Samstag, 8. August 2009

Ende des Schweigens - Häuserräumungen in Ost-Jerusalem

Liebe Leser,

hier ein Artikel zu den jüngsten Häuserräumungen in Ost-Jerusalem, der über den Tellerrand des Tagesgeschehens hinausblickt. Unser Dank gilt den Autoren Judith Althaus und Henrik Meyer, die in Ost-Jerusalem für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig sind.


Die abendliche Klezmer-Musik am Wallfahrtsort und Grab von Rabbi Shimon HaTzadik im Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah klingt seinen Bewohnern laut in den Ohren. Gerade haben die Siedler mit dem Einzug zweier jüdischer Familien Zuwachs erhalten. Die Häuser der palästinensischen Familien Al-Ghawi und Al-Hanoun wurden soeben von der israelischen Armee geräumt und jüdischen Siedlern übergeben. Ein Grund zum Feiern für die einen, Ursache von Verzweiflung und Trauer für die anderen.


Gleichzeitig wird aber auch der Protest der internationalen Gemeinschaft angesichts der jüngsten Räumungen lauter und der Ton schärfer. Die schwedische Ratspräsidentschaft nennt das Vorgehen Israels „inakzeptabel und illegal“. Israels provokantes Auftreten stünde der Schaffung einer Atmosphäre, in der eine lebensfähige und glaubwürdige Lösung für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern gefunden werden kann, im Weg. Der Sprecher des Britischen Konsulats zeigt sich von den Räumungen erschüttert und fordert Israel auf, es nicht zuzulassen, dass „Extremisten die Agenda bestimmen“. Robert Serry, der UN-Sonderkoordinator für den Nahost-Friedensprozess, verurteilt die Räumungen, mit denen Israel die Friedensbemühungen untergrabe. Zuletzt reiht sich auch die U.S.-Regierung mit ungewohnter Klarheit und Schärfe in die Gruppe der Kritiker ein. Nachdem der israelische Botschafter ins Auβenministerium bestellt wird, nennt Hillary Clinton Israels Handeln „zutiefst bedauerlich und nicht im Einklang mit Israels Verpflichtungen.“


Dabei stehen die jüngsten Räumungen in Sheikh Jarrah in einer langen Tradition. Zuletzt wurde im November 2008 das Haus der siebenköpfigen al-Kurd Familie geräumt. Grundlage für die Räumungen ist ein Beschluss des israelischen Obersten Gerichtshofs, der 27 Häuser in Sheikh Jarrah dem Sephardic Community Committee zuspricht.


Trotz mehr als 8,000 zerstörter Wohnstrukturen in Ost-Jerusalem unter israelischer Besatzung ist Sheikh Jarrah ein besonderer Fall, der das Kernproblem des Konflikts um Jerusalem verdeutlicht und zugleich erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch auf ganz Jerusalem, um die Identität der heiligen Stadt. Zur Durchsetzung dieses Anspruchs auf Jerusalem als „ewige und ungeteilte Hauptstadt Israels“ ist die Regierung Netanjahu, wie bereits die Regierung Olmert, scheinbar gewillt, beträchtliche Risiken in Kauf zu nehmen. Denn für die demographische Kontrolle über den Berghang zwischen Hebräischer Universität und dem Büro Tony Blairs im American Colony Hotel ist Israel nun sogar bereit, durch die Hintertür ein Thema wieder auf die politische Bühne zu holen, dass der jüdische Staat bislang fürchtete wie der Teufel das Weihwasser: Den Anspruch auf Rückkehr in Territorium, das vor 1948 im Besitz der anderen Seite war.


Der Anspruch der jüdischen Siedler auf die Häuser in Sheikh Jarrah, auf dessen Grundlage die Evakuierungen durchgeführt wurden, beruht auf Dokumenten aus osmanischer Zeit, in denen jüdische Präsenz in diesem Teil Jerusalems bestätigt wurde. Die Akte ist lang und selbst Eingeweihten fehlt es mitunter an Überblick über die tatsächlichen, wechselhaften Besitzverhältnisse. Die politische Tragweite der heutigen Eigentumsübertragung geht jedoch über diesen technischen Aspekt weit hinaus. Völkerrechtlich gehört Ost-Jerusalem schließlich nicht zu Israel, sondern zu einem zukünftigen Staat Palästina. Dass der israelische oberste Gerichtshof nun auf der Grundlage von Besitzverhältnissen vor der Staatsgründung Israels neue Fakten schafft, eröffnet Palästinensern unverhofft ganz neue Möglichkeiten, das vielbeschworene „Recht auf Rückkehr“ in die Tat umzusetzen. Hunderttausende Palästinenser sind nämlich noch im Besitz von Urkunden, die ihr Eigentum an Immobilien bestätigen, aus denen sie im Zuge der israelischen Staatsgründung vertrieben wurden. Teddy Kollek, Israels langjähriger Bürgermeister, hatte stets vor der Schaffung eines Präzedenzfalls in Sheikh Jarrah gewarnt. Hiermit werde die „Büchse der Pandora“ geöffnet, unabsehbare Konsequenzen könnten folgen, an deren rechtlicher Logik letztlich die Existenz des Staates Israel zerbrechen könnte.


Die Auswirkungen auf ein mögliches Friedensabkommen wären verheerend. Die neue US-Administration scheint die Tragweite dieser Entwicklungen erkannt zu haben und ist im Gegensatz zu ihrer Vorgängerregierung bereit, sich offensiv zu positionieren. Denn trotz der weitreichenden Konsequenzen des Urteils haben die Räumungen in der Vergangenheit nur leisen Protest in der Internationalen Gemeinschaft ausgelöst. Im November noch konnte die französische Ratspräsidentschaft sich nur zu einer „tiefen Besorgnis“ angesichts der Evakuierung der al-Kurd Familie durchringen. Die USA demarchierten lediglich auf Botschafter-Ebene. Sheikh Jarrah war eines von vielen Problemen auf der Nahost-Agenda, deren Lösung in bekannter Bush-Manier „den Konfliktparteien überlassen“ wurde. Dass der Stadtteil nunmehr solch groβe Beachtung erfährt, deutet auf einen Prioritäten-, wenn nicht Politikwechsel hin. Für die al-Kurds, Al-Ghawis und Al-Hanouns kommt der Protest der internationalen Gemeinschaft zu spät. Die verbleibenden 25 Familien in Sheikh Jarrah können nur hoffen, dass die laut gewordene Kritik nicht auf taube Ohren stöβt.


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