Freitag, 18. Februar 2011

"Was ist denn das für 'ne Geschichte?"

Ahmet Salih Yurdakul (26) schreibt für Alsharq als Gastautor über Deutschland, die Türkei und die Räume dazwischen
Dies ist meine Geschichte. “Alles ist passiert, während ich lebte, das sollen die Menschen wissen.”2 An einem Oktobertag im Jahr 2003 stieg ich ins Flugzeug, ließ alles zurück und kam nach Berlin. Ich kannte niemanden und niemand kannte mich. Erst später merkte ich, dass ich doch allen bekannt war: ich war Ausländer, ich war Türke, ich war Muslim... Jeder wusste über mich Bescheid, in jedem Kopf hatte ich schon einen Platz!

Jeder definierte, vermaß, diskutierte, studierte mich. Dort, wo ich herkam, redete man über das Wetter, wenn das Gesprächsthema sich erschöpfte. Mal beschwerte man sich über die Hitze, mal über die Kälte, doch in jedem Fall über die Luftfeuchtigkeit in Istanbul! Hier aber sprachen alle über mich. Die Rollen hatten gewechselt; die Prädikate waren versteckt, unterschiedlich, aber das Subjekt war immer ich.3 Ehrenmorde, häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Integration, Arbeitslosigkeit, Bildung, Deutsch, Integration, Islam, Terror, Minarette, Integration, Gewalt unter Jugendlichen, Frauenrechte, Fatih Akın, Integration, erste Generation, brain drain, Sarrazin, Integration, Loyalität, Fußball, Mesut Özil, Integration... Da waren diese ganzen Debatten, und da war ich; mit meiner eigenen Geschichte, meinen Erlebnissen, meinen Gedanken und Gefühlen... Ich hatte genug davon, dass immer irgendjemand über mich sprach und ich beschloss, mich selbst zu erklären. Ja, dies sollte allein meine Geschichte sein!


Dies ist nicht meine Geschichte. Es ist die Geschichte eines Volkes, das seit den „unterlegenen Abenden, die den siegreichen Morgenden folgen“4 an einem Silberblick leidet. Die Geschichte meiner Großväter, die ihre Heimatorte auf dem Balkan verlassen mussten und die Türkei als Heimat annahmen. Die Geschichte eines Landes, das sich nach den Nachkriegsjahren voll Mangel und Mühe erholte, zu neuer Form fand und Leute brauchte, die die einfachen Arbeiten besorgten. Die Geschichte eines anderen Landes, dem es nicht genügte, „sich selbst zu genügen“5, das seine Kinder mit einem Koffer voll Träume ins Unbekannte schickte. Die Geschichte des „Volkes, das den Bus verpasst hat“, aller Kinder, die „mindestens drei Sprachen“6 können müssen. Ja, das konnte keinesfalls nur meine Geschichte sein!

Wie soll ich es erklären, wo soll ich anfangen?“7
Was ich erzählen werde, hat keinen anderen Anspruch als den, der Statistiken über die „Anderen“ zu entfliehen und wieder zu einem Menschen zu werden. Die wahrscheinlich darin enthaltenen Widersprüche können ebenso gut von meiner Verwirrung herrühren als auch unterschiedliche Aspekte der Realität aufzeigen; entscheiden Sie selbst. Ich bin dort, wo das Wort beginnt - weiter, bismillah!


to be continued...
Übersetzt von Kathrin Hagemann
1 Bu ne biçim hikâye böyle? (Was ist denn das für 'ne Geschichte?) ist der Titel eines Liedes der Band MFÖ.

2 Zeile aus dem Gedicht Celladıma gülümserken çektirdiğim son resmin arkasındaki satırlar (Die Zeilen auf der Rückseite des letzten Bildes, das ich machen lasse, während ich meinen Henker anlächle) von İsmet Özel. Wird auch von MFÖ im Lied Ağlamadan zitiert.

3 Im Türkischen ist das „versteckte Subjekt“ eine häufige grammatische Erscheinung.

4 Zeile aus dem Essay Bu Ülke („Dieses Land“) von Cemil Meriç.

5 Populäres politisches Motto im Sinne einer von anderen Ländern unabhängigen Türkei.

6 Zitate aus dem Gedicht Üç Dil („Drei Sprachen“) von Bedri Rahmi Eyüboğlu.

7 Nasıl anlatsam, nereden başlasam? Zeile aus dem Lied Bodrum Bodrum von MFÖ.

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