Samstag, 5. Februar 2011

Al-Jazeeras Rolle in der arabischen Welt: „Stimme der vergessenen Gebiete“

Im Zuge des aktuellen Aufstands in Ägypten wird viel über die Rolle des arabischen Nachrichtensenders Al-Jazeera debattiert. Das Regime wirft dem Kanal vor, einseitig zu berichten und die Proteste gegen Präsident Mubarak mutwillig anzuheizen. Wiederholt wurden Reporter des Senders verhaftet oder tätlich angegriffen. Bereits am vergangenen Samstag entzog Ägypten dem TV-Sender die Arbeitserlaubnis. Gestern verwüsteten Randalierer das Al-Jazeera-Büro in Kairo. Die Journalisten machten das Regime direkt für die anhaltenden Angriffe auf die Korrespondeten verantwortlich.

Wir nehmen die aktuellen Ereignisse zum Anlass, ein Interview mit Muhammad al-Mukhtar (41) dem Chefredakteur von Aljazeera.net, der Internetseite des Nachrichtensenders, zu veröffentlichen, das Katharina Mühlbeyer im Oktober 2010 führte. Mukhtar ist einer der Entwickler des arabischen Online-Nachrichtenportals der ersten Stunde. Seine journalistische Ausbildung erhielt der gebürtige Mauretanier im Sudan. Ein Gespräch mit einem überzeugten Al-Jazeera-Macher über Medien und Meinungen, Bilder und Botschaften

Worin liegt der Unterschied zwischen dem englischen und dem arabischen Angebot von Al-Jazeera.net?

Der Unterschied liegt in den verschiedenen Sprachen. Das bedeutet: Die Auswahl der Themen hängt von der Sprache des Empfängers ab. Der Empfänger des englischsprachigen Angebots unterscheidet sich von dem des arabischsprachigen. Daher unterscheiden sich die Schwerpunkte.


Das heißt, dass das eine Angebot einen regionalen Blickwinkel hat, das englische Angebot hingegen eine globalere Perspektive einnimmt und sich an ein ,westlichesʻ Publikum richtet? Und wie interessant ist dann Deutschland für das arabische Al-Jazeera.net?

Al-Jazeera.net ist zwar eine arabische Internetseite, aber sie ist ebenso global. Die USA liegen auf Platz eins unserer Interessenskala, während Deutschland auf dem fünften oder sechsten Platz liegt. Die Themen, die an die Leser in Deutschland gerichtet sind, beschäftigen sich mit arabischen Migranten. Dies gilt gleichermaßen für Frankreich, Deutschland und anderswo. Die Angelegenheiten der Migranten werden anhand der aktuellen Ereignisse von uns mitverfolgt. Wir hatten in Berlin einen der ersten Korrespondenten von Al-Jazeera.net. Er liefert uns täglich Themen oder wird von uns zu bestimmten Themen beauftragt.

Wie sehen Sie die Medien in Deutschland, am Golf und der arabischen Welt insgesamt im Vergleich? Gibt es Unterschiede im Hinblick auf die Medienkultur?

Die Botschaft ist unterschiedlich aber die Mittel sind im Allgemeinen die gleichen. Wir haben keine andere Art und Weise Medien zu machen, als wir es tun, gesehen – sei es im Zusammenhang mit den „Neuen Medien“, dem Internet, sei es Rundfunk oder Fernsehen. Der Inhalt ist aber absolut anders. Wir sind der Ansicht, dass Al-Jazeera eine andere Botschaft als CNN oder BBC übermittelt.

Und wie lautet diese ,andereʻ Botschaft von Al-Jazeera?

Die Botschaft von Al-Jazeera basiert in erster Linie auf der Übermittlung der Ereignisse, so wie sie sind. Die Kamera hat keinen Einfluss auf die Bilder im Sinne von Geschehen, sondern das Geschehen, die Bilder steuern die Kamera. Während in den westlichen Medien, z.B. bei CNN oder BBC, die Kamera gelenkt wird, es also jemanden gibt, der die Kamera steuert – dahinter steht ein Journalist, der beeinflusst und kontrolliert wird, um wiederum die Botschaft selbst zu beeinflussen. Ein Beispiel: Während des Gaza-Krieges übermittelte die Kamera von Al-Jazeera die Ereignisse von überall, sogar von Seiten der israelischen Armee. Es waren keine weiteren Medienvertreter vor Ort – warum? Es scheint für jeden professionellen Medienmacher offensichtlich, dass die westliche Kamera so ,durchdachtʻ ist, dass sie zu einer bestimmten Botschaft kommt.

Was Al-Jazeera im Vergleich zu den westlichen Medien ausmacht, ist, dass Al-Jazeera eine ,Stimme der vergessenen Gebieteʻ ist. In der arabischen Welt – die wir kennen und zu der wir gehören – gibt es nur gesteuerte westliche Medien, dort gibt es keine normalen, unabhängigen Medien. Wir von Al-Jazeera verfolgen das Ziel, die Bilder und die Ereignisse aus den vergessenen Gebieten der arabischen Welt, Afrika, Mittel- und Südostasien ohne Einflussnahme und Steuerung zu übermitteln und zu zeigen.

Die Art und Weise, Bilder und Nachrichten zu produzieren, die Sie beschreiben, hat das Image von Al-Jazeera geprägt: Im Westen herrscht die Meinung vor, dass Al-Jazeera Hass verbreitet, besonders gegen die USA und Israel, es gilt als Sprachrohr Osama bin Ladens und der Taliban. Und in arabischen Ländern gibt es Stimmen, die glauben, hinter Al-Jazeera stünden die USA oder es sei ein ,zionistisches Projektʻ – und auch viele arabische Regierungen haben ihre Probleme mit Al-Jazeera. Wie erklären sie sich dieses paradoxe Bild?

Die Wahrheit von Al-Jazeera ist nicht die dieser beiden Seiten. Al-Jazeera gehört weder der einen, noch der anderen Seite. Beide Seiten machen Propaganda. Ich nenne ein Beispiel: Es gibt sowohl in Israel als auch im Gaza-Streifen ein Büro von Al-Jazeera. Die Berichterstattung im Hinblick auf den arabisch-israelischen Konflikt behandelt beide Seiten gleich. Ohne Einflussnahme legt Al-Jazeera seine Gäste für Sendungen fest, während alle westlichen Medien, die wir mitverfolgen und kennen, nur ganz kurz oder in ,gezielterʻ oder ,gesteuerterʻ Form einen palästinensischen Gast einladen.

Es gibt nun mal extremistische Erscheinungen, gleichgültig ob es sich um Rechtsextremismus in Europa oder um Al-Qaida oder andere extremistische Netzwerke bei uns in der arabischen und islamischen Welt handelt. Dies sind Phänomene, über die wir berichten müssen. Wir berichten über diese Ereignisse. Wir ignorieren sie nicht.

Als Al-Jazeera über die Verlautbarungen von Bin Laden und die anderer Anführer berichtet hat, schimpfte Donald Rumsfeld über den Sender. Auch darüber hat Al-Jazeera berichtet. Rumsfeld und Bush drohten sogar, Al-Jazeera zu bombardieren. Die Welt ist Zeuge für diesen Skandal. Al-Jazeera hat mit seiner Art der Berichterstattung einen internationalen Erfolg erzielt.

Sie möchten also nichts am Image von Al-Jazeera ändern?

Überhaupt nichts! Von Anfang an lautete Al-Jazeeras Motto: „Meinung und Gegenmeinung“.

Was dieses Motto betrifft: Talk-Shows wie „Die andere Richtung“ oder „Ohne Grenzen“ haben diplomatische Krisen ausgelöst; dass Zuschauer live zugeschaltet werden und ungeschnitten ihre Meinung sagen können, ist relativ einzigartig in den arabischen Medien. Ist das ein großer Schritt Richtung Demokratie und Meinungsfreiheit oder ist das nur virtuelle Demokratie, eine hypothetische Freiheit ohne reale Auswirkung auf die arabischen Gesellschaften, die eher repressiv und autoritär regiert werden?

Gott belohnt die schwachen Menschen. Gott wird den Menschen die Möglichkeit geben, ihre tatsächliche Lage zu ändern. Wir glauben nicht an die Unabänderlichkeit des Schicksals. Dem Menschen bleibt zum Schluss die Fähigkeit, sich selbst zu befreien. Al-Jazeera hat vieles in der arabischen Welt verändert. Wir fühlen diese Veränderung und sind uns ihrer bewusst. Wir hatten dieses Gefühl vor der Gründung von Al-Jazeera und fühlen es immer noch, auch nach der Gründung des Senders.

Vor Al-Jazeera gab es in der arabischen Welt keine Meinungsfreiheit. Heutzutage gibt es andere Satellitensender, die mit Al-Jazeera konkurrieren. Aber im Wettbewerb mit Al-Jazeera richten sie sich nicht nach dem gleichen Prinzip, nämlich der Medienfreiheit, wie es für Al-Jazeera charakteristisch ist. Durch das Prinzip der medialen Freiheit ist Al-Jazeera ein Vorbild geworden, das sich von der Konkurrenz stark unterscheidet.

Heutzutage kann jeder einen Blog einrichten oder über youtube seine Botschaft verbreiten. Was ist die neue Rolle von Al-Jazeera.net in Zeiten von „broadcast yourself“?

In diesem Jahr werden wir auf Al-Jazeera Blogs einrichten. Es handelt sich um viele hundert Blogs. Diese werden ausgewählt und nicht für jeden User von Al-Jazeera.net frei zugänglich sein. Es wird also Einschränkungen geben. An dem Projekt werden Schriftsteller und Journalisten mitarbeiten und es gibt dafür ein Budget. Die Auswahl der Beteiligten wird professionell und nicht nach politischen oder persönlichen Motiven erfolgen. Und wir werden uns noch intensiver mit Youtube, Facebook und twitter vernetzen.

Auf Al-Jazeera.net gibt es eine Rubrik mit Namen „Freiheiten und Rechte“, die neben den typischen Ressorts wie Wirtschaft oder Politik steht. Das ist, verglichen mit anderen internationalen Online-Nachrichtenportalen, eine ungewöhnliche Sparte. Wie kam es dazu?

Die Umgebung färbt auf die Medien ab. Freiheiten und Rechte benötigen in der arabischen und besonders der islamischen Welt mehr Aufmerksamkeit als alle anderen Bereiche. Wir sind der Meinung, dass Freiheit der Schlüssel zur Veränderung ist. Wenn Freiheiten an die Menschen weitergegeben werden, dann werden die Freiheiten in vielen anderen Bereichen größer. Dann verbessert sich auch die rechtliche Lage und die Menschen können auf die Regime Druck ausüben.

Eine weitere Sparte auf Al-Jazeera.net ist „Kunst und Kultur“. Verglichen mit den anderen Ressorts wirkt sie etwas dünn und nicht besonders tiefgründig. Al-Jazeera.net fehlt eine Art arabisches Feuilleton mit Besprechungen von Kultur-Ereignissen und intellektuellen und gesellschaftlichen Debatten.

Wir brauchen so eine Kritik und nehmen sie auch an. Wir wollen die Sparten Kultur und Sport verbessern. Das soll durch ein erweitertes Team von Journalisten und Korrespondenten ermöglicht werden.

Herr Mukhtar, ich danke Ihnen vielmals für dieses Gespräch!

Übersetzung aus dem Arabischen: Younes Serrakh

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