden, wie Folter und Gegenterror, griff und außerdem die durch den Zweiten Weltkrieg immer noch stark gebeutelte Wirtschaft mit immensen Militärausgaben belastete . Die FLN dagegen konnte ihren Terror mit Verweis auf französische Brutalität moralisch rechtfertigen und brauchte den Krieg nicht zwingend militärisch zu gewinnen. Die FLN musste nur eine totale Niederlage verhindern, da die Zeit langfristig für sie arbeitete .

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