Die ereignisreiche und umstrittene Geschichte des Libanon ist bislang aus vielen verschiedenen Blickwinkeln untersucht worden, ebenso erlebt die Gesellschaftsanalyse besonders nach Ende der syrischen Hegemonie über den Zedernstaat (2005)eine neue Blüte. In der regionalen Umgebung insgesamt und im Libanon im Speziellen wird dabei verstärkt über das Konzept der Zivilgesellschaft, deren potentielle Akteure, Handlungsspielräume und überhaupt deren Anwendbarkeit diskutiert – und zwar sowohl auf akademischer Ebene, als auch im täglichen Medienbetrieb. Verschiedene Gruppen (Gewerkschaften, Berufsverbände, nationale/internationale NGO`s, Medien) wurden und werden nach ihrer gesellschaftlichen Funktion untersucht. Gradmesser ist hierbei ihr Potenzial, wie auch ihr Willen, Interessenvertretung nicht mehr nach klientelistischen und konfessionalistischen Mustern zu organisieren, sowie die Frage nach ihrem integrativen Potenzial für die fragmentierte libanesische Gesellschaft insgesamt. Das Fazit fällt meist negativ aus, zu sehr dominieren traditionelle Loyalitätsmuster eben jene potenzielle Akteure einer Zivilgesellschaft.
Die Studenten wiederum bilden hier einen Sonderfall: Sie gehören auch in jene Kategorie möglicher zivilgesellschaftlicher Akteure, wurden in der aktuellen (akademischen) Diskussion jedoch eher kursorisch behandelt. Dies steht im Gegensatz zur gesellschaftlichen Rolle, die ihnen im Verlauf der libanesischen Geschichte zugestanden wurde. So waren es Studenten, die in den 30er und 40er Jahren an den beiden großen Privatuniversitäten AUB und USJ agitierten und die ersten Massenbewegungen und politischen Parteien (SSNP, Kata’ib, CPL, Ba’ath) initiierten. Noch einschneidender war die Studentenbewegung der 60/70er Jahre, die Halim Barakat ausführlich beleuchtete. Sie stand einerseits im (selbstgesetzten) Bezug der internationalen Studentenproteste dieser Epoche, andererseits wurde sie durch den libanesischen (und regionalen) Rahmen geprägt – vielmehr noch, prägte sie diesen entscheidend selber mit und stand im Fokus der Vorgeschichte des libanesischen Bürgerkrieges. Die libanesische Studentenbewegung der 60/70er Jahre brachte nationale Missstände, wie Korruption, Unterentwicklung und Armut überhaupt ins breite öffentliche Bewusstsein, und war im Großen und Ganzen gegen den politischen status quo und seine Vertreter der traditionellen Elite gerichtet.
Dieses, sicherlich auch von den damals Beteiligten etwas verklärte, Image etablierte die soziale Gruppe Studenten als Akteure zivilgesellschaftlicher Aktion und dient noch heute als Referenzpunkt.
Dementsprechend lautet die Hauptfrage meiner Magisterarbeit, inwiefern die heutige libanesische Studentenschaft diesen historischen Vorgaben noch entspricht bzw. welche gesellschaftliche Funktion sie heute einnimmt.
Der libanesische Bürgerkrieg 1975-1990 stellt dabei natürlich einen fundamentalen Einschnitt dar. Insbesondere in den 80er Jahren wurde der Libanon zunehmend kantonisiert, das öffentliche Leben wie auch Bildungseinrichtungen konfessionell homogenisiert und von den (neuen und alten) Milizen instrumentalisiert.
Diesen Platz sollten die Milizen/Milizen“parteien“ auch nach dem Krieg nicht aufgeben. Nahezu alle nach dem Krieg ins System inkorporierten Gruppenfanden ihr Hauptrekrutierungsreservoir an den Universitäten, verbotene Gruppierungen (Lebanese Forces, Aounis) wiederum wurden durch die Aktivität ihrer studentischen Anhängerschaft am Leben erhalten.
Die neue politische Konfiguration nach 2005 ist zwar wesentlich liberaler, deshalb aber umso explosiver. Die Frage stellt sich, ob der politischen Zäsur (die sogenannte „Zedernrevolution“) auch die gesellschaftliche Zäsur (Überwindung konfessionalistischer und klientelistischer Strukturen) folgen kann und welche Rolle die Studentenschaft dabei spielen kann. Meine empirischen Untersuchungen und persönlichen Eindrücke aus dem Frühjahr 2007 lassen daran eher zweifeln. Der libanesische Staat als Akteur ist fast inexistent, die politische Landschaft in zwei Lager gespalten, die zunehmend auch konfessionelle Züge annehmen. Die sechs wichtigsten „Parteien“ (Future, LF,PSP,Hizballah,Amal,FPM) haben ihre klientelistischen Loyalitätsmuster institutionell weiter verfestigt und können beachtliche Mengen mobilisieren. An vorderster Front stehen hierbei immer die Studenten, was die Bedeutung der Studentenflügel für die „Parteien“ schon impliziert.
Eben jene Studentenorganisationen möchte ich in meiner Arbeit genauer betrachten. Dafür untersuche ich, wie die Studentenorganisationen der Parteien Loyalitätsmuster etablieren und organisieren, welche Rolle die Wahlen für das Studentenparlament spielen und wie diese Parteiflügel den Rahmen für politisches und gesellschaftliches Engagement auf dem Campus konfigurieren.
Etwas übergeordnet und an die historische und methodische Vorbetrachtung anknüpfend möchte ich zudem diskutieren, inwiefern die libanesische Studentenschaft überhaupt eine auf gemeinsamen und national-integrativen Interessen geleitete Studentenbewegung hervorbringen kann. Meine Hauptthese lautet, dass gerade die Studentenorganisationen durch ihre partikulären Interessen und Loyalitäten eine Studentenbewegung verhindern, und die libanesische Studentenschaft mithin eher zum Systemerhalt beiträgt, denn als Akteur des Wandels auftritt.
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