Samstag, 19. Februar 2011

"Wie viele Jahre sind wir aus dem Dorf weg, ich habe nicht gezählt"

Der zweite Teil einer Serie von Ahmet Salih Yurdakul:

Wir befinden uns in den modernen Zeiten, wo alles gezählt, vermessen, registriert wird. Gegen den Zeitgeist sind wir machtlos - unsere Kalkulationen sind messerscharf, unser Schicksal liegt in den Nachkommastellen. Am Anfang ist die Statistik: Nach offiziellen Angaben leben in Deutschland mehr als sieben Millionen Menschen anderer Staatsangehörigkeiten (ich kenne die genaue Zahl, aber schließlich komme ich aus einem Land, in dem die Krämer gern Kunden das Rückgeld unterschlagen und ihnen stattdessen Kaugummi andrehen); davon sind mehr als 1.600.000 (natürlich kenne ich auch hier die exakte Zahl) Staatsbürger der Republik Türkei. Insgesamt leben nach den Zahlen von 2008 im Land 15,6 Millionen Menschen “mit Migrationshintergrund”, also ungefähr 19% der Bevölkerung. 2,9 Millionen von ihnen stammen aus der Türkei. Um diesen statistischen Abschnitt des Artikels mit einer weniger bekannten Information zu beschließen: schon im Jahr 1912 lebten in Berlin 1350 Türken.

All diese Informationen beiseite: wenn heutzutage die Begriffe “Migrant” und “Integration” (dieser Begriff wird Thema eines noch zu schreibenden Textes sein) verwendet werden, ist der Konsens darüber, dass damit die Türken gemeint sind, im heutigen Deutschland, das Zusammenhalt so dringend braucht, beinahe ein Hoffnungsschimmer. Unter “Türken” werden die Einwanderer der durch das Abkommen von 1961 angestoßenen Arbeitsmigration und ihre Kinder und Enkel verstanden; diese Migration blickt also im Jahr 2011 auf eine 50-jährige Historie zurück. Dass Deutschland sich diesem Thema stellt, ist jedoch eine relativ neue Tatsache. Wenn die Deutschen auch nicht versuchen, den Begriff “Migrant” durch das Geräusch zu erklären, das diese beim Laufen machen[1], hat sie das doch nicht daran gehindert, sie jahrelang zu ignorieren. Niemand wird den Eingewanderten diese “verlorenen Jahre”[2] zurückgeben können - aber Deutschland glaubt wohl, dass es die Lücke schließen kann, indem es jetzt unter Vorwänden das Thema von morgens bis abends diskutiert.
Ob die Gesellschaft diese Menschen, über die sie zu jeder Gelegenheit spricht, tatsächlich kennen oder verstehen möchte, weiß ich nicht; aber es gibt einen Fehler, den selbst diejenigen begehen, die es wollen. Bei ihrer Beschäftigung mit den aus der Türkei gekommenen Einwanderern beginnen sie mit dem Jahr 1961 - aber das Auswandern und das Leben in der Fremde hat für die Menschen von dort eine viel tiefer in die Vergangenheit zurückreichende Bedeutung. Den Beginn dieses Prozesses können wir in Zentralasien finden, von wo aus die Ur-Türken in westlichere Gebiete aufbrachen. Und wenn wir uns dann der heutigen Zeit nähern, fällt uns Folgendes auf: die auf dem menschlichen Erbe eines eingestürzten Reiches gegründete Türkei räumte neben den Einwanderern aus den Gebieten, die nach dem Nationalpakt außerhalb der Staatsgrenzen lagen – wie dem Kaukasus und dem Balkan - auch denen, die aus ökonomischen oder politischen Gründen innerhalb des Landes migrierten, im kollektiven Gedächtnis einen besonderen Platz ein. Innerhalb dieser langen Tradition stellt die Auswanderung nach Deutschland nur eine Zwischenetappe dar, über die jemand sagen könnte: “Da bin ich auch kurz vorbeimigriert“.
Also blicken Sie nicht auf das Wort “Migration”, das ich farblos und für mein Vorhaben mangelhaft finde – worüber wir eigentlich sprechen, ist gurbet, das (Über-)Leben in der Fremde! Gurbet, wie es sich in unserer Literatur und unseren Liedern widerspiegelt - „Auswandern“ sagt sich leicht, aber gurbet steckt voll Melancholie, Einsamkeit und Entfremdung. In Volksliedern, egal ob vom Balkan, aus Istanbul, vom Schwarzen Meer oder aus Südostanatolien tritt uns gurbet entgegen. Dass es in der türkischen Sprache die Zeile „Nicht ich bin in gurbet, sondern gurbet ist in mir“[3] gibt, beweist deutlich, dass die Türkei ein Land ist, in dem die Menschen einen Umgang mit dieser Fremdheitserfahrung entwickelt haben. Die “Heimatvereine”, über die man bei einem Spaziergang irgendwo in Istanbul mit hoher Wahrscheinlichkeit stolpert, können dies – in kleinem Maßstab - veranschaulichen.
Die Leute, die sich in großen Reden über “Migranten” aus der Türkei auslassen, ohne sich wenigstens ein kleines bisschen über gurbet zu informieren – ich versuche, sie ernst zu nehmen, aber es geht nicht!
Sag mal, Abidin, kannst du mir das deutsche Wort für gurbet sagen?[4]


[1]     In Anlehnung an die in der Türkei verbreitete nationalistische Position, es gebe keine Kurden, sondern nur „Bergtürken“ - der Name „Kurde“ beziehe sich auf ein knirschendes Geräusch, dass diese Gruppe beim Laufen im Hochgebirgsschnee mache.
[2]     „Verlorene Jahre“ (Kaybolan Yıllar) ist der Titel eines Liedes von Sezen Aksu.
[3]     Zeile aus dem Gedicht Gurbet von Kemalettin Kamu.
[4]     Angelehnt an die Zeile des Dichters Nâzım Hikmet „Abidin, kannst du mir das Glück malen?“, die sich auf den Maler Abidin Dino bezieht und für die Frage nach dem Unmöglichen steht. 

1 Kommentar:

Martin hat gesagt…

Beindruckender und inspirierender Text. Freue mich auf mehr davon...