I. Einleitung
Sir Sultan Muhammad Shah Aga Khan III (1877-1957) nimmt unter den Muslimen Indiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine einzigartige Stellung ein. Als spirituelles Oberhaupt der Ismailiten, als wohlhabender Sponsor breit angelegter Bildungsprogramme, als Repräsentant Indiens auf internationaler Ebene und als Vertreter muslimischer Interessen auf nationaler Ebene war der Aga Khan wie nur wenige andere Muslime im öffentlichen Leben Indiens präsent. Die folgende Studie konzentriert sich auf das politische Wirken des Aga Khan in Indien, somit werden sein internationales politisches Engagement, das in der Wahl zum ersten und einzigen asiatischen Präsidenten des Völkerbunds 1937 gipfelte, sowie seine Anstrengungen für den Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu Bildung in Indien, aber auch zum Beispiel in Ost- und Südafrika, weitgehend ausgeblendet. Die Führungsposition des Aga Khan innerhalb der ismailitischen Religionsgemeinschaft spielt für diese Studie ebenfalls eine untergeordnete Rolle, da in keiner seiner bedeutenden politischen Schriften und Reden in Bezug auf Indien sein ismailitischer Hintergrund auch nur erwähnt wird. Vielmehr setzte sich der Aga Khan in zahlreichen Dokumenten für die Überbrückung sunnitisch-schiitischer Differenzen ein.
Zunächst soll in II analysiert werden, welche Stellung der Aga Khan in den muslimischen Gremien, Delegationen und Organisationen innehatte, die im 20. Jahrhundert bis zur Teilung Indiens eine maßgebende Funktion einnahmen. Der Fokus wird im weiteren Verlauf auf der 1906 gegründeten All India Muslim League (AIML), der Simla-Delegation 1906, der 1928 gegründeten All India Muslim Conference und der Round Table Conference 1930 bis 1932 in London, liegen. Die Khilafat-Bewegung wird nicht eingehend thematisiert, da sie mit der genuinen Forderung, das muslimische Kalifat zu erhalten, eine in erster Linie global-islamische Thematik ansprach, obgleich die Bewegung auf das Verhältnis sowohl zwischen den indischen Muslimen und der britischen Herrschaft, als auch auf das Verhältnis zur indischen Unabhängigkeitsbewegung wichtige Auswirkungen hatte. Die Vernachlässigung der letzten Jahre auf dem Weg zur Teilung Indiens in dieser Studie gründet auf der Tatsache, dass sich der Aga Khan während des Zweiten Weltkriegs im schweizerischen Exil befand, wo ihm von der neutralen Regierung untersagt wurde, sich an jeglichen politischen Aktivitäten zu beteiligen. In den Nachkriegsjahren verkörperte der Aga Khan, unter anderem geschwächt durch eine langwierige Krankheit, keine zentrale Figur auf der politischen Bühne Indiens.
Anschließend werden anhand von Primärquellen Konzeptionen des Aga Khan für die Ausgestaltung eines zukünftigen, möglicherweise unabhängigen indischen Staates aufgezeigt. Im Kontext der historischen Ereignisse in Indien sollen Kontinuitäten und Veränderungen bezüglich der politischen Konzepte untersucht und interpretiert werden. Gegenstand dieser Interpretation werden das ausführliche politische Werk des Aga Khan „India in Transition“ aus dem Jahre 1918 und seine zwei Artikel in The Times in London, „A Constitution for India I and II“ als Reaktion auf den Nehru Report 1928 sein.
Abschließend folgen eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse, die Ausarbeitung von Konstanten im Wirken des Aga Khan und die Einschätzung seiner Bedeutung für die politische Entwicklung auf dem Weg zur Teilung Indiens 1947.
Die Untersuchung stützt sich zu einem beträchtlichen Teil auf Primärquellen des Aga Khan in Form von Reden, Artikeln in Zeitungen und politischen Schriften, die in K.K. Aziz’s Band Aga Khan III von 1998 gesammelt dokumentiert sind. Dadurch soll ein möglichst präzises Bild der politischen Vorstellungen des Aga Khan in Bezug auf die Muslime des indischen Subkontinents gezeichnet werden.
II. Stellung und politische Relevanz des Aga Khan für Indiens Muslime
1902-1947 – eine historische Darstellung
II.1. Beginn des öffentlichen Lebens und Einstieg in die Politik 1897-1906
Sobald der Aga Khan 1898 seine Volljährigkeit erlangt hatte, verließ er Indien mit Ausnahme von kurzen Aufenthalten für drei Jahre. Einerseits besuchte er während dieser Zeit viele seiner Anhänger wie zum Beispiel die große Ismailiten-Gemeinde im damaligen Deutsch-Ostafrika. Andererseits wurde er von diversen Staatsoberhäuptern in Europa und Asien empfangen und mit Auszeichnungen dekoriert. Diese Empfänge hatten überwiegend repräsentativen Charakter, jedoch kam der Aga Khan auch politischen, religiösen und moralischen Pflichten nach. Beispielsweise konnte er den Deutschen Kaiser und König von Preußen Wilhelm II davon überzeugen, den indischen, hauptsächlich ismailitischen Siedlern in Ostafrika wichtige Konzessionen für den Reisanbau und bezüglich ihres Status in der Kolonie zu gewähren. Bei einem anderen Treffen mit Muzaffaraddin Shah aus dem Iran bat er den Shah, Zwangskonversionen von Zoroastriern einzustellen, da dies ein schlechtes Licht auf den Islam werfe und insbesondere die aus Persien eingewanderten Parsis in Indien verärgere und beunruhige. Die Besuche des Aga Khan in Großbritannien waren allerdings für seinen Werdegang von größter Bedeutung, da er in London maßgeblich auf die britische Politik in der indischen Kolonie Einfluss nehmen konnte. Neben Empfängen durch den Premier-Minister Lord Salisbury und König Edward VII, mit dem den Aga Khan eine jahrelange Freundschaft verbinden sollte, konnte der Aga Khan in zahlreichen Gesprächen mit Vertretern des House of Lords und des House of Commons ein Netzwerk aufbauen, das sich auf seine persönliche politische Karriere und auf die Berücksichtigung muslimischer Interessen in Indien positiv auswirken sollte.
Das während der drei Jahre im Ausland erlangte internationale Prestige begünstigte sicherlich die Entscheidung des britischen Vizekönigs Lord Curzon, den erst 25 Jahre alten Aga Khan als jüngsten Abgeordneten 1902 in den Imperialen Legislativrat Indiens zu berufen. Somit begann die politische Karriere des Aga Khan in Indien.
Die Plattform des Legislativrats nutzte der Aga Khan vor allem dafür, Reformen im Bildungssystem zu fordern. Innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft war er in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine der führenden Persönlichkeiten Indiens, die die Rückständigkeit der Muslime gegenüber der hinduistischen Mehrheit, zum Beispiel in Bezug auf Selbstorganisation, auf die unzureichende Bildung der muslimischen Bevölkerung zurückführte. So sah er sich in der Tradition von Aligarh-Begründer Sayyid Ahmad Khan, den er in den Jahren 1896 und 1897 persönlich in Aligarh traf, und arbeitete mit dessen Nachfolger Nawab Muhsin-ul-Mulk sowohl im Bereich der Bildung als auch in der allgemeinen politischen Sphäre eng zusammen. Unter diesen Vorzeichen bemühte sich der Aga Khan, das Bildungsniveau aller indischen Muslime durch von ihm initiierte Programme anzuheben.
Dieser Einsatz brachte ihm 1902 das Angebot, der All India Muhammadan Educational Conference in Delhi vorzustehen. Auch bei der zweiten Konferenz in Bombay 1904 hielt er die Auftaktrede. Diese Konferenzen sind insofern signifikant, da sie erstmals ausschließlich muslimische, jedoch zunächst unpolitische Organe darstellten, die aus Delegierten verschiedener Provinzen des Subkontinents bestanden. Die Bedeutung der Konferenzen wird außerdem dadurch unterstrichen, dass 1906 bei der All India Muhammadan Educational Conference in Dhaka der offizielle Beschluss für die Gründung des ersten rein muslimischen politischen Organs, der All Indian Muslim League, gefasst wurde.
2 Kommentare:
Sehr ergiebiger Aufriß indischer Geschichte im Übergang von brit. Kolonie zu Teilung und Unabhängigkeit mit Fokus auf der muslimischen Minderheitsposition und -initiative unter der Führung des Aga Khan III. Werde ich im Englischunterricht einsetzen. Vielen Dank
Das freut mich sehr. Für welche Klassen? Beste Grüße,
Christoph Dinkelaker
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